Joseph Geiger[1]
175 Jahre Wolgadeutsche
Bereits vor vier Jahrhunderten gab es in Moskau eine nennenswerte Anzahl von deutschen Handelsleuten und Handwerkern. Unter Peter dem Großen erfuhr die deutsche Einwanderung nach Rußland eine tatkräftige Förderung. Als Gelehrte, Staatsmänner, Offiziere, Ärzte, Hauslehrer und Erzieher, Kaufleute, Handwerker und sonstige Spezialisten ins Land gerufen, errangen die Deutschen in Rußland schon frühzeitig eine einflußreiche Stellung im Staate. Während Peter der Große, der sein Land westeuropäischen Einflüssen erschlossen hat, bestrebt war, Westeuropäer in den Städten, vor allem in St. Petersburg, anzusiedeln, hat ein halbes Jahrhundert später Kaiserin Katharina II. eine großzügige Besiedlung Rußlands aus dem flachen Lande mit ausländischen, vornehmlich deutschen Einwanderern eingeleitet.
Am 4. Dezember 1762 erließ Katharina II. einen Aufruf an alle Ausländer, in dem sie diese zur Einwanderung nach Rußland einlud. Diesem folgte das bekannte Manifest der Zarin vom 22. Juli 1763, das zum Eckstein einer ein Jahrhundert lang anhaltenden umfangreichen Besiedlung Rußlands durch Ausländer (meist Deutschen) wurde. Es enthält in zehn Artikeln eine ausführliche Schilderung der Bedingungen und Versprechen für ausländische Ansiedler. Die grundlegenden und zugleich für die Einwanderungslustigen verlockendsten Punkte dieses Manifestes lasten sich in folgende Sähe zusammenfasten: 1. Freie Wahl des Niederlassungsortes und freie Berufswahl. 2. Freie innere Verwaltung und Rechtsprechung. 3. Befreiung von Steuern und sonstigen Abgaben für die Dauer von 30 Jahren für Ackerbauer und 5 Jahren für Einwanderer, die sich in Städten niederlasten. 4. Vorschußweise zinslose Ausstattung mit Handwerkergeräten bzw. mit Inventar und Saatfrucht, für die die Rückvergütung nach Ablauf von 10 Jahren in angemessenen Raten zu erfolgen hat. 5. Freie Religionsübung. 6. Befreiung von der Militärdienstpflicht. Dazu bestimmte der Artikel VII des Manifestes, daß alle diese „Vorteile und Einrichtungen“ nicht nur für die Einwanderer selbst, sondern genau so auch für deren Nachkommen ihre ungeschmälerte Gültigkeit behalten sollten. Dieses Manifest wurde bald darauf noch durch eine Anzahl von Ergänzungsbestimmungen weiter ausgebaut. Das am 19. März 1764; erlassene Gesetz über das Grundbesitzrecht enthält Bestimmungen, die vor allem für die Wolgadeutschen von einschneidender Bedeutung waren. So wurde dies Gesetz, daß u. a. den Ansiedlern 30 Desjatinen (1 ha, — 0,9153 Des.) je Familie zuweist und die Erbfolge der Grundbesitzer regelt, zur Grundlage für die Entwicklung des russischen Gemeindebesitzes (Mir-System) bei den Wolgadeutschen.
Die russischen Gesandten an den europäischen, vor allem an den vielen deutschen Höfen erhielten den Auftrag zu einer intensiven Werbung von Einwanderern. Darüber hinaus wurden noch mehrere hochbezahlte Werbungskommissare angesetzt, die in ihren europäischen Werbungsbezirken eine überaus rege Tätigkeit entfalteten und in erster Linie Süd- und Westdeutschland mit zahlreichen Unterkommissaren (Werbungshelfern) überschwemmten. Die äußerst tatkräftige Werbungsaktion der russischen Regierung, die fast ausschließlich auf deutsche Länder beschränkt blieb, hatte den Erfolg, daß in den vier Jahren von 1763 bis 1767 nahezu 30 000 Siedler nach Rußland verpflanzt wurden. Der größte Teil derselben (rd. 27 000) wurde an den Ufern der mittleren und unteren Wolga und deren Nebenflüssen angesiedelt. Hierbei wurden jedoch manche Versprechungen des Manifestes nicht eingehalten, vor allem die freie Wahl des Berufs und des Niederlassungsortes. Die Betätigungsabsichten und Siedlungswünsche mißachtend, verpflanzt man diese deutschen Einwanderer — vielfach gegen ihren ausdrücklichen und festen Willen — in nur von nomadischen Mongolenstämmen bestreifte und von russischen Räuberbanden gefährdete Steppen der Wolga, wo sie ohne Rücksicht auf ihre berufliche Eignung an die wilde Scholle gefesselt und gewaltsam zu Ackerbauern gemacht wurden. Die Verwaltung bzw. die Vormundschaft über diese neuen deutschen Ansiedler wurde der sogenannten Tutel-Kanzlei in St. Petersburg mit dem Filial-Kontor in Saratow an der Wolga übertragen.
Während die Bevölkerungszahl der deutschen Siedler an der Wolga infolge äußerst ungünstiger Lebensbedingungen in den ersten Jahren ihrer Ansiedlung — von 1765 bis 1775 — um rd. 4000 abnahm und dann noch mehrere Jahre lang stillstand, begann sie in den achtziger Jahren des gleichen Jahrhunderts zu steigen und erreichte 1808 40000, 1816 schon 55000 und 1835 in gewaltiger Aufwärtsbewegung 127000 Seelen. Sie wuchs also in 19 Jahren um 131 v. H. an. Das starke Wachsen der deutschen Bevölkerungszahl im Wolgagebiet hielt bis zum Ausbruch des Weltkrieges an. Zum Teil durch den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten Zuzug von Mennoniten verstärkt, wuchs ihre Seelenzahl bis zum Weltkrieg auf über 600000 an. Mit den zahlreichen Auswanderern und deren noch viel zahlreicheren Nachkommen muß die Zahl der Wolgadeutschen in der ganzen Welt um das Jahr 1914 wohl auf rd. 1 Million geschätzt werden. In den Gründungsjahren 1764/76 wurden an der Wolga 104 deutsche Kolonien mit durchschnittlich rd. 250 Seelen angelegt. Durch Gründung von Tochterkolonien stieg ihre Zahl bis 1914 auf 192 Dörfer an, wobei die Einwohnerzahl in einigen der alten deutschen Wolgakolonien derart gewachsen war, daß sie nicht selten der einer mittleren deutschen Provinzstadt gleichkam.
Gleichzeitig mit der Gründung der deutschen Kolonie an der Wolga wurden auch die ersten deutschen Dörfer bei St. Petersburg angelegt. So wurden dort 1765 von 110 Familien aus Brandenburg und Württemberg drei und 1768 von 67 Familien aus der Pfalz drei weitere deutsche Kolonien gegründet. Im Jahre 1808 wurde Kronstadt und 1810/12 Petershof, Oranienburg und noch drei weitere deutsche Kolonien angelegt. Als letzte entstand dort die Kolonie Suamen im Jahre 1843. Vor dem Weltkrieg bestand die Petersburger Gruppe der deutschen Kolonien — außer den zahlreichen Deutschen in Petersburg selbst — aus 47 Dörfern mit rd. 22000 Einwohnern.
Die geschichtliche Bedeutung des Manifestes Katharinas II. ist nicht so sehr in der Tatsache der unmittelbar damit verbundenen Ansiedlung von Deutschen in Rußland, vor allem an der Wolga, zu sehen, als weit mehr noch in der Siedlungspolitik Rußlands in den darauf folgenden hundert Jahren. Die Besiedlung Rußlands durch Deutsche entwickelte sich in den durch das Manifest vorgezeichneten Bahnen fast ohne Unterbrechung weiter, und zwar seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit geradezu ungeahntem Erfolg für die deutschen Ansiedler und nicht minder großem Nutzen für das russische Reich.
Unter dem Zaren Alexander I. wurden zu Anfang des 19. Jahrhunderts die von den Türken eroberten neuen Provinzen am Schwarzen Meer, die damals sogut wie unbevölkert waren, besiedelt. Da die zu jener Zeit noch leibeigenen russischen Bauern zur Kultivierung eines jungfräulichen und wilden Landes unfähig waren, mußten zu diesem Zweck geeignete Ausländer herangezogen werden. Hierbei wandte man sich naturgemäß in erster Linie wieder an Deutsche, und zwar diesmal fast ausschließlich an Südwestdeutsche, wobei man gleichzeitig auch die bereits 1787 begonnene Einwanderung von Mennoniten fortsetzte. Während es seinerzeit Katharina II. vor allem darauf ankam, ihre menschenleeren Provinzen zunächst einfach mit seßhaften und steuerzahlenden Ansiedlern zu bevölkern und damit eine feste Menschenmauer gegen die asiatischen Nomaden zu errichten, galt es nun für Alexander I., ein selten fruchtbares und lebenssicheres, jedoch noch vollkommen wildes Land unter Pflug zu nehmen und es durch fachkundige Hände der Kultur zu erschließen. Deshalb kam es ihm bei der Besiedlung seiner neuen Provinzen hinsichtlich der zu berufenden ausländischen Kolonisten weniger auf deren Zahl als auf ihren Wert an. Sein auf dem Manifest Katharinas II. fußender, jedoch durch die gesammelten Erfahrungen maßgebend bestimmter Erlaß vom 20. Februar 1804 fordert bei der Auswahl fremdländischer Ansiedler, daß auf deren Eignung streng geachtet werde. Darüber hinaus verlangt dieser Erlaß von den ausländischen Kolonisten den Nachweis über ein mitgebrachtes Vermögen von 300 Gulden in bar. Diese Bedingungen konnten angesichts der in Süddeutschland herrschenden Verhältnisse gestellt werden, ohne einen Mißerfolg für die eingeleitete Kolonisation zu befürchten: Die drückende Herrschaft der deutschen Kleinfürsten, die rücksichtslose Durchführung der damals erst eingeführten allgemeinen Wehrpflicht, untragbare Steuerlasten, die Einengung des geistigen Lebens, die gewaltigen Kriegslasten und Verheerungen der Franzosen, die schwere Notlage der Landwirtschaft und die Hungerjahre 1816/17 boten genügend Grund, daß nicht wenige Deutsche — und von diesen nicht gerade die schlechtesten — bereit waren, in das weiträumige Rußland zu ziehen, wo einem Religionsfreiheit, Befreiung vom Militärdienst und für längere Zeit auch Steuerfreiheit versprochen wurde. Anders als bei den Wolgadeutschen, wurde den deutschen Ansiedlern im Schwarzmeergebiet 30 bis 80 Des. (in der Regel 60 Des.) fruchtbaren Landes zugeteilt. Die Besiedlung des Schwarzmeergebietes mit Deutschen erfolgte zwischen den Jahren 1787 und 1857, und zwar durch geschulte deutsche Siedlungsbeamte. Besonders stark ist der Strom der deutschen Einwanderer in den Jahren 1804/09, 1817/18, 1822/23 und dann noch im Jahre 1837 gewesen. Bestes deutsches Bauernblut wurde, meist vom Oberrhein und Schwaben, z. T. auch auf dem Umweg über eine bereits erfolgte Ansiedlung in Polen oder Ungarn, auf die damals kahle Steppe Neurußlands verpflanzt.
Gleichlaufend mit dieser deutschen Kolonisation in Südrußland erfolgte hier auch die Ansiedlung der Mennoniten, die jedoch ein sozusagen eigenes Aufgebot darstellte. Die Auswanderung der Mennoniten aus der Gegend um Danzig in das russische Schwarzmeergebiet war im Gegensatz zu der Auswanderung der übrigen Deutschen — vielleicht in gewissem Sinne die württembergischen Pietisten und Chiliasten ausgenommen — der Auszug einer größeren, konfessionell zusammengefügten Gemeinschaft, die unter wesentlich anderen Voraussetzungen (und z. T. auch Bedingungen) erfolgte, als dies bei den übrigen rußlanddeutschen Kolonisten der Fall ist. Ausschlaggebend für die Auswanderung der Mennoniten nach Rußland, die in ihrer Heimat in guten und z. T. besten wirtschaftlichen Verhältnissen lebten, war nicht so sehr das Streben nach irdischen Vorteilen, sondern die Sorge um ihr religiöses Eigenleben, das ihnen durch die im russischen Manifest verheißene Religionsfreiheit und Befreiung vom Militärdienst genügend gewährleistet zu sein schien. Die Ansiedlung der Mennoniten im russischen Schwarzmeergebiet erfolgte in zwei größeren Etappen: In den Jahren 1787 bis 1796 wurden von ihnen die Kolonien in der Gegend von Chortitza und im Gouvernement Jekaterinoslaw und von 1803 bis 1809 sowie 1819 bis 1835 die Kolonien am rechten Ufer der Molotschna gegründet. Aus diesen alten Kolonien wurden 1853 bis 1863 im Verein mit 80 Familien aus Galizien die mennonitischen Kolonien im Gouvernement Samara angelegt. Mit den Mennoniten, bei denen der Ackerbau von jeher der Haupt- und Traditionsberuf ist, erhielt Rußland weitere Tausende der besten bäuerlichen Siedler.
Insgesamt wurden im Schwarzmeergebiet 209 deutsche Kolonien auf Kronsland gegründet. Die Seelenzahl der dort angesiedelten Deutschen betrug 50—60000 und dürfte wohl um das Jahr 1835, als in einem Teil jener Kolonien bereits die zweite Generation herangewachsen war, die gleiche Stärke wie in den deutschen Wolgakolonien um dieselbe Zeit gehabt haben. Um das Jahr 1859 wurde die Ansiedlung von ausländischen Kolonisten auf Kronsland eingestellt, und von da ab erfolgte die Gründung von Kolonien auf gekauftem Lande. Ungeachtet dessen wuchs die Zahl der deutschen Kolonien durch Gründung von Tochterkolonien und Einzelhöfen (Chutor) in noch stärkerem Tempo und erreichte im gesamten Schwarzmeergebiet 1914 die sehr stattliche Zahl von 1077. Bei Ausbruch des Weltkrieges erreichte dort die Zahl der Deutschen mehr als 600000! Im Verlauf von einem Jahrhundert ist hier die Bevölkerungszahl genau wie an der Wolga durchschnittlich alle 25 Jahre weit mehr als um das Doppelte gewachsen. Auch von hier aus hat eine starke Abwanderung der überschüssigen Bevölkerung nach anderen russischen Gebieten und nach Übersee stattgefunden, so daß auch das Schwarzmeerdeutschtum in der gesamten Welt die runde Zahl von einer Million erreicht haben dürfte.
Gleichzeitig mit der Besiedlung des Schwarzmeergebiets erfolgte auch die Einwanderung von Deutschen nach Transkaukasien. Sowohl siedlungsgeschichtlich als auch zeitlich ist sie ein Ableger der Kolonisierung des Schwarzmeergebiets, von der sie nur insofern unterschieden isi, als es sich ausschließlich um eine spezifisch konfessionell bedingte Auswanderung aus Württemberg handelt. Von den 9000 nach Rußland ausgewanderten Pietisten und Chiliasten erreichte nur ein Teil im Jahre 1816/17 das Land ihrer heißen gläubigen Sehnsucht. Die meisten von ihnen gingen noch aus dem Transport durch Seuchen zugrunde oder sie siedelten sich an, und zwar im südlichen Teil des Gouvernements Cherson und Bestarabiens (Schwarzmeergebiet). Die deutschen Ansiedler in Transkaukasien, das bereits eine altansässige Bevölkerung hatte, erhielten bei ihrer Niederlassung durchschnittlich 35—40 Des. Land je Familie. Aus den bei der Gründung angelegten transkaukasischen schwäbischen Kolonien Marienfeld, Katharinenfeld, Annenfeld, Alexanderdorf, Helenendorf, Petersdorf und Elisabethtal gingen im Laufe ihres hundertjährigen Bestehens bis zum Weltkrieg eine Anzahl von Tochterkolonien hervor. 1914 betrug die Gesamtzahl der Deutschen Transkaukasiens 16—17000.
In ganz anderen Bahnen vollzog sich die deutsche Kolonisation in Wolhynien. Vor dem Weltkrieg lebten dort rd. 250000 Deutsche, vornehmlich als Pächter und Landarbeiter bei polnischen Gutsbesitzern. Ihre Ansiedlung kann weder zum Manifest Katharina II. noch zu der darauf fußenden Siedlungspolitik der russischen Regierung in nähere Beziehung gebracht werden; vielmehr handelt es sich hier um eine Binnenwanderung innerhalb des polnisch-wolhynischen Lebensraumes, die ausgesprochen privaten Charakter trug. Aus diesem Grunde soll diese rußlanddeutsche Gruppe im Rahmen unserer Betrachtung nicht weiter berücksichtigt werden.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfaltete die russische Regierung eine rege, in ihren Ergebnissen bedeutende Siedlungstätigkeit in Sibirien. Die Gegend von Tomsk, Tobolsk und Altaisk wurde vorwiegend von Wolgadeutschen besiedelt; im mittelasiatischen Steppengebiet, vor allem im Kreise Omsk des Akmolinsker Gebiets wurde die Zahl der bereits vorhandenen deutschen Siedlungen durch Neusiedler von der Wolga und aus dem Schwarzmeergebiet vervielfacht. Aber auch im Turgaigebiet, bei Semipalatinsk, in Syr-Darja, Transkaspien, Turkestan und Chiwa entstanden nicht wenige deutsche Siedlungen, die vor allem von Deutschen aus dem Schwarzmeergebiet gegründet wurden. Die Neusiedler im asiatischen Rußland erhielten von der Regierung auf jede männliche Person 15 Des. Land gegen eine geringe Zahlung, die erst nach einigen abgabefreien Jahren einzusetzen hatte. Edmund Schmid zählt in Sibirien und Mittelasien 1914 350 deutsche Siedlungen mit insgesamt 105000 Kolonisten.
Die zahlreichen deutschen Siedlungen im Nordkaukasus und die über das ganze europäische Rußland zerstreuten kleineren deutschen Niederlassungen, wie die in den Gouvernements Podolien, Woronesch, Tschernigow, Poltawa, Mohilew, Kaluga, Moskau, Astrachan, Ufa und Orenburg, bestanden fast ausschließlich aus Tochterkolonien. E. Schmid beziffert die Gesamtzahl dieser zerstreut lebenden deutschen Kolonisten 1914 auf rd. 100000 Seelen.
Die Gesamtzahl der Deutschen in Rußland (ohne Finnland) betrug nach der russischen Volkszählung von 1897 1709489. Unter Berücksichtigung der überaus starken Fortpflanzung der bäuerlichen deutschen Kolonisten Rußlands und nach Abzug des von ihnen ins Ausland ausgewanderten Teils dürften 1914 etwa 2,4 Millionen Deutsche in Rußland gelebt haben. Zählt man jedoch dieser Zahl die zahlreichen Rußlanddeutschen, die nach Übersee auswanderten, nebst deren Nachkommen hinzu, so ergibt sich die runde Zahl von über 3 Millionen Rußlanddeutschen in der Welt. Dies bedeutet, daß von je 33 Deutschen in der Welt ein Rußlanddeutscher ist. Diese kolonisatorisch hervorragende deutsche Volksgruppe verdient es daher, im Rahmen der gesamtdeutschen Geschichte entsprechend ihrer Volkszahl und ihrer vielseitigen Tüchtigkeit gewürdigt zu werden.
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Den geschichtlichen Ausgangspunkt für das gesamte Rußlanddeutschtum, wie sich dieses uns 1914 darstellte, bildet unstreitbar das Wolgadeutschtum, daß heute auf 175 Jahre seines Bestehens zurückblickt. Der Beginn der Wolgadeutschen Geschichte ist deshalb auch als Beginn der rußlanddeutschen Geschichte schlechthin anzusehen. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß die übrigen rußlanddeutschen Gruppen infolge teilweise anderer Voraussetzungen eine vom Wolgadeutschtum abweichende Entwicklung nahmen und daß beispielsweise die zahlenmäßig ebenso starke schwarzmeerdeutsche Gruppe unter günstigeren Bedingungen auch bessere wirtschaftliche Erfolge aufweisen konnte. Daher soll hier im Wesentlichen nur noch das Wolgadeutschtum als der Begründer der I75jährigen rußlanddeutschen Geschichte einer weiteren Betrachtung unterzogen werden.
Während man beim Deutschtum im Reich und auch bei manchen auslanddeutschen Volksgruppen von bestimmten Stämmen reden kann, haben wir es beim Wolgadeutschtum, wie meist beim Deutschtum im Ausland, lediglich mit einer deutschen Volksgruppe zu tun, die aus mehreren deutschen Stämmen zusammenwuchs. Am stärksten sind daran die Südwest- und Westdeutschen beteiligt. Sprachlich gesehen, wiegt beim evangelischen Teil (etwa 75 v. H.) die hessisch-nassauische und beim katholischen (etwa 25 v. H.) die rheinische Mundart vor. Die zahlenmäßig unbedeutende mennonitische Gruppe an der Wolga, die erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entstanden und hier dem evangelischen Teil zugezählt worden ist, ist vorwiegend friesischer Herkunft.
Bis jüngst herrschte über die Altväter der Wolgadeutschen die einer bösartigen Geschichtsfälschung entsprungene irrige Auffassung, sie hätten in ihrer Hauptmasse dem Abschaum Deutschlands angehört. Von einem gewissenlosen Renegaten namens Klaus, der in russischen Diensten stand, wurde sie durch seine 1869 herausgegebene Schrift über die Wolgakolonien („Unsere Kolonien“) ausgestreut und von der überaus dürftigen Geschichtsschreibung kritiklos übernommen. Die Wolgadeutschen selbst kamen erst unmittelbar vor dem Weltkrieg durch Gottlieb Beratz, J. Kufeld und J. Erbes zum Wort. Beratz hatte als erster eine ebenso erfolgreiche wie begrüßenswerte Abwehr der Klausschen Verunglimpfung der Wolgadeutschen Gründergeneration unternommen. Leider sind er wie auch Kufeld und Erbes durch den Tod an der Fortführung ihrer vielversprechenden Arbeit gehindert worden. Das von ihnen gesammelte reiche Quellenmaterial dürfte in der bolschewistischen Hölle verloren gegangen sein. Um so begrüßenswerter ist daher die im Sinne dieser Forscher von dem Wolgadeutschen Dr. Karl Cramer (DPO)[2] geleistete Aufklärungsarbeit, die durch den Beitrag von Dr. Albert Lippert (DPO), ebenfalls einem Wolgadeutschen, ergänzt wurde. Zwar fand unter den Deutschen, die zur Auswanderung an die Wolga angeworben wurden, keine Auslese vor allem in sozialer Beziehung statt. Denn der Ansporn durch den Verdienst, den die Werbekommissare mit der russischen Regierung je Kopf der Geworbenen vereinbart hatten, führte dazu, daß bei der Werbetätigkeit weniger auf den Wert als auf die Zahl geachtet wurde. Daher wurden zur Auswanderung nach Rußland ab und zu auch Leute geworben, die nicht den besten Leumund aufzuweisen hatten. Doch waren, entsprechend den damaligen Vorstellungen vom „fernen und wilden Rußland“ unter den Auswanderern doch wohl vorwiegend wagemutige Menschen. Neben landlosen Ackerbauern, wohl vornehmlich nachgeborenen Bauernsöhnen, waren es Handwerker und Angehörige verschiedener anderer Berufe, aber auch Edelleute, Offiziere, Soldaten, Ärzte, Geistliche, Studenten und Künstler: also Menschen, an denen das Finanzamt wenig interessiert, die aber zur Kolonisation in der Wildnis bestimmt nicht wertlos waren. Der russische Geschichtsschreiber Pissarewski beschimpft die wagemutigen deutschen Kulturpioniere leichtfertig als „Städtisches Proletariat, Gesindel und Trunkenbolde aller Stände“. Doch widerlegt er sich selbst, indem er u. a. eine Aufstellung dieser Auswanderer bringt, die keinen einzigen Stadtproletarier aufweist, sondern ausschließlich ehrbare, vorwiegend dörfliche Handwerker und Gewerbetreibende, die Sachgüter und Bargeld mit sich führen. Lippert veröffentlicht (DPO) eine von S. Simmer gegebene Aufstellung der beruflichen Zugehörigkeit der Ansiedlerfamilien von zehn willkürlich herausgegriffenen deutschen Wolgakolonien. Danach sind von 534 Ansiedlerfamilien 320, d. h. 60 v. H. Bauernfamilien. Der bei den Wolgaansiedlern stark vertretene Handwerkerstand ist aller Wahrscheinlichkeit nach bäuerlicher Herkunft. Es kann daher bei vorsichtigster Schätzung angenommen werden, daß die Hälfte der deutschen Ansiedler an der Wolga Bauern und bäuerliche Handwerker gewesen sind. Sinner beurteilt im Ergebnis seiner Untersuchungen nur 10 v. H. dieser Ansiedler für ländliche Verhältnisse als ungeeignet. Hierbei ist festzustellen, daß es im Regelfall nicht leichtfertige Abenteuerlust, sondern vor allem der altgermanische Wandertrieb gewesen ist, der zur Auswanderung zwang; nicht zuletzt wirkten hier auch auslösend die drückende Herrschaft der deutschen Kleinfürsten, noch mehr aber die wirtschaftlichen Folgen des damals eben beendeten Siebenjährigen Krieges. Aus diesen und ähnlichen Gründen wurde nicht allein nach Rußland, wo es sich um eine staatlich organisierte Auswanderung handelte, sondern auch wahllos oft aufs Geratewohl nach Übersee ausgewandert. Wenn aus spießbürgerlicher Engstirnigkeit nach dem falsch angewandten Wahlspruch „Bleibe im Lande und nähre dich redlich“ oder gar wegen unbegründeter Urteile, die fremde Gehässigkeit erzeugten, der Stab über den deutschen Ansiedlern an der Wolga gebrochen worden ist, so hätten alle deutschen Auswanderer mit gleichem Recht oder Unrecht verurteilt werden müssen. Dagegen sprechen aber mehr wie eindeutig die hervorragenden wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen des gesamten Auslanddeutschtums, nicht zuletzt auch die der Wolgadeutschen.
Die Verhältnisse an der Wolga sorgten bereits in den ersten zehn Jahren der Ansiedlung für die denkbar schonungslose Auslese. Was durch das Fehlen strenger Auswahl bei der Anwerbung der Wolgakolonisten an menschlichem Unwert mit eingewandert war, merzten die häufige Dürre und die Bodenbeschaffenheit an. Sie trafen mit aller Härte naturgemäß in erster Linie die schwachen, rassenbiologisch wenig wertvollen Elemente unter ihnen. Bei Pissarewski finden wir die auf eine ungedruckte Archivnachricht gestützte Zahl der Wolgadeutschen vom l4. Februar 1769, also aus der Zeit, da die Ansiedlung an der Wolga gerade beendet wurde: 6433 Familien mit 23109 Seelen. Der Gelehrte Peter Simon Pallas gibt für das Jahr 1773 6194 Familien mit 25781 Köpfen an. Einem Gesamtzuwachs von 2672 Personen in fünf Jahren steht daher ein Rückgang von 239 Familien gegenüber. Daraus geht hervor, wie dies auch sonst an Beispielen nachgewiesen werden kann, daß bereits die ersten Jahre der Ansiedlung lebensuntaugliche Elemente ausmerzten, während die Lebensstarken und damit meist auch erbbiologisch Wertvolleren sich mit seltener Schnelligkeit vermehrten. Der weitere Bevölkerungszuwachs zeigt, daß die Zahl der Wolgadeutschen (ungeachtet der zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzenden starken Weiterwanderung nach Übersee, Sibirien und dem Nordkaukasus) alle 50 Jahre um das Dreifache, stellenweise auch mehr stieg. Damit dürfte das starke Anwachsen der Bevölkerung im Reich in dem Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg an Intensität wohl noch übertroffen sein. Das säubernde Fegefeuer, durch das die Altväter der Wolgadeutschen zu gehen gezwungen waren, hat an der fernen Wolga eine — erbbiologisch gesehen — deutsche Volksgruppe erzeugt, die an Tatkraft und Lebenszähigkeit jeden Vergleich mit Erfolg bestehen kann. Neben dieser harten, durch besondere Verhältnisse bedingten erbbiologischen Auslese erleichterte auch die russische Gesetzgebung den Wolgadeutschen, ihre völkische Art in geradezu idealer Reinheit durch mehr als 150 Jahre hindurch zu erhalten: Durch die russische Agrarordnung, das Mir-System, waren die Wolgadeutschen an die Scholle ihrer deutschen Gemeinde gebunden und gleichzeitig in ihren Gemeinden wegen Unveräußerlichkeit dieses Gemeindebodens gegen wurzelfeste Ansiedlung von fremdvölkischen Elementen weitgehendst geschützt. Nach russischem Gesetz mußten überdies Nachkommen aus Ehen zwischen Russen, bzw. Griechisch-Orthodoxen und Andersgläubigen griechisch-orthodox werden und galten als Volksrussen. Dies trug wesentlich dazu bei, daß solche Ehen von Rußlanddeutschen nicht eingegangen wurden. Wo sie aber (nur beim Städtedeutschtum Rußlands) vorkamen, wurde, durch das Gesetz bedingt, wohl deutsches Blut dem Russentum abgegeben, nicht aber von Deutschen russisches ausgenommen. Dies erklärt auch, warum das artreine und artbewußte Rußlanddeutschtum, nach Übersee ausgewandert, dort seine deutsche Art zäher bewahrte als unmittelbar aus dem Reich gekommene Deutsche. In einer Betrachtung über den rassischen Wert des Rußlanddeutschtums (DPO) zeigte ich, daß es den Vergleich mit dem Deutschtum im Reiche bestehen kann. Die anthropologischen Untersuchungen, die Dr. Friedrich Keiter an 3000 rußlanddeutschen Flüchtlingen in den Lagern Mölln, Hammerstein und Prenzlau durchgeführt hat, bestätigen dies. Was aber für das Rußlanddeutschtum im Durchschnitt zutrifft, gilt im gleichen Maße auch für das Wolgadeutschtum. Für den starken Anteil an nordischer Rasse mag neben der hervorragend ausgeprägten kolonisatorischen Tüchtigkeit der Rußlanddeutschen nicht zuletzt auch ihr außergewöhnlich reger Wandertrieb zum Zweck von Landnahme zeugen. Nicht selten legten geschlossene Gruppen von Rußlanddeutschen in fünf bis sechs Generationen die Wanderetappen Deutschland — europäisches Rußland — Sibirien — Kanada — Südamerika zurück: eine Siedlungswanderung rund um die Welt in einem Zeitraum von 100 bis 150 Jahren!
Etwa 83 v. H. der Wolgadeutschen gehörten bei Ausbruch des Weltkriegs landwirtschaftlichen Berufen an. Dies besagt, daß deshalb ihre Agrarverfassung und die gegebenen sonstigen landwirtschaftlichen Verhältnisse und Entfaltungsmöglichkeiten für ihre wirtschaftliche Entwicklung, ja, ihren gesamten Lebensstil von entscheidender Bedeutung sein mußten. Wie bei der Bauernschaft des alten Rußland, war auch bei den Wolgadeutschen das Mir-System in Geltung, d. h. das Land war nicht Einzeleigentum, sondern es gehörte der Gemeinde und wurde alle zwölf, sechs oder drei Jahre unter die Gemeindemitglieder nach der Zahl der männlichen Mitglieder in den Familien umgeteilt. Diese hatten nur die Nutznießung ihres Landanteils. Dieses System machte die Bodenverbesserungen für den jeweiligen Nutznießer sinnlos und mußte zum Raubbau führen. Überdies hemmte eine solche Gebundenheit an die Heimatgemeinde eine Ausbreitung in neue landwirtschaftliche Gebiete mit freiem Land, wenn es sie auch nicht ganz unterband. Das war deshalb besonders mißlich, weil die deutschen Wolgakolonien (hauptsächlich wegen der Nomadengefahr zur Zeit der Ansiedlung) dicht nebeneinander gelegt waren, so daß eine der anderen die sehr bald notwendig gewordene Ausbreitung versperrt hatte. Daran liegt es auch, daß es den Wolgadeutschen versagt war, jenen einzig dastehenden landwirtschaftlichen Aufstieg in überamerikanischen Ausmaßen und jene ebenso gigantische Landnahme erreichen zu können, wie dies den Schwarzmeerdeutschen möglich war, die nach erbhofrechtlicher Agrarverfassung auf leicht zu erwerbendem fruchtbaren Boden frei lebten. Doch hatte der „Mir“, in dem es mit dem Bevölkerungszuwachs zur Verzwergung der Landanteile kommen mußte, auch unleugbar Vorteile nicht allein in Bezug auf die Keinerhaltung des Volkstums, sondern auch in wirtschaftlicher Hinsicht: Im „Mir“ waren zwar bescheidene Lebensbedingungen gegeben, doch zugleich auch ein ehernes Mittel gegen die Verproletaristerung der bäuerlichen Bevölkerung. Darüber hinaus ist der „Mir“ eine Art von Rückversicherung bei bäuerlichen Vorstößen nach außen, da bei Mißlingen derselben stets die Rückkehr in den bergenden Schoß der Heimatgemeinde noch möglich war.
Infolge der extensiven Bodenbewirtschaftung (ausgedehnte Brache) und angesichts der Tatsache, daß nahezu 90 v. H. der Bevölkerung des Zarenreiches landwirtschaftlich tätig waren, war es schon zu Beginn unseres Jahrhunderts agrarisch übervölkert. Dies führte zu der bekannten Stolypinschen Agrarreform, die im Herbst 1906 erlassen, jedoch erst im Mai 1911 von der Duma endgültig angenommen wurde. Aber schon die wenigen Jahre bis zum Weltkrieg zeigten, daß das Wolgadeutschtum in den neuen Agrarverhältnissen einen kräftigen und erfolgreichen Ansatz zu einem neuen wirtschaftlichen Aufstieg nehmen konnte.
Dies waren die äußeren Verhältnisse, in denen das Leben und die wirtschaftliche Entwicklung der Wolgadeutschen verlaufen mußten. Innerhalb derselben aber wuchs und entfaltete sich der deutsche Mensch. Trotz dem „Mir“, der ihren wirtschaftlichen Fortschritt bei der außergewöhnlichen Fruchtbarkeit der Wolgadeutschen mit der Zeit abzuwürgen drohten, gelang es ihrer urwüchsigen Tatkraft, auch in landwirtschaftlicher Beziehung die unbestritten führende Stellung unter allen Völkern des östlichen Rußland zu erringen. Auf den Frachtdampfern der Wolga wurde vorwiegend deutsches Brotgetreide verschifft. Aber auch Spezialkulturen, wie Tabak und Senf, wurden von den Wolgadeutschen eingeführt und führend betrieben. Bei der Gebundenheit durch den „Mir“ hat die lebenmeisternde Tatkraft der Wolgadeutschen darin ein gewisses Ventil gefunden, daß sie sich mit gutem, oft geradezu imposantem Erfolg der Heimindustrie zuwandten. Hier war die Herrnhuter Gründung Sarepta bahnbrechend. Bereits 1773 und z. T. auch schon früher hatte sie gewerbliche Betriebe aller Art, wie Branntweinbrennerei, Lichtgießerei, Seifensiederei, Tabakfabriken, Apotheke und Getreide- und Schneidemühlen; der Sareptaer Schnupftabak war selbst beim kaiserlichen Hofe eingeführt. Die Bäckerei in Sarepta lieferte Brot im ganzen Reiche. Die Sareptaer Sarpinkafabrik konnte 1796 kaum ein Viertel der Nachfrage befriedigen. Sarpinka, eine Art Leinenstoff, ist ein Spezialerzeugnis der Wolgadeutschen. Die Sarpinka-Industrie wie der Tabakanbau wurden in der Folgezeit zu wichtigsten Erwerbsquellen vieler Wolgadeutschen Kolonien und eroberten den gesamten russischen Markt. Der Getreidehandel und die Mühlen- und Maschinenindustrie der Wolgadeutschen behaupteten bis zum bolschewistischen Umsturz eine Monopolstellung an der Wolga; den vier großen modernen deutschen Mühlen in Saratow mit ihrer Riesenkarawane von Frachtkähnen und Schleppdampfern stand nur eine kleine Mühle in russischem Besitz gegenüber. Nach Berechnungen des Verbandes der Rußlanddeutschen in Berlin betrug der Landbesitz der Wolgadeutschen 1914 2200000 ha, und des gesamten Rußlanddeutschtums 14450000 ha. Das Volksvermögen der Rußlanddeutschen betrug im gleichen Jahr 6708800000 RM, das jährliche Volkseinkommen 600000000 RM.
Trotz unentwegter Russifizierungsbestrebungen und systematischer Behinderung durch die russische Regierung, konnte sich in Rußland auch ein beachtliches deutsches Schulwesen entwickeln; die Wolgadeutschen haben hierzu ihren guten Teil beigesteuert. Das Schulwesen der Rußlanddeutschen war jedenfalls weit besser als bei jedem der vielen Fremdvölker des Zarenreichs.
Die Bedeutung des Deutschtums an der Wolga und in den übrigen Teilen des Zarenreichs für Rußland hat der Reichsdeutsche Dr. Lothar König unparteiisch und treffend Umrissen: „Die Deutschen mit ihren Siedlungen waren nicht nur Grenzschutz und Bollwerk gegen aufdringliche Nachbarn; ihre Bedeutung liegt tiefer. Wie so häufig in der Geschichte haben sie auch hier großartige Pionierarbeit für die Ausbreitung menschlicher Kultur und Zivilisation geleistet. Dürre weite Steppen haben sie in ein blühendes Wirtschaftsgebiet umgewandelt, und durch ihren Fleiß und ihre Tüchtigkeit waren sie stets Vorbild für die russischen Bauern. ,Ein stiller, aber im Grunde genommen gewaltiger Kultureinfluß ging von den Deutschen auf das umgebende Russentum aus’!“ Hierzu sei nur noch bemerkt: die Rußlanddeutschen verstanden es wie kein anderes Volk, wie Volksgruppen sonst, ihre Volkstreue mit der Staatsbürgertreue dem russischen Staate gegenüber, selbst bei schwerster Belastungsprobe im Weltkrieg, vorbildlich zu verbinden, was von germanischer Seelengröße zeugt.
Der aus dem blutschaotischen Steppengeist geborene „Dank“ der zaristischen Regierung für die hervorragenden staatsaufbauenden Leistungen und die heroische Staatstreue dieser deutschen Kulturpioniere auf russischer Erde aber war der Erlaß jener berüchtigten Liquidationsgesetze vom 13. Dezember 1915 und 2. Februar 1916. Der rußlanddeutsche Grundbesitz verfiel danach der Enteignung und der Ankauf von neuem Land war den Deutschen im Zarenreich künftighin verboten. Zunächst sollten die während des Krieges bereits nach Osten deportierten Wolhyniendeutschen und die Schwarzmeerdeutschen, die die ukrainische Brotkammer Europas schufen, getroffen werden, später aber auch die übrigen rußlanddeutschen Volksgruppen an die Reihe kommen. Die den Zarismus jäh ablösende Freimaurer-Regierung des phrasengewaltigen Halbjuden Kerenski hat diese Schandgesetze begreiflicherweise nicht aufgehoben. Dann folgte aber der bolschewistische Untergang.
Nach verschiedenen taktischen und experimentellen Übergangsstadien erhielt das Wolgadeutsche Gebiet die Form (oder besser gesagt den Namen) eines Gemeinwesens im Sowjetstaat mit dem knallroten Firmenschild „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik", und zwar aus folgenden Ursachen. Das völkische Erwachen verlangte zwingend seinen Tribut auch von den Bolschewiken. Für diese Apostel der Völkervermischung galt es daher, aus der Not eine bolschewistische Tugend zu machen. Durch Errichtung unfreier Scheinautonomien sollten die völkisch unfreien Volksgruppen und Völkerschaften gegen ihre bisherigen kurzsichtigen demokratischen Unterdrücker der übrigen Welt aufgereizt und für das jüdisch-bolschewistische Gift empfänglich gemacht werden. Praktisch wurde lediglich im Sprachlichen Erleichterung geschaffen. Die Sprachenpolitik der Bolschewiken sollte in Wirklichkeit die z. T. auch atomisierten Völkerschaften der Sowjetunion bolschewisieren. Im übrigen war und blieb die Zentralgewalt des roten Kreml unbeschränkt. Die demokratisch gefärbte Föderation ist daher lediglich eine bolschewistisch-propagandistische Dekoration. Durch die Errichtung sogenannter Kolchosen, Sowchosen und wirtschaftlicher Kommunen im Zuge der Kollektivierung wurden aber die „entkulakisierten“, d. h. ihres Landbesitzes beraubten deutschen Bauern der Wolga wie auch der übrigen Teile der Sowjetunion in Sklaverei auf ihrem eigenen Boden versetzt, sofern sie nicht zu Zwangsarbeiten in den hohen Norden oder nach Jnnerasien verschleppt wurden oder dem Hunger und dem behördlichen Morde verfielen. Die bolschewistischen Vernichtungsmethoden gegenüber dem Rußlanddeutschtum lasten sich kurz in folgende Punkte zusammenfassen: 1. physische Vernichtung; 2. wirtschaftliche Vernichtung; 3. politisch weltanschauliche Vernichtung; 4. Vernichtung des Volkstums mittels Durchsetzung deutscher Dörfer mit Fremdstämmigen; 5. hermetische Abschließung vom Muttervolk; 6. Vernichtung kultureller Werte durch Zerstörung der Kirche und freien Schule; 7. Auflösung und Zerreißung der Familie und Bolschewisierung der Jugend; 8. Vernichtung des freien Bauerntums. Die blutige Vernichtungstragödie des Wolgadeutschtums kennzeichnet Zienau wie folgt: „Kraftlos geworden in seiner Seele, kämpft der deutschstämmige Bauer an der Wolga in harter Fron eines widerspenstigen Bodens nur noch um seine nackte Existenz. Man muß die greisenhaften Kindergesichter, die furchtbaren Elendsgestalten unter den in besten Jahren befindlichen Kolonisten gesehen haben, mußte sich von einem frühzeitig gebrechlich Gewordenen sagen lasten, daß das Brot so rar wie ein weißer Spatz sei, um die furchtbare Lage der Wolgakolonisten . . . begreifen zu können. . .“
Nach Angaben von Dr. Lothar König sollen allein in den Jahren 1930 bis 1936, also längst nach dem Abschluß der besonders blutigen Periode des Kriegsbolschewismus und des opferreichen Hungerjahres 1921/22, 135000 Rußlanddeutsche vom Bolschewismus vernichtet worden sein. Nach den Berechnungen des Verbandes der Rußlanddeutschen beträgt heute die Zahl der Deutschen in der Sowjetunion nur noch 900000 Köpfe, anstatt entsprechend dem bis 1914 bei ihnen festgestellten Bevölkerungswachstum in den verflossenen 24 Jahren aus rd. 4 Millionen angewachsen zu sein.
Deutsche Menschen, deren Väter vor 175 Jahren hinausgezogen sind ins ferne und wilde Wolgagebiet, um dort durch ihren ehrlichen Fleiß fremde Erde urbar zu machen und sich einen Platz unter der Sonne zu erkämpfen, gehen heute nach glanzvoller Pionierarbeit den grauenvollsten Todesweg . . . Doch ihre Leistungen bleiben unsterblich auch für das Mutterland, von dem sie einst im Stich gelassen und vergessen worden waren.
Schrifttum:
Gottlieb Beratz, „Die deutschen Kolonien an der unteren Wolga“, 2. Auflage, Berlin 1923. — Gerhard Bonwetsch, „Geschichte der deutschen Kolonien an der Wolga“, Stuttgart 1919. — Friedrich Keiter, „Rußlanddeutsche Bauern und ihre Stammesgenossen in Deutschland“, Jena 1934. — Lothar König, „Die Deutschtumsinsel an der Wolga“, Dülmen i. Westf. 1938. — Georg Leibbrandt, „Die Auswanderung aus Schwaben nach Rußland 1816–1823“, Stuttgart 1928. — Johannes Schleuning, „Das Deutschtum in Sowjetrußland“, Taschenbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums, Heft 24. — Edmund Schmid, „Die deutschen Bauern in Südrußland“, Berlin 1917. — Monatsschrift des Verbandes der Rußlanddeutschen „Deutsche Post aus dem Osten“, Berlin, Jahrgänge 1936 bis 1938 — darin vor allem die entsprechenden Aufsätze von: Karl Cramer, Joseph Geiger, Albert Lippert, Andreas Mergenthaler, Hans Rempel und Ludwig Schmalz.
1 Dr. Joseph Geiger (12.12.1893, Simferopol – 19.03.1957, Bayreuth) – Herausgeber der Monatszeitschrift “Deutsche Post aus dem Osten” (von Jan. 1937 bis Jan. 1939).
2 DPO — Abkürzung für „Deutsche Post aus dem Osten“: siehe unter „Schrifttum“.
Jahrbuch des Instituts für Grenz- und Auslandsstudien (früher Deutsches Grenzland). 1939. / Hrsg. von Max Hildebert Boehm (Jena), Karl C. v. Loesch (Berlin), – Berlin-Steglitz: Deutsche Buchvertriebsstelle Kurt Hofmeier. – S. 104-118.