Geschichte der Wolgadeutschen
Deutsche Post aus dem Osten
Herausgegeben von Adolf Eichler und Carlo von Kügelgen
Nr. 1 Januar 1929

Neujahr im wolgadeutschen Dorf

Von Peter Sinner, Leningrad

Das Freudenfest unserer Kinder, Wehnachten, hält bei diesen so lange wie der Riwwelkuchen. Und der hält eine ganze geschlagene Woche an. Das Zuckergäulche oder die Zuckerpopp oben am Durchzug der Überlade, halten sogar lange über Weihnachten hinaus an, wenn man sie bloß anguckt.



Zu Silvester werden dann wieder neue Riwwel- und verschiedene andere Kuchen gebacken. Die ledigen Buben und die jungen Männer säubern am Nachmittag ihre Pistolen und Flinten. Auch die größeren Schulbuben setzen ihre Gewehre - Pistolchen aus hohlen Schlüsseln oder Jagdpatronenhülsen - in Stand und laden sie. Die ganz kleinen, 6 - 8jährigen, dürfen diese Versuche in der Regel noch nicht mitmachen. Sie suchen sich daher gefrorene "Pferdenüsse"*) auf der Gasse zusammen und verstecken sie an einem sicheren Ort. Die Mädchen mustern noch einmal in der Kiste herum. Sie müssen ihre Bänder zur Hand legen. Nun ist alles bereit. Es wird zur Nacht gegessen. Inzwischen erklingen die Glocken zum Silvester. Wer nur irgend kann, ob groß, ob klein, eilt heute zur Kirche.

Auch ich, der Siebenjährige, fühle mich schon recht selbständig und erkläre beim Nachtessen, dass auch ich zur Kirche gehen wolle.

- Mit wem? - fragt die Mutter.

- Drüben mit dem Hanfrieder, - erwidre ich.

- Das geht schon. Der Hanfrieder ist immerhin zehn Jahre alt. -

Nach der Kirche beginnt wieder ein frohes Treiben auf der Gasse. Es wird übermutig gesungen und gejohlt, während man in großen Haufen die Straßen auf und ab zieht. Um zehn beginnt man auf dem Kirchenplatz, um den Glockenstuhl herum, zu versammeln. Das sind die jungen Männer, die ledigen Burschen, endlich abseits die Schulbuben. Oben der Glockenstuhl ist voller Männer und Burschen. Um Schlag 11 Uhr gibt der Schulmeister das Zeichen, und das Silvesterläuten beginnt. Das alte Jahr wird in die Ewigkeit hineingeläutet, und das neue, nach einer kleinen Pause und einem neuen Zeichen des Schulmeisters, mit kräftigen, heiteren Glockentönen begrüßt.

Wir Kleinen schleichen schüchtern um den Männerkreis herum. Irgendein Vorwitziger wagt sich auch einmal in den Männerhaufen hinein, um in die Nähe des ersehnten Glockenstuhles, oder gar ganz hinauf, zu kommen. Doch ehe er sich's versieht, hat er eine im Genick, begleitet von der weisen Bemerkung, für uns sei's Zeit, heim zu gehen und sich ins Bett zu machen. Am eifrigsten sind da gerade diejenigen, die vor einem Jahr noch nicht ledig waren und sich damals selbst noch in den Reihen der "Büberchen" befanden. Und wir denken: Wartet nur, auch wir werden einmal ledig.

Nach ein Uhr stiebt der Haufe auseinander, wir steifgefrorene Kinder allen voran. Wir werden von den Mütter tüchtig ausgescholten, dass wir uns haben halbtot frieren lassen, und rasch ins Bett gejagt. Von dem Mannsleuten aber, zumal von den Ledigen, denkt niemand ans Schlafengehen. Sie rüsten sich endgültig zum "Wünschen", oder Neujahranschießen.

Um 4 Uhr morgens, also 4 Stunden vor Tag beginnen die Schornsteine zu rauchen. Das ist das Signal für die Wünscher. Jetzt ist wieder Leben auf den Gassen. Junge Männer und Burschen gehen einzeln oder in kleinen Gruppen mit dem Schießgewehr untern Arm durch die nächtlichen Straßen, überall da einkehrend, wo sie Verwandte oder Gevattersleute mit einem Neujahrsgruß überraschen wollen.

Ich lag am nächsten Morgen noch in süßem Schlaf, als es in der Haustür anfing zu poltern und zu rumoren. Als ich halb und halb zu mir war, hörte ich die Worte:

… So will ich jetzt mein Wünschen schließen
Und euch das neue Jahr anschießen.
Ich hab mein Sach zurechtgemacht.
Jetzt schieß ich, dass Stubbetür kracht."
- Knall! Knall! -

Ein traten der Krollige, der's auf meine Schwester Liesbeth abgesehen hatte, und sein Kamerad.

Der Krollige begann:

"Gute Morge, ihr liewe Leut!
Habt ihr schon ein Schnaps bereit,
So tu ich euch recht schön Bescheid,
Wünsch euch e Jahr voll Glück und Freud.
Und wenn ihr habt recht freie Hände,
Läßt sich's auch dabei gut bewende:
Ihr könnt mir'e recht schön Band anbinde,
Mirs schmuck um die Pistole winde."

Dan fiel sein Kamerad ein und sagte:

"Auch mich lasst eine Bitt einlegen,
Wohl um des neuen Jahres wegen,
Auch mei' Pistol erheischt e Band.
Das gebt mir auch aus freier Hand.
Un lasst mich nicht zu lange stehen -
Ich muss e Häusche weiter gehen."

Main Vater hatte am Tisch gesessen und seine Morgenpfeife angefangen. Als die Burschen eintraten, legte er die Pfeife zur Seite und trat ihnen entgegen. Er sagte:

- Des wünsche mer euch aach: Setzt euch, Buwe.

Sie setzen sich. Schwester Liesbeth brachte einen Teller mit aufgeschnittener, abgekochter Bratwurst und abgebackenen Schinken. Der Vater nahm die Schnapsflasche und trank den Burschen zu:

- G'sundheit, Buwe!

- Gott segen's ! - erwidern die.

- Wie werds dann, Liesbeth, mit 'me Band? - meinte der Krollige.

- Ich glaab, 's lohnt net. Ihr betrinkt euch, un nohrt sin die Bänder verlorn? -

- No, machst du Sache! - erwidern beide voll heiliger Entrüstung, - mer sind doch kaa Siffer! -

Jedem bindet die Liesbeth ein Band an die Pistole, und sie gehen weiter, auf einen zweiten angebotenen Schnaps verzichtend.

Ich hatte mich inzwischen angezogen und gewaschen, und rasch eilte ich auf den Hof, holte mir eine Pferdenuß und lief zurück in die Haustür. Hier begann ich das Scherzverschen:

"Ich wünsch euch Glück,
E Gawwel off de Rück,
E Knut uff de Aasch!**)
Get e recht Stück Fraasch!"

- Knall! - warf ich meinen Gäulsknottel gegen die Tür. Als ich eintrat, stand die Mutter schon da mit dem "Knutche", dem "Ziplin", einem zweiriemigen Peitschchen, mit dem wir Kinder bei Vergehen abgeschwartet wurden.

- Daß m'r so was net meh vorkimmt! - drohte sie, als sie mein verdutztes Gesicht sah.

Ich druckte mich rasch und eilte hinüber "ins Dorf" zu meiner Großmutter. Im Vorhaus sprach ich ein Verslein, dessen Schluß lautete:

(Ich wünsch euch)

So viel Glück und so viel Sege,
Als wie Tröpflein in dem Rege.
Häb ich ma Sach zurechtgemacht,
So schieß ich , dass die Stuppeteer kracht.

Mit dem üblichen Kindergewehr warf ich an die Tür und trat ein. Innen standen alle und lauschten. Ich begann wieder ein Scherzverschen:

Ich wünsch euch!
Gebt mer's gleich!
Laßt mich net so lang do steh',
Ich muß e Häusche weiter geh!

Meine Got, der Mutter Schwester, gab mir ein paar Kopeken und begleitet mich in die Stube der Großmutter. Die saß mit der Brille auf der Nase und las den Morgensegen.

- Gu' Morge, Motter!
Ich wünsch Euch e glückselig Neujohr,
G'sundheit, Fried'und Aanigkeit,
E lang Lewe (- Ja, ja - seufzt die Siebzigjährige
     bei diesen Worten)
Un die ewig Glückseligkeit! - -

Sie küsste mich und sagte gerührt:

- Des wünsch ich d'r aach, ma Knecht! - Dann gab sie mir ein kleines Geschenk und schärfte mir ein, Vater und Mutter ihre Neujahrswünsche zu überbringen. Ich ging weiter und wünschte auch meinen anderen Verwandten ein "glückselig Neujahr". Mit frohem Herzen und einer Anzahl kleiner Münzen in der Tasche kam ich zu Morgenessenszeit heim.

Während des Morgenessens und noch lang nachher kamen Wünscher, Männer und Burschen, sprachen ihre in Knüttelversen, selbstgereimten oder von älteren übernommen, langen Neujahrswünsche, schossen, dass die Wände zitterten, ließen sich ein Band geben, wenn ihnen eins zukam, tranken eins und gingen weiter. Nach der Kirche gingen die Eltern zur Großmutter und beglückwünschten sie, dann eilten sie nach Hause, um ihre Geschwister zu empfangen.

So feierten wir in den deutschen Wolgakolonien damals Neujahr, so treibt man's heute noch und wird's hoffentlich noch so lange tun, wie deutsche Bauern an der Wolga leben werden.


 *) Gaulsknottel im Volksmunde

 **) Hintern


Deutsche Post aus dem Osten, 1929, Nr. 1, S. 14-16.