Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Drei Bilder aus dem Revolutionsleben des ältesten deutschen
Kommunisten der Wolgakolonien.

Von A. Reichert.

Mein schönster Tag.

1906 tagte in Katharinenstadt eine Lehrerkonferenz zwecks Gründung eines Lehrervereins und Anschlusses an den Allrussischen Lehrerverband. Mir wurde der Antrag gestellt, als Politischer Redner aufzutreten und die Lehrerschaft für die revolutionäre Arbeit zu gewinnen und anzuspornen. In Gegenwart des Chefs der Polizei hielt ich meine Rede, und da dieser Herr entweder ein Dummkopf oder, was wahrscheinlicher ist, ein Hasenfuß war, konnte ich mich nach Herzenslust aussprechen und ein Feuer anzünden, das keine Macht der Welt löschen konnte, wie solches die Lehrerschaft zur Zeit der stärksten Reaktion bewies. Ich erinnere mich noch an die Schlußworte meiner Rede: „Wir feiern heute Karfreitag, wir trauern, doch Mut, Genossen! auf Karfreitag folgt Ostern! Unsere Brüder sind in den Kerkern und Gefängnissen begraben; doch sie leben und werden aus ihren Gräbern hervorgehen am Ostermorgen zum Kampf, zum letzten Kampf. Dann werden wir die Rollen wechseln: das Grab für die Unterdrücker und Tyrannen und uns die Freiheit.“

Was ich hoffte und so sehnsuchtsvoll erwartete — dieser Ostermorgen kam 1917. In demselben Saal hatte ich das große Glück, abermals als erster politischer Redner aufzutreten, diesmal als Führer der Revolutionäre im Kampf gegen die Konterrevolutionäre und Menschewiki. Nie werde ich diesen Tag, den schönsten meines Lebens, vergessen, den Tag, an dem wir dem Feind die Generalschlacht lieferten und ihn gänzlich besiegten. Nie werde ich vergessen die Freude und den Jubel meiner Genossen über den Sieg. Gen. Mohr, der den Vorsitz in dieser Versammlung hatte, konnte seine Freude nicht unterdrücken und schloß mich in seine Arme. Fräulein Kenedy nahm die Blumen von ihrer Brust und überreichte sie mir. Der Feind war geschlagen, doch blieb er noch im Saal. Als zweiter Politischer Redner trat A. Emich auf. Jedes Wort war ein Schlag, und er traf den Feind bis ins Herz. Der Feind ergriff die Flucht; das deutsche Komitee mit seinem Gefolge verließ den Saal unter lautem Siegesjubel unserer Genossen. Nie werde ich die Worte Emichs vergessen, die den Feind bloßstellten; er riß ihnen die Maske herunter, und jeder konnte das wahre Gesicht dieser Herren sehen. Nicht deshalb, weil ich und andere Redner so stürmischen Beifall ernteten, bezeichne ich diesen Tag als schönsten meines Lebens, sondern deshalb, weil es der Ostermorgen, der Befreiungstag war, an dem alle Geknechteten frei wurden, deshalb, weil wir an diesem Tage die erste Frucht unserer langjährigen Arbeit sehen und uns sagen konnten: Nicht umsonst gelebt, nicht umsonst gelitten, nicht umsonst gekämpft — der Sieg ist unser.

Ein gefährlicher Tag.

Es war an einem heißen Sommerlage 1919. Ich saß ruhig an meinem Tisch in Seelmann und arbeitete. Da kam schwer atmend ein Genosse ins Zimmer und meldete mir, daß die Rotarmisten aufständisch geworden und sich weigern abzufahren. An diesem Tage sollte ein Transport von einigen Hundert Mann abgehen an die Front. Als sie schon fast alle auf dem Schiff waren, gab es ein kleines Mißverständnis, das konterrevolutionäre Agenten ausnützten, um ein Blutbad anzurichten.

Ich eilte sofort der Anlegestelle zu; doch mir entgegen kamen schon viele Genossen, die die Flucht ergriffen hatten und mich warnten, hinzufahren. Doch ich gab mir das Wort, die Lage zu retten oder zu sterben. An Ort und Stelle angekommen, sah ich sofort, daß die Lage eine fürchterliche war. Doch ich ging ganz ruhig unter die tobende Masse. Gen. Trott, ein treuer Freund, ging mit mir, und so standen wir oben auf dem Verdeck zwei gegen einige Hundert aufgebrachte und wütende Menschen. Als man uns stehen sah, riefen die Anführer und Agenten: „In die Wolga mit ihnen!“ Nun war der Moment gekommen, kalt und ruhig zu bleiben und doch zu kämpfen. Ich ergriff das Wort und sagte, daß wir eben deshalb hierhergekommen, um zu sterben; doch möge man mir eine Gnadenfrist geben und mich zuvor aussprechen lassen. — „No, loßt den mol spreche.“ Und ich konnte reden. Jedes Wort mußte zweimal bedacht werden, um ja keinen Fehlgriff zu machen. Zweimal löste mich Gen. Trott ab und ergriff das Wort. So vergingen fast zwei Stunden. Wir merkten, daß nur noch ein Häuflein Konterrevolutionäre übrig blieb und immer wieder schrie. Endlich kam der Moment, da ich es für nötig hielt, die letzte Karte auszuspielen. Als der Hauptanstifter sagte: „Wir wollen nicht mehr kriegen, und wir gehen nicht mehr fort“, unterbrach ich ihn und sagte: „Genosse, sprich nur für dich; du hast kein Recht, im Namen dieser meiner Brüder zu sprechen; denn sie sind ehrliche Kolonistensöhne, die ihre Pflicht der Sowjetmacht gegenüber treu tun werden.“ Nach einer kleinen Pause rief ich: „Nicht wahr, ihr Brüder, ihr geht mit mir und nicht mit diesen Verführern?“ Jetzt mußte der Urteilsspruch fallen: entweder siegen oder sterben. — „Ja“, erscholl es aus hundert Kehlen. Also gesiegt! — da ertönte auch schon die Internationale. Am Ufer stand eine Menge Volkes und unter ihr so mancher, der nach unserem Blut gedürstet hatte. Als die Musikanten die Internationale spielten, war es für sie klar, daß sie sich schnell aus dem Staube machen mußten, was sie auch ohne zu zögern taten. Nach einer kurzen Abschiedsrede stieß das Schiff ab. Alle waren froh und heiter, und noch lange sahen wir, wie man uns mit den Taschentüchern Zeichen zum Abschied gab. Es war ein schwerer Kampf, aber auch ein schöner Sieg über die Konterrevolution.

Ein Tag zwischen Heben und Tod.

Bei dein Aufstand Pjatakows fiel ein großer Teil unserer Genossen den christlichen Mördern in die Hände und wurde schändlich zu Tode gequält. Besonders aus der Seelmänner Gruppe wurden fast alle Parteigenossen ermordet, für mich ein fürchterlicher Schlag, da sie fast alle meine geistigen Kinder waren, die ich für unsere Sache geworben hatte und auf die ich stolz war, da sie sich mehr als einmal als Helden bewiesen hatten. Nirgends im Gebiet konnte man eine solche Einigkeit und Geschlossenheit der Organisation finden als in Seelmann. Dieses ist wohl auch der Hauptgrund, daß fast alle im Kampfe fielen oder ermordet wurden. So einig sie lebten, so einig kämpften und starben sie. Dieses können und müssen wir unseren gefallenen Brüdern nachrühmen, wenn wir ihnen „Ein ewiges Andenken“ nachrufen! Nur einige Genossen, die zufällig abwesend waren oder sich durchschlugen, blieben am Leben. Was aber diese Zurückgebliebenen durchlebten, ist fast unbeschreiblich. Ich und einige Genossen kamen glücklich bis nach Saratow, und als die Rote Armee bis nach Warenburg vorgerückt war, bekamen wir den Befehl, ihr zu folgen, damit wir gleichzeitig mit ihr in Seelmann eintreffen. Die Genossen Groß, Hoffmann und ich fuhren von Saratow ab und kamen bis Kukkus. Dort trafen wir Gen. Baumgärtner und fuhren am andern Morgen nach Laub, woselbst meine Familie war und wo ich einen Tag bleiben wollte, um sie zu trösten. Unsere Armee ließ den Rücken ungedeckt, und so kam es, daß die Banditen von Woskresenskoje aus ihr in den Rücken fallen konnten, wodurch sie auf zwei Fronten zu kämpfen hatte. Wir kamen nach Laub, als die Banditen eine Werst weiter, nämlich in Dinkel, waren, und wären mir gleich weiter gefahren, so wäre es um uns geschehen.

Der Vorsitzende des Rats in Laub teilte uns im geheimen mit, welche Gefahr uns drohte, und wir fuhren auf derselben Fuhre zurück bis nach Popowkina. In der Wiese verließen wir den Wagen und eilten nach Süden bis an den Tarlykfluß, wo zu unserem Glück ein Fischer mit seinem Kahn war, der uns hinübersetzte. Wir hörten, wie die Glocken Sturm läuteten, also alle zur Verfolgung aufgeboten wurden. Wir standen an der Wolga, die oben und unten eisfrei war; doch vor uns befand sich noch eine Brücke aus einzelnen Eisschollen. Hinter und neben uns der Feind, vor uns die gefährliche Brücke, auf die nur ein Wahnsinniger sich gewagt hätte. Also Verderben und Schrecken überall. Wir mußten schnell entscheiden. — Sterben — nun, wenn schon sterben, so wollen wir ruhig und mutig in den Wellen der Wolga untergehen, damit die Tyrannen ihren Blutdurst nicht an uns stillen. Ruhig und gelassen, einer den andern im Auge habend, gingen und sprangen wir von einer Eisscholle auf die andere und kamen alle glücklich ans andere Ufer. Wir setzten uns nieder und aßen zu Mittag. Paar Apfelschnitze, die mir meine Frau zugesteckt, wohl das einzige, was sie noch hatte, waren unser Mittagessen. Wir waren gerettet, doch welche bange Sorgen um die Unseren durchschnitten die Brust. — Ja, sie mußten für uns — für unsere Überzeugung leiden. Meine Frau wurde zum Tode verurteilt, doch ein Freund rettete sie und verbarg sie drei Tage, bis die Gefahr vorüber war.

* * *

Nur drei Bilder von den Hunderten, die ich durchlebt habe, und wieviel sagen sie uns! — Sie sagen uns, wie schrecklich und schwer der Kampf war, doch sie gaben uns auch die Gewißheit, daß eine Sache, für die so viele edle Menschen gefallen und andere ihre Gesundheit geopfert und ihr ganzes Leben gekämpft haben, nie untergehen kann.


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 599-601.