Geschichte der Wolgadeutschen

DEUTSCHE ERDE

ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHKUNDE


Die Pastoren der evangelisch-lutherischen Kirche in Südrussland von 1789 bis 1910.

Von Dozent Adolf Lane in Berlin.

Es ist eine warm zu begrüßende Erscheinung, daß unter den deutschen Kolonisten in Rußland ein reges Interesse für ihre eigene Geschichte allmählich erwacht[1]. Von einer ganzen Reihe neuer Versuche, Beiträge für diese Geschichte zu liefern, kann man, in der letzten Zeit sprechen. Die neuere Forschung wendet sich anscheinend immer mehr monographischen Untersuchungen zu, was meines Erachtens von besonderem Werte ist. Ich weiß nicht, inwiefern bei dieser Tatsache zufällige Momente mitgespielt haben, jedenfalls aber habe ich noch nirgends von methodologischen Gründen gehört oder gelesen, die diese Arbeiten hervorgerufen haben. Indessen täte gerade jetzt eine eingehende methodologische Erörterung dieses Gegenstandes not. Gegenwärtig arbeitet man meines Wissens an etwa acht verschiedenen Orten in Rußland an der Geschichte der Kolonien, ohne daß eine Verbindung zwischen den Forschern bestände. Ich will an dieser Stelle die Frage nicht weiter verfolgen, und bemerke nur, daß der jetzige Zustand der Forschung sehr viel zu wünschen übrig läßt, und wenn er nicht in der nächsten Zeit (etwa durch regelmäßige Zusammenkünfte der in Frage kommenden Forscher, durch ständigen Gedankenaustausch und gegenseitige Hilfe, die so dringend ist, weil die betreffenden geschichtlichen Quellen über Rußland und Deutschland verstreut sind) zum besseren verändert wird, kann für die Wissenschaft ein großer, schwer oder kaum zu beseitigender Schaden entstehen. Hier will ich nur auf einen interessanten Aufsatz von dem Herausgeber des „Christlichen Boten“, Pastor Th. Meyer (Nikolajew), über die südrussischen evangelischen Pastoren aus  dem Oktober-November-Heft 1910 der von Bischof Dr. Ullmann begründeten „Mitteilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland“[2] aufmerksam machen. Dieser Aufsatz ist als Entwurf zu einer größeren monographischen Arbeit über ein wichtiges Spezialgebiet der Geschichte der südrussischen Kolonien zu betrachten.

Pastor Meyer nennt seine Arbeit eine noch „ziemlich unfertige“ und hat sie für das Jubiläumsheft der Zeitschrift dem Herausgeber zur Verfügung gestellt, „da damit ein Beitrag eines außerhalb Kurlands im Pfarramt stehenden Kurländers . . . geboten werden sollte“. Später soll daraus ein größeres Werk entstehen. Aus der Feder des Verfassers besitzen wir bereits eine geschichtliche Arbeit „In der Diaspora“ (Geschichte des evangelisch-lutherischen Kirchspiels Nikolajew-Cherson)[3], dessen gewissenhafte und nach wissenschaftlicher Exaktheit strebende Darstellungsart in uns die besten Hoffnungen auf das zu erwartende, obenerwähnte Werk erweckt.

Pastor Meyer geht von der Voraussetzung aus, daß die evangelisch-lutherische Kirche in Südrußland ein besonderer, in sich abgeschlossener Teil der evangelisch-lutherischen Kirche im Russischen Reiche ist. Er sieht in ihr eine eigenartige Volkskirche, die das Gebiet der Gouvernements Bessarabien, Cherson, Jekaterinoslaw, Taurien und das Land Donscher Kosaken umfaßt und hier augenscheinlich ebensoweit reicht wie die nationale Eigenart des deutschrussischen Südens.

Pastor Meyer hat das biographische Material der während der 120 Jahre beamtet gewesenen 151 Pastoren zusammenzubringen versucht. Obwohl die Vollständigkeit der Angaben über viele Personen noch sehr viel zu wünschen übrig läßt, kann man schon jetzt sagen, daß das Gebotene einen ziemlich guten Einblick in die in Frage stehenden Verhältnisse ermöglicht. Die Amtsdauer kann, wenn auch bedingt, ein Gradmesser dessen sein, wie stark der Einfluß des betreffenden Geistlichen auf die Bevölkerung sein konnte. Das älteste Kirchspiel Josephsthal hatte im Verlauf von 118 Jahren (1789–1907) nur vier Pastoren, die 10, 26, 35 und 43 Jahre tätig gewesen sind. Das Kirchspiel Arzis in Bessarabien zeigt im Gegenteil, daß hier die Pfarre seit 1819 den eisten Pastor hat. Die Pastoren lösten hier einander häufig ab und oft blieb die Pfarre auch unbesetzt. Die Amtsdauer war hier 16, 3, 4, 5, 3, 9, 7, 5, 3, 8 und 11 Jahre. Auf volle 50 Amtsjahre brachte es in Südrußland ein Pastor, 8 standen 40 Jahre lang im Amte, über 30 Amtsjahre erreichten 10 Pastoren, über 20 Jahre wirkten 15, weniger als 5 Jahre 34 Pastoren. Gegenwärtig sind 34 Pastoren in Südrußland tätig, unter ihnen hat Propst Alber in Großliebenthal das 40. Amtsjahr überschritten, ein zweiter Pastor, Peters, in Klöstitz (Bessarabien), ist ebenso lange im Dienste, vier sind über 30 Jahre, elf über 20 Jahre, neun über 10 Jahre, zwölf unter 10 Jahren tätig. Nahezu die Hälfte der Pastoren verließ nach kurzer oder längerer Amtstätigkeit Südrußland, in weiteren neun Fällen war das Ausscheiden aus dem Dienste nicht freiwillig. Die evangelisch-lutherische Kirche Südrußlands hat gegenwärtig 43 Pfarrstellen, von denen nur 34 besetzt und 9 vakant sind.

Nach der Abstammung waren 45 aus Deutschland, 54 waren Balten, 24 stammten aus den Residenzen und dem Innern des Reiches, 13 Pastoren waren nicht deutscher Abstammung (Schweden, Letten, Esten) und nur 15 kamen aus den deutschen Kolonien selbst. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts überwogen die aus Deutschland stammenden Pastoren, jetzt sind es nur noch zwei im Amte. In den siebziger Jahren erscheinen die ersten aus den Kolonien stammenden Pastoren, 1890 waren sieben tätig und gegenwärtig sind es ihrer elf – ein Drittel der Gesamtzahl. Pastor Meyer ist der Meinung, daß der Ablauf des ersten Jahrhunderts der evangelisch-lutherischen Kirche Südrußlands auch innerlich einen Wendepunkt bedeute. Die Geistlichen aus  den deutschen Ländern und die Balten hätten ihre geschichtliche Rolle erfüllt, jetzt kommt die Reihe an die Geistlichen aus  der Mitte der Kolonisten selbst.

Es war zu Ansang des 19. Jahrhunderts für die Seelsorger eine überaus schwere Zeit. Das Synodalprotokoll des ersten Bezirks vom Jahre 1839 spricht von den „mancherlei Trübsalen, die die ersten Pastoren zu erdulden hatten, und daß sie sehr kümmerlich leben mußten“.

Von besonderer Bedeutung war die Wirksamkeit der Basler. „In der Person der Missionszöglinge hatten die Kolonien christgläubige, fleißige, anspruchslose Seelsorger erhalten. Sie haben sich das Vertrauen der Gemeinden in hohem Maße erworben und konnten sich auch viel besser in die Verhältnisse hineinfinden . . . Besonders unter den pietistisch gesinnten Schwaben fanden die ehemaligen Missionszöglinge mehr Anerkennung als die immer noch mit dem alten Rationalismus ringenden Theologen. Und in späterer Zeit nahm wieder der Umstand für die Basler ein, daß sie weniger streng in konfessioneller Hinsicht waren als die Dorpatenser, die zu Füßen eines Sartorius, Philippi, Kurtz und Keil gesessen hatten.“

Mit den vorstehenden Angaben und Hinweisen will ich mich begnügen und denke, daß sie für den Meyerschen Aufsatz Interesse erwecken werden.

Zum Schluß möchte ich noch auf  eine Quelle hinweisen, die, allem Anschein nach, Pastor Meyer noch nicht verfolgt hat und die gerade für das biographische Material eine der wesentlichsten Stützen ist: das sind die genealogischen Beziehungen der einzelnen Pastoren. Der Zusammenhang mit der Zeit wird ja erst durch diese Beziehungen völlig klar. In einer großen Anzahl von Fällen wäre dieses Material nicht allzu schwer zusammen zu bekommen. Zum mindesten wäre es für die gegenwärtig tätigen Pastoren doch mit Leichtigkeit zu haben. Auf diese Weise würde der Verfasser noch vollständiger seiner Aufgabe genügen. Er sagt: „Wie sie (die Pastoren) waren und wie wir sind, darüber steht einem, der sich selbst mit Stolz Kolonistenpastor nennt, kein Urteil zu. Aber wer wir sind und wer unsere Amtsvorgänger waren, darüber dürfen wir wohl eine Auskunft geben.“ Die Erforschung der Familiengeschichte jedes einzelnen Geistlichen wäre sicherlich eins der wichtigsten Mittel zur befriedigenden Lösung dieser vom Verfasser sich selbst gestellten Ausgabe.


[1] Vgl. meinen Aufsatz in Deutsche Erde 1910, Heft 1.; s. auch meinen Aufsatz über „Deutsche im Kaukasus“ in Zeitschr. f. Kolonialpolitik, Kolonialrecht u. Kolonialwirtschaft, Berlin, 1910, Augustheft.

[2] Redaktion: Pastor G. Hillner in Pinkenhof. 82 S. Riga, Jonck u. Poliewsky.

[3] Odessa 1902, Druck von A. Schultze, Langerronstr. Nr. 36. Der Betrag ist für ein zu gründendes Pfründhaus des Kirchspiels bestimmt. Der Verfasser hat u. a. das Pfarrarchiv und die einschlägigen Akten des Zentralarchivs der Flotte des Schwarzes Meeres benutzt.


Deutsche Erde, 1911, S. 102-103.