Geschichte der Wolgadeutschen
Nr. 1/2 DEUTSCHES LEBEN IN RUSSLAND 1923

Русский

Orts- und Flurnamen

Von Peter Sinner, Saratow

Die schweren Kämpfe, die unser deutsches Volk hier an der Wolga um physisches und völkisches Sein zu kämpfen hat, können unter Umständen auch einen abgehärteten Optimisten zum Straucheln bringen. So ist auch meine Wenigkeit, der ich mich bisher für einen unverbesserlichen Optimisten hielt, infolge meiner in der Presse – allerdings unfreiwillig – geäußerten Alarmstufe bezüglich unseres bedrohten Volkstums, in die Reihen der Schwarzseher geraten. Nun es war ein erzwungener Schrei, ein Notschrei. Wenn in der Nacht plötzlich ein Feuer ausbricht, schreit man: „Feujorio!“ und zwar manchmal lauter, als es dem ästhetischen Gefühl der vom Schlafe, aufgeschreckten Nachbarn genehm ist. Aber die Hauptsache ist, dass sie den Ruf hören, aufspringen und zur Hilfe herbeieilen, und dass sie sich nur ja nicht hinstellen und fragen: „´s hilft nix meh, ´s is alles verloren! Schade, schade um die schö Wertschaft...“



Dass es noch nicht zu spät ist, davon dürfen auch die folgenden Zeilen beredtes Zeugnis liefern.

Der Wolgadeutsche Bauer zeichnet sich, seinem ureigensten und innigsten Wesen nach, durch, vielleicht vorwiegend instinktives, allerdings zähes, Festhalten an seiner völkischen Eigenart aus. Diese Grundeigenschaft der Art des deutschen Wolgabauern hat zur Folge gehabt, dass das Deutschtum hier in der fremden Steppe Ostrusslands tiefe Wurzeln schlagen konnte. Augenfällige Beweise hierfür treten dem unvoreingenommenen Beobachter auf Schritt und Tritt entgegen.

Inwieweit das Wolgadeutschtum im Wandel der Zeit hier bodenständig geworden ist, davon zeugen unter anderem die Orts- und Flurnamen des deutschen Wolgagebietes.

Eine gesunde, urdeutsche Volksseele hat sie tief aus ihrem Innern heraus geprägt, gepflegt, allen Widerwertigkeiten Trotz bietend, erhalten und an das heutige Geschlecht überliefert – kerndeutsch überliefert -, einige wenige natürliche Ausnahmen nicht mitgerechnet.

Diese Orts- und Flurnamen wollen wir uns etwas näher ansehen. Da sind zuerst die Flussnamen. Dass die Namen der größeren Ströme des deutschen Wolgagebiets einen fremden Klang haben, liegt im Wesen der Sache. Fast sämtliche Flüsse des innern alten Russlands haben ihre prähistorischen finnischen, türkisch-mongolischen und sonstigen fremden Namen auch beibehalten. Das russische Volk hat diese nur seinen Sprachgesetzen untergeordnet und angepasst. So ist aus Tanais Don, aus Danüper Dnjepr, geworden usw. Diese Erscheinung beobachten wir auch in andern Ländern. Der Vater aller deutschen Ströme, der Rhein, ist aus dem alten Rhodanus hervorgegangen.

So fanden auch die hiesigen Deutschen, als sie in die Wolgasteppen kamen, Flüsse mit meist türkisch-mongolischen Namen vor. Diese Namen wurden von ihnen übernommen, aber dem Geist und den Gesetzen der deutschen Sprache entsprechend umgeformt. Aus der Wolga ist die Wolge oder die Wolg , aus dem Karamysch – der Kármisch oder Krámisch, aus Ilowlja – die Láwle, aus der Medwediza – die Médwetz, aus dem Jeruslán - Jérusland, aus dem Tarlyk – der Dérlik, aus der Kubá – die Gúbbe, aus dem Karamán – der Kárman, aus dem Irgis –der Ergis, aus der Kriwuschka – Kréjusch geworden. Dagegen bekamen die kleineren Flüsse und Bäche, die damals noch keine bestimmten Namen hatten, durchweg deutsche Benennungen, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben („Schwarzwasser“, „Liesel“). Meist heißen sie aber einfach „Fluss“ oder „Bach“.

Was die sonstige geographischen Namen des deutschen Wolgagebiets betrifft, so sind auch diese so ziemlich alle deutsch. Am Horizont des Ostens sieht man von der Wolga aus die Ausläufer des Uralgebirges blau schimmern; das sind die „Blooe Berge“. Vor mehr als 60 Jahren fingen unsere Leute des Landmangels wegen an, nach der befestigten Grenzlinie Nordkaukasiens abzuziehen (sie gingen an die „Linie“), and so heißt bei uns der Kaukasus bis auf den heutigen Tag „die Linie“. Hinter Katharinenstadt befindet sich eine Anhöhe, auf der Zusammenstöße mit Kalmykenhorden stattgefunden haben sollen. Das ist und bleibt wohl bei uns im Volksmunde der „Kalmykeberg“ für ewige Zeiten. Vor Katharinenstadt, mitten in der Wolga, liegt eine Insel, auf der in den ersten Jahren nach der Gründung der Kolonien eine Anzahl von Kolonistenfamilien, die zurück nach Deutschland fliehen wollten, von ihren angeblichen Führern ermordet und beraubt wurden: das ist die „Mordinsel“. Der „Schillinger Steppberg“ ist allgemein sprichwörtlich geworden. Wenn eine Sache mit Schwierigkeiten verbunden ist, heißt es: „Do geht’s so, wie am Schillinger Steppberg: selt geht´s leicht nunner, awwer arg schwer nuff“.

Eine ganzmerkwürdige Sache ist es auch mit den Namen der Wolgakolonien selbst. Die 104 Stammkolonien legten sich gleich von Anfang an meistens die Namen ihrer ersten Vorsteher bei, bis auf einige von Katharinenlehn, denen ihr Begründer, Baron de Beauregard, z. T. die Namen schweizerischer Kantone (Schaffhausen, Glarus, Zürich, Basel, Solothurn, Luzern, Unterwalden), teils die Namen hoher Gönner (Katharinenstadt, nach der Keiserin, Paulskoi nach dem Thronfolger Paul, Orlowskoi nach dem Leiter der Kolonisation, Graf Orlow) gab.

So war es bis zum 26. Februar 1768. da erließ die Regierung einen Befehl, dem zufolge die Kolonien russische Benennungen zu erhalten hatten. Schilling wurde in Sosnowka, Beideck in Talowka umbenannt usw. Aber diese Benennungen haben sich im Volke nicht eingebürgert; sie finden bis auf den heutigen Tag nur für amtliche Zwecke Verwendung. Das Volk kennt nur seine eigenen alten deutschen Ortsnamen, und an diesen hält es fest. Von den 104 alten deutschen Namen sind bloß 8 aus dem Gebrauch geschwunden. Das sind die Benennungen der Dörfer: Kamenka (früher: Bähr), Semenowka (früher: Rötlhling), Galka (früher: Meierhöfer), Dobrinka (früher: Moninger), Tscherbakowka (früher: Stricker), Jagoda (früher: Baum), Krasnojar (früher: Walter), Norka (früher: Weigand).

Als der Landmangel in der Wolgakolonien immer größer zu werden begann, wurden von 1848 an in den Steppen der Berg- und Wiesenseite Tochterkolonien gegründet, diese legten sich z. T. die Namen der Mutterkolonien bei (Neu-Schilling, Neu-Bauer usw.), oder aber sie wählten sich sonstige Benennungen (Brunnental, Rosental, Schöntal usw.); also wiederum ohne Ausnahme echt deutsche Namen.

Als während des letzten Krieges die bekannte Deutschhetze einsetzte, wurden alle deutschen Ortsnamen amtlich schonungslos ausgemerzt, d.h. ihre Benutzung verboten und durch russische ersetzt. Aber auch half auch nichts. Das Volk hielt an seine alten deutschen Namen fest. Das tut es heute, wo man ihm in dieser Hinsicht keinen Zwang mehr auferlegt, um so mehr.

Das Volk geht noch weiter. Man wird neuerdings gefragt, was dem in Wege stehe, dass man, anstatt der „possigen“ fremden Namen einiger alter Dörfer, die verdrängtendeutschen setze: also anstatt Kamenka – Bähr, anstatt Semenowka – Röthling u.s.w.? Diese Ehrung sei man dem Andenken der ersten Vorsteher und Begründer der Kolonien doch wohl schuldig.

Um zu zeigen, wie sehr beachtenswert die Fllurnamen hier sind, schlage ich einen Ausflug z. B. in mein Heimatsdorf vor; einmal, weil es von Saraow as am bequemsten zu erreichen ist, und dann, weil sein Gebiet am genauesten kenne. Wir besteigen den Dampfer („´s Feuerschiff“), und nach kaum zweistündiger Fahrt die Wolga stromabwärts haben wir die 45 Kilometer zurückgelegt und machen am Schillinger „Kontor“ (Haltestelle) fest. Amtlich heißt mein Heimatort eigentlich Sosnowka. Aber frage mal diese Frau oder den hinter ihr dahertrottenden Knaben, die uns da entgegenkommen, ob sie aus Sosnowka seien, und du bekommst sicher zur Antwort: „Ich? Naa net; vun Schilling bin ich!“

Also, Schilling liegt eng am rechten Wolgaufer, 45 Kilometer unterhalb von Saratow. Sein Landareal ist folgendermaßen gelegen:

1. Das ursprüngliche Bau- und Weideland liegt im Viereck am rechten Wolgaufer und ist 7 Kilometer lang und ebenso breit, macht also ungefähr 50 Quadratkilometer aus.

2. Am linken Ufer der Wolga, gegenüber dem Dorfe, liegen die Schillinger Wiesen (ca. 35-40 Quadratkilometer), die jedes Jahr im Frühling während des Hochwassers überschwemmt werden.

3. In gerader Linie von Schilling nach Westen liegt eng an der Schillinger Grenze das Dorf Beideck; in derselben Richtung hinter dessen Landgrenze, 25 Kilometer von Schilling, dehnt sich jenseits des Karamysch-Flusses die Schillinger Kronsteppe (eine spätere Landzuweisung) aus, eine Fläche von ca. 30 Quadratkilometer, zusammen also rund 11 000 Desjatinen.

Der Charakter der Gegend ist recht mannigfaltig, so dass es sich lohnt, ein paar Streifzüge durch die Schillinger Grenze zu unternehmen, auf denen wir die einzelnen, nun folgenden Bezeichnungen kennen lernen werden.

Auf der Wiese haben wir folgende Namen: „Insel“, „Saton“ (russ. Bucht), „Sandbuckel“, „Weidelöser“, „Zwatter Buckel“, „Kumarje-See“ (Gute-Morge-See), erster Dreckgrawe, zweiter Dreckgrawe, Pastorloos, Pastorsee, Kranichbuckel, Grenzsee, Krejusch (Fluss, russ.), Schtaritz (Fluss, russ.), Roßlers Eck, Kreuzsee, Riegewännche, Maures Eck, Mukleck, Mohreseeche, Wasserdäll, Blumesee, Deifelgräbche, ´s Rewenners, ´s Schironows (Name des Landmessers, der die Flur als Gegenleistung für eine Flinte zugemessen haben soll), Jericho (Fluss), Simwe (Simowje = Winterstand, russ.), ´s Aschpene Rechelche, ´s Sandgräbche, d´r Sandsee, ´s Kahollegräbche, ´s Brunnche, die Löcher, Riedgewännche, Weidewasser.

Die Namen der alten Grenze – „dehaam zum“: a) in de Berge (Nordgrenze) – Vörnergässer Bückel, hocher Raa, Sauloch, Staaplatt, Staaeck, grü Platt, Schofgrawe, Grenzgrawe, Hang, Stein, Tal, Taleck, Poschtweg, Staarück, Auerbusekopp, Fuchslöcher, die Höh, die Aaiche, die Säuunner, die groß Dreispitz, ´s brunnerech, die Steppbergeck, der Dreispitzeberg, ´s Schillings Brünche, der Schillingsbrüncherwald, die Bärnkoppeck, der Bärnkopp, der Hummelwald, ´s Geldloch, Sininker Tal (Grenzflur bei Ssinenitije), Schnauz; b) uff der Stepp – Runder Wald, Staagrawe, Damm, Süßholzlöcher, die Berke, ´s neu Feld, die Frische; c) in de Berge (Südgrenze) - Dudnik, Russeraa, Alt Unner, Kalklöcher, hinnerscht Dreispitz, Sanddreispitz, Hasselnüßberg, Hasselnußgräbche, Mühlberg, Kasukebückel, Kartoffelbruck, vörnersch Dreispitz, Geldkopp, Kühbuckel, klaa Dreispitz, klaaner Dreispitzberg, Gaai (=Gau), Staagrawe, Hang Fasse Kram, Freiing, Deinise-Mühl, Süßholzlöcher, Belletal, Hinnegässeer-Bückel, Giftsee, Grü Tall, Saldatebrünche, Hinnergässer-Trög (Quelle), Metzerbrunne, Vörnergässer-Trög.

Ortsbenennungen der Kronstepp: Mühlberg, narker Seit, A´höh, die Grüne, der Berg, der Ochsegrawe, ´s Ochseloch, ´s Dreiborngrubche (drei Brunnen),der Grawe, ´s Haus, der öwwerscht Brunne, die Lahmelöcher, die öwwerschte Tenn, der Perch, der Daunn, der zwatt oder neu Brunne, die alte Tenn, die Wasserlöcher, ´s aschpen rechelche, die Kuttere Seit.

Wo das Deutschtum so tiefe Wurzeln schlagen konnte wie hier, was diese Anzahl von Namensgebungen zeigt, da kann es nicht mehr ausgerottet werden. Das Ererbte zu pflegen und weiter zu erhalten ist Pflicht unserer Zeit.

Deutsches Leben in Russland, 1923, Nr. 1/2, S. 29-30.