Geschichte der Wolgadeutschen

ERZÄHLUNGEN WOLGADEUTSCHER
SOWJETSCHRIFTSTELLER


ORION

„SOLL WOSE!“[1]

(Bilder aus Schöntal)

Schöntal ist ein schönes Dorf und hat bunt bemalte hölzerne Häuser.

Schöntal ist ein großes Dorf und liegt am Jeruslan. ’s soll awer immer noch wose.

Schöntal ist ein reiches Dorf und hat einen Wochenmarkt. Auch einen Jahrmarkt.

Schöntal hat Aussichten; denn der Markt wächst von Jahr zu Jahr. „He soll wose“, freuen sich die Schöntaler und laufen den „Mär“ auf und ab.

Nur ist schon lange Streit, ob er draußen, drunten oder drinnen im Dorf wachsen soll. Der Bequemlichkeit halber soll er drinnen wachsen, neben der Schule.

Er war erst auf dem Freiplatz bei der Kirche. Doch nach den Markttagen blieb immer Unrat zurück, der großen Gestank verbreitete.

Auf der Kirche oben halten sämtliche Raben täglich Sitzungen ab und beschmutzen die Kirche sehr. Der Kirchenvorsteher hat alles Blech vom Schulhause geschleppt, hat alle Löcher zugestopft, so daß die Kirche aussieht wie ein Damebrett, aber immer wieder kommen die Raben hinein. So wurde die Kirche ganz stinkig und der „Mär“ wurde mit seinem Gestank neben die Schule verlegt.

Wenn in Schöntal ein Feuer ausbricht, so ist die „Spritz“ zum Löschen da. Auf klotzigen Wagen steht sie in der Scheuer, die der Büttel zugeschlossen und zu der er den Schlüssel verlegt hat.

Bei der Spritz steht im Sommer ein Kamel und oben im Dach liegt ein „Feuerwächter“. Beim zweiten Sturmglockenschlag ist er unten, hängt die Spritz dem Kamel an die „Schoren“ und sucht sich ein Stück Dings.

Das Kamel macht ein Geschrei, und man kann die Spritz auf drei Werst weit hören.

Auch stehen zwei Ochsen bei der Spritz und fressen Heu. Wenn man sich zwei Igel vorstellt, rund und dick, die im Dreck herumgekullert wurden, so hat man das Bild zweier Schöntaler Zuchtochsen. „De solle wose“, meinen die Schöntaler vergnügt.

Die Konsumbude hat 6000 Rubel Gewinn gehabt. Davon wurden 5 Rubel für die Schule und 3 Rubel zur Kooperierung der armen Bevölkerung bestimmt. „Die sellen sich was — — —,“ sagte der Vorsitzende, und das Geld bleibt in der Bude, „’s soll wose“, das Kapital.

Der Bauernverband ist ins „Gehäng“ gekommen. Wenn der Jakow Jwanitsch abkommt, kommt dr Jwan Jaklitsch dran kommt der ab, so kommt der Iwan Iwanitsch dran. Als der G. Revident war, hat der B. mit Schnaps gehandelt, als aber der B. Vorsitzende war, hat der G. Weizen gekauft. Nun ist der G. Vorsitzender und der B. Revident. In der Kasse liegt Papier, das Geld ist fort im „Gehäng“. „’s soll wose“, das Geld, drum muß es von Hand, zu Hand. Und es wächst wie dem Dickkopf sein Schwanz.

Der Sch. hat 66 Faden Dach, und er ist Mittelbauer. Vor Jahren hatte er nur 33 Faden Dach und war ein Armer. „He soll wose“, sagten die Schöntaler und wählten den Sch. zum Kirchenvorsteher.

Er wuchs zum Mittelbauer heran und baute sich eine neue Wirtschaft von 66 Faden. Die 33fädige verkaufte er der Kirche. Der Pastor fühlte sich wohl und pflanzte Apfelbäume auf die leeren 33 Faden.

Nun ist der Pastor ab, und die Wirtschaft ist herrenlos. Da meinte Sch., daß ihm 33 Faden ausreichen zur Kamelezucht. Auch braucht man keine Pfosten eingraben; man kann die Kamele an die Bäume binden. Nicht mit Ketten, sondern mit Stricken, damit die Bäume nicht verschädigt werden: „de soll noch wose“.

Als die Kamele die Bäume aufgefressen hatten, wurden sie munter und bockten durch die Alleen des gewesenen Pastorengartens, bis die Mauern (wollte sagen Wände) umfielen.

Da die Wände Eigentum des Staates sind, so wollte Sch. dieses mit seinem Vermögen nicht vermischen und stellte sie so, wie man im Winter Wegweiser am Weg steckt.

Ein Junge kam daher gelaufen und wollte sich den Kameletanz ansehen. Kaum hatte er die Nase in den Ritz gesteckt, so fiel die Wand um und schlug ihm ein Bein ab.

Sofort wurden die besten Pferde angespannt und nach R. gefahren. In R. wohnt ein Doktor, der ist weit und breit bekannt. Dieser Doktor wurde nach Schöntal gebracht, um dem Jungchen das Bein zu heilen. Er nahm drei Stäbe, band sie in den drei höchsten Namen über das Bein des Kindes und schmierte Kuhmist darauf; es nimmt den Brand.

Sch. bedauerte das arme Kind und die armen Eltern und brachte einen Stümmel Milch und ein Stück Kalatsch zum Essen: „’s soll wose“, das arme Kerlchen.

(„Nachrichten“, Nr. 12 vom 16. Januar 1927)


[1] Soll wachsen.


Erzählungen wolgadeutscher Sowjetschriftsteller. / Hrsg. von J. Sinner.
1. Sammelband. 1917-1929. – Engels: Deutscher Staatsverlag, 1933, S. 89-91.