Geschichte der Wolgadeutschen

DEUTSCHE ERDE

ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHKUNDE


Die Deutschen an der Wolga.

Von
Dr. Hans Pokorny in Wildshut bei Salzburg.

(Mit  4 Abbildungen.)

Es ist ein Erbübel deutscher Auswanderung, daß sie fast niemals dem eigenen Volke zum Vorteil gereichte, sondern in den Dienst fremder Staaten gestellt wurde. Der Vorteil der russischen Krone erheischte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Besiedlung der Ländereien an der Wolga, die die heutigen Gouvernements Saratow und Samara bilden. Bei äußerst rauem Klima war diese Gegend eine vollständige Wildnis, in der sich Bären, Luchse, Wölfe und andere Raubtiere herumtrieben und beutelustige Nomaden, wie Kirgisen, Baschkiren, Kalmücken, jede Niederlassung russischer Bauern unmöglich machten. Die russische Negierung war nun bestrebt, diese weiten Strecken trotz aller Schwierigkeiten urbar zu machen, und deshalb erließ Kaiserin Katharina II. im Jahre 1763 ein Manifest, in dem „denen Ausländern, die Verlangen tragen würden, sich im Russischen Reiche häuslich niederzulassen“, sehr bedeutende Vorteile in Aussicht gestellt wurden. In Deutschland hatte damals der blutige Siebenjährige Krieg vor kurzem sein Ende gesunden und es fehlte nicht an türmen und Unglücklichen jeder Art, die hofften, sich in der Fremde ein besseres Dasein zu gründen. Ein  Strom deutscher Auswanderer ergoß sich nach Rußland und wurde zum Teil im Wolgagebiet angesiedelt, wo die Kolonisation schon im Jahre 1768 abgeschlossen war. Damals bestanden an den Ufern dieses Stromes 102 deutsche Kolonien mit einer Bevölkerung von etwa 8000 Familien und 27000 Einwohnern. Von größeren Ansiedlungen möchten wir erwähnen: Katharinenstadt, die später mit dem entferntesten Osten Getreidehandel trieb, die Herrnhuterstadt Sarepta, die eine sehr strebsame und gebildete Bevölkerung hatte und frühzeitig zur Blüte gelangte, Leßnoj-Karamysch u. a. (s. Deutscher Kolonial-Atlas Nr. 7).

Abb. 71. Deutsches Wolgakolonisten-Ehepaar
in Sonntagskleidung. (S. 138)


Gottlieb Bauer weist in seiner kürzlich in Saratow (Buchdruckerei „Energie“) erschienenen „Geschichte der deutschen Ansiedler an der Wolga“ nach, daß die Schicksale dieser Kolonisten äußerst ungünstige waren, und A. Faure, der im Auftrag des Evangelischen Hauptvereins für deutsche Ansiedler und Auswanderer diese Gebiete vor einiger Zeit bereiste, bestätigt in seinem Schriftchen „Das Deutschtum in Südrußland und an der Wolga“ (München, J. F. Lehmann) im allgemeinen diese Anschauung. Die schwierigen Verhältnisse sind bis auf die Zeit der Entstehung der Kolonien zurückzuführen. Es waren nicht durchweg richtige Landwirte, die dem Rufe der Kaiserin Katharina II. folgten, vielmehr war auch bunt zusammengewürfeltes Volk, wie Schauspieler, Frisöre u. dergl. dabei. Die Kolonisation war von der russischen Regierung nur ungenügend vorbereitet, den Einwanderern, die mit den Boden- und Witterungsverhältnissen nicht vertraut waren, fehlte es an dem Nötigsten, sogar an Ackergeräten. Kaum hatten sie ihre Verhältnisse halbwegs geordnet, als sie im Jahre 1774 von den sengenden und mordenden Scharen des Aufwieglers Jemelian Pugatschew und dann im Jahre 1776 von räuberischen Kirgisenhorden heimgesucht wurden. Die Kirgisen plünderten und mordeten, zerstörten Wohnhäuser und Kirchen und schleppten viele Kolonisten als Sklaven in ihre damals unzugänglichen Etappen. Aber selbst, als die Horden des Pugatschew und der Kirgisen vertrieben waren, gab es für die Kolonisten noch während langer Jahrzehnte keine ruhige Entwicklung. „Es war allas so fremd und wild — erzählte einer der Einwanderer später seinen Enkeln —, daß sich geraume Zeit nur Männer, und zwar niemals vereinzelt, sondern stets zu 5—10 an der Zahl und immer bewaffnet, aus der Nähe der Häuser entfernen konnten. Eine Reihe von Jahren mußten wir sogar unsere Feldarbeiten in Gesellschaft verrichten, um das Vieh, die Gerätschaften, ja uns selbst vor umherstreifenden Räubern, die entweder entlaufene Sträflinge oder Zigeuner und Kalmücken waren, zu schützen. Wo nur möglich, trieben sie das Vieh weg und raubten sogar Kinder, welche ihre Eltern nie mehr zu sehen bekamen.“ Es geschah häufig, daß mehrere Gemeinden in Waffen zu einem förmlichen Kriege gegen diese Feinde auszogen. Die Viehdiebstähle, die beinahe schon ein öffentliches Gewerbe waren, halten selbst im vorigen Jahrhundert noch kein Ende gefunden. Nach den Aufzeichnungen des Landamtes in Nowo-Usen wurden im Sprengel dieses Amtes in der Zeit vom Jahre 1875 bis 1882 9400 Pferde im Werte von 332936 Rubeln gestohlen. Der Schaden aber war in Wirklichkeit ein weit größerer, denn nicht jeder Pferdediebstahl wurde der Behörde angezeigt und außer Pferden wurden auch Schafe, Rindvieh und Kamele, die dort in der Landwirtschaft verwendet werden, in großer Anzahl gestohlen.

Bei solchen Bedrängungen von außen konnte die Ordnung im Innern nur schwer gefestigt werden. Kaiserin Katharina II. hatte den deutschen Ansiedlern vollkommene Selbstverwaltung gesichert. Es wurden deshalb die öffentlichen Angelegenheiten jeder Dorfgemeinde von der Gemeindeversammlung und dem Ortsgericht besorgt. Mehrere Gemeinden bildeten einen Kreis, an dessen Spitze die höhere Instanz, das Kreisamt, stand. Die Kreisämter wieder waren dem Saratowschen „Kontor für die ausländischen Ansiedler“ unterstellt. Außerdem gab es noch besondere „Aufseher“, die die Aufgabe hatten, die unter den Kolonisten frühzeitig erwachte Lust zur Rückkehr in das Mutterland zu unterdrücken, „unter ihnen die erforderliche Ehrfurcht vor der Obrigkeit zu erhalten und darüber zu wachen, daß die eingeführte Ordnung nicht verletzt werde“. Die Selbstverwaltung war wohl in ihren Grundzügen gewahrt, aber sie brachte nicht den Segen, der von ihr zu erwarten war. Alle Ämter waren, wie Gottlieb Bauer erzählt, durchweg mit unehrlichen oder untauglichen Personen besetzt, die wichtigste Person im Kreise war der mit Einwilligung des Kreisvorstehers von dem Kontor angestellte Kreisschreiber. „Er war der Vertrauensmann der heute- und herrschsüchtigen Beamten des Kontors, durch den sie ihre selbstsüchtigen Absichten in den Kolonien erreichten und ihre Ausbeutungspläne durchführten, weshalb er auch eine fast unumschränkte Gewalt ausübte und bei den Kolonisten in nicht geringerem Ansehen stand, als ein Gouverneur bei den russischen Bauern.“ — Einen schlagenden Beweis für die Ausbeutung der Kolonisten durch die örtliche Verwaltung bildet die Geschichte der „Kronschulden“ und ihrer Tilgung. Die Kosten der Ansiedlung der Deutschen an der Wolga betrugen 5199813 Rubel, welchen Betrag die Kolonisten der Regierung zu ersehen hatten. Ein Teil wurde ihnen später nachgesehen, so daß im Jahre 1782 noch 2789418 Rubel zurückzuzahlen waren. Als Schuldabtrag wurde von jedem Kolonisten im Alter von 16 bis zu 60 Jahren anfangs der Betrag von 3 Rubel, vom Jahre 1797 an der Betrag von einem Rubel eingehoben. Trotzdem betrug die Schuld am 1. Januar 1833 immer noch 2257656 Rubel, hatte sich also in der Zeit von 51 fahren nur um eine halbe Million Rubel vermindert, obwohl die Krone keine Zinsen verlangte. Die einzuzahlenden Beträge wurden zwar eingehoben, ihrem Zwecke jedoch nicht zugeführt. Heute noch erinnert man sich jener schrecklichen Kronsschuldenzeiten, wo die Quittungen über die Zahlung der Schulden von diebischen Schreibern, Kreisvorstehern und Kontorbeamten unter verschiedenen Vorwänden herausgelockt wurden, damit von den Schuldnern oder ihren Nachkommen, die nun keinen Zahlungsbeweis in Händen hatten, abermalige Zahlung verlangt werden könnte. Auf Hunderte von Arten wußte man die Schulden mit schlauer Spitzfindigkeit fälschlich zu erneuern und die Ärmsten der Einwohner ihres letzten Pferdes und ihrer einzigen Kuh zu berauben.

Abb. 72. Deutsche evangelische Kirche der Kolonie Lipow-Kut
Kirchspiel Reinhardt (Ossinowka) bei Katharinenstadt (Wiesenseite). (S. 139)


Äußerst abfällig spricht sich Gottfried Bauer über die Tätigkeit der Pastoren aus. Er meint, daß sie nur nach Geld und Macht, insbesondere auch danach strebten, die Volksschullehrer zu Küstern herabzudrücken und ganz in ihre Dienste zu stellen. Wenn auch der herbe Tadel, den Bauer gegen die Pastoren ausspricht, auf vielleicht allzu einseitigen Erfahrungen beruht, so waren die Schulen seit ihrer Gründung doch tatsächlich von der Kirche abhängig. Sie wurden ausdrücklich „Kirchenschulen“ genannt, ihre Hauptaufgabe war, die Kinder für die Konfirmation vorzubereiten, der Unterricht im Schreiben und Rechnen wurde nur nebenbei erteilt. Eine Ausgestaltung dieser Schulen war unmöglich, nicht etwa, weil die Pastoren sich ablehnend verhielten, sondern weil die Anzahl der Lehrer eine äußerst geringe und ihre Ausbildung, da es Lehrerseminare nicht gab, ganz ungenügend war. Diesem Übel sollten die sog. „Gesellschaftsschulen“ abhelfen, die mehrere Hausväter für ihre Familien gründeten und in denen Unterricht in den Volksschulgegenständen und in der russischen Sprache erteilt wurde. Die Entwicklung dieser Schulen war verhältnismäßig günstig; zur Heranbildung von Küster-Schulmeistern und Lehrern für die Kirchen und Privatschulen eröffneten die Kolonialgemeinden im Jahre 1857 die Zentralschule in Katharinenstadt und im Jahre 1867 die Zentralschule in Leßnoj-Karamysch. Die weiteren Fortschritte wurden durch die Russifizierung der Schulen, die seit dem Jahre 1891 vom Ministerium der Volksaufklärung eingeleitet wurde, in empfindlicher Weise gehemmt. Da die meisten Schullehrer die russische Sprache nicht mehr erlernen konnten, wurden die Gemeinden gezwungen, neben ihnen auf eigene Kosten auch noch russische Lehrer anzustellen, ja es wurden Versuche gemacht, sogar den Unterricht im Deutschen und in der Religion in russischer Sprache zu erteilen. Übrigens war die Schule fast das einzige Gebiet, auf dem auch die Deutschen an der Wolga sich am Aufruhr in Rußland beteiligten. Nach Erlaß des Manifestes vom 17. Oktober erklärten sie, es gebe jetzt Gewissensfreiheit und ihr Gewissen schriebe ihnen vor, keinen russischen Unterricht mehr zuzulassen. Mit immer größerem Nachdruck wird die Ausgestaltung des Schulwesens und die Wiedereinführung der deutschen Unterrichtssprache verlangt. Pastor Johannes Erbes sagt mit vollem Rechte in seiner Schrift: „Deutsche Volksschule in unseren Wolgakolonien“ (Saratow, Verlag der Deutschen Volkszeitung): „Alle Seelenkräfte des Kindes, Verstand, Herz und Willen, müssen gleichmäßig ausgebildet werden, und zwar durch einen erziehenden, nicht durch einen abrichtenden Unterricht — dies aber ist nur in der Muttersprache erreichbar.“

Die Haupterwerbsquelle der Kolonisten an der Wolga ist der Ackerbau. Der kräftige Boden erzeugt Roggen, Gerste, Hafer, Hirse, Kartoffeln, Tabak, namentlich aber Weizen, mit dem ein ausgedehnter Handel nach Astrachan und den Ostseeprovinzen, ja sogar nach Persien getrieben wird. Auf der Bergseite (dem rechten Ufer der Wolga) entstanden Waster- und Dampfmühlen, Färbereien, Gerbereien, Zuckerfabriken, Baumwollwebereien, die die berühmte „Sarpinka“ erzeugen. Die Wiesenseite (das linke Ufer der Wolga) besteht aus waldlosen Steppenländereien, die in manchen Jahren reiche Ernten tragen, in anderen aber infolge des Mißwachses gar kein Erträgnis abwerfen. Dementsprechend hat sich auf der Wiesenseite ein ganz anderer Charakter der Kolonisten entwickelt als auf der Bergseite. Einmal leben sie im größten Überfluß, dann aber sind sie von allen Mitteln entblößt, und in ihren großen, schönen Häusern müssen sie im Winter auf die nötige Heizung verzichten. Bei dieser Ebbe und Flut der Erträgnisse gelangten viele Kolonisten durch geschickte Ausnützung der Verhältnisse zumeist auf dem Wege des Handels zu bedeutenden Reichtümern, anderseits aber schuf die Eigenart der Wiesenseite einen Bauernstand, der vielfach an den irischen erinnert. Treten nacheinander einige Mißernten ein, so ist der Bauer, wenn er sich keinen anderen Erwerb verschaffen kann, genötigt, seinen Landanteil auf ein oder mehrere Jahre zu spottbilligem Preise zu verpachten, ja in vielen Fällen seine und seiner Tiere Arbeitskraft zum Voraus zu verkaufen, um nur sich und die Seinen vor dem Hungertod zu retten.

Abb. 73. Wohnhausform des deutschen Mittelstandskolonisten an der Wolga. (S. 141)


Das Hauptübel aber, an dem die deutschen Kolonien an der Wolga kranken, ist das russische Seelenlandsystem, das auf sie übertragen wurde. Es gibt dort kein Privateigentum an Grund und Boden, das Land ist vielmehr Besitz der Gemeinde, nur hat jede „männliche Seele“ das Anrecht zur Benutzung eines Anteils am Gemeindeland, etwa alle zehn Jahre findet eine Neuverteilung mit Rücksicht auf die seit der vorigen Verteilung eingetretene Vermehrung der Bevölkerung statt. Die Übelstände des Seelenlandsystems wurden durch das stete Anwachsen der Bevölkerung nur noch verschlimmert. Die Dörfer vergrößerten sich allmählich ins Ungeheure, und den Kolonisten wurde es bei der Raubwirtschaft, die ja wieder eine Folge des Seelenlandsystems ist, auf dem Boden zu eng. Es gibt heute Einzeldörfer mit über 10000 Einwohnern (z. B. das Dorf Grimm im Gouvernement Saratow), Kirchspiele mit über 20000 Seelen, und Dörfer mit 4000 Bewohnern gehören nicht zu den Seltenheiten. Das Dorfgebiet konnte nur in den seltensten Fällen erweitert werden, und es war auch nicht immer möglich, für den Überschuß der Bevölkerung weiter im Osten neue „Ansiedlungsdörfer“ zu gründen. So wurden denn die dem Einzelnen zufallenden Anteile an Grund und Boden immer kleiner und betragen gegenwärtig zumeist nicht mehr als zwei bis drei Hektare. — Wie schädlich das Seelenlandsystem für die Entwicklung der Landwirtschaft ist, beweisen die zwischen den älteren deutschen Dörfern erst vor wenigen Jahrzehnten angesiedelten Mennoniten, die das Seelenlandsystem nicht haben. Ackerbau und Viehzucht stehen da auf einer viel höheren Stufe und in den blühenden Niederlassungen herrscht ein Wohlstand, den auch Mißernten nicht so leicht vernichten können (s. die Statistik auf S. 143f.).

Das Deutschtum der Kolonisten ist auf dem weiten, mit ausschließlich deutschen Dörfern besetzten Gebiet zu beiden Seiten der Wolga, das weit über eine halbe Million Einwohner zählt, im allgemeinen gut erhalten. Wenn man durch ein Dorf kommt und die Leute auf den Bänken vor ihren Häusern sitzen sieht, so bemerkt man manches Gesicht, das den mitteldeutschen Bauerntypus in voller Reinheit bewahrt hat. Auch die Sprache ist deutsch genug, und es hat sich manche ältere Ausdrucksweise erhalten, die heute fremdartig klingt oder einen ganz anderen Sinn hat. Wenn von jemandem gesagt wird, daß er ein ausschweifendes Leben führt, so heißt das, daß er gerne spazieren geht, und der Pastor, der ein „arg weltlicher Herr“ genannt wird, ist im Umgang mit den Leuten zuvorkommend und freundlich. Die Gefahr, von russischem Wesen berührt zu werden, ist nur an einzelnen Orten erheblich.

Von diesen Deutschen ist gegenwärtig ein großer Teil aus rein wirtschaftlichen Gründen zur Auswanderung gezwungen. Der Evangelische Hauptverein für deutsche Ansiedler und Auswanderer hat den Gedanken an die Rückwanderung nach Deutschland angeregt. Man war zwar der Ansicht, der Bauer und der Arbeiter von der Wolga könnte sich in die Verhältnisse des Deutschen Reiches nicht einleben, trotzdem aber sind durch die Vermittlung des vorerwähnten Vereins mehrere hundert deutsche Familien von der Wolga nach Deutschland gekommen, und Faure gibt der Hoffnung Ausdruck, daß die Rückwanderung sowohl dem Reiche als den Wolgadeutschen zum Vorteil gereichen werde.

Abb. 74. Windmühle vor einem deutschen Dorfe der Wolgakolonien. (S. 142)


Die Hauptziele der Auswanderung jedoch sind gegenwärtig Nordamerika, wo sich im Staate Wisconsin ganze Gemeinden von Dentschrussen befinden, und Sibirien, wohin die russische Regierung den Strom deutscher Auswanderer gern leiten möchte. Faure ist ein Gegner der Auswanderung nach Sibirien; die Verhältnisse in Sibirien sind, so meint er, nicht günstig, Scharen von Auswanderern kehrten in ihre Heimatsdörfer zurück, bei den gegenwärtigen unsicheren Verhältnissen in Rußland sei es für die Deutschen angezeigt, die Ansiedlung auf russischem Boden überhaupt zu meiden, und vom völkischen Gesichtspunkt müsse eine derartige Verlängerung der Etappenlinie als verderblich empfunden werden. Demgegenüber möchten wir feststellen, daß sich die deutschen Ansiedler in Sibirien, insbesondere in der Gegend von Tomsk, neuesten Nachrichten zufolge wirtschaftlich sehr gut befinden, ihrem deutschen Wesen treu bleiben und sogar auf ihre Umgebung germanisierend einwirken.

Faure fragt besorgt, was die letzten Schicksale dieser Kolonisten sein werden? Werden sie an der Stelle, wo ihre Väter das Land ackerten, noch immer mehr festen Fuß fassen? Wird ein Teil nach dem anderen abbröckeln, werden sie sich verlieren in alle Welt? Die Entscheidung hängt gewiß auch mit den Schicksalen des russischen Riesenreichs zusammen, aber die Hauptsache ist wohl, daß die Deutschen in Rußland den Zusammenhang mit dem alten deutschen Mutterlande nicht verlieren, daß ihnen deutsche Art und deutsche Bildung erhalten bleibe. Und wir in der Heimat sollen nicht vergessen, daß fern in den Steppenländern eines fremden Reiches Stammesgenossen wohnen, die brüderlicher Teilnahme wert sind, denn sie bilden des europäischen Deutschtums äußerste Ostmark.


Deutsche Erde, 1908, S. 138-142.