MENSCHENFREUNDE
Vetter Karl war schon bei Jahren, hatte aber keine Kinder. Er und seine Frau hatten schon oft davon gesprochen, wenn sie Kinder sahen. Alle haben Kinder, ja zu viel, und sie sind nicht arm, aber haben keine.
Sie haben manchmal darüber gesprochen, ob sie sich nicht einen Erben annehmen sollten. Es wird doch schlimm werden, wenn sie mal nicht mehr arbeiten können. Wer wird sie pflegen? Gut, wenn sie gesund bleiben, aber wenn sie schwach und kränklich werden! Dann geht’s ans Verleben, dann ist das bißchen Vermögen bald alle. Immer mehr Sorgen machte ihnen ihr nahendes Alter, und doch fanden sie noch keinen passenden Erben.
Vetter Karl hatte einen Bruder, der in den Krieg gezogen war. Zu Hause blieb die Mutter mit ihrem Jakob, mit dem sie die ganze Last der Wirtschaft übernehmen mußte.
Tag für Tag mußte sich die Frau sauer quälen, um ihre Wirtschaft zu erhalten, Jakob unterstützte sie tüchtig.
Er ging nicht mehr in die Schule, er arbeitete zu Hause, denn er war der einzige Mannskerl im Hause. Doch ein Unglück kommt nie allein.
Der Vater schreibt gar nicht mehr. Die Mutter lag krank. Es war niemand, der die schweren Arbeiten verrichtete. Aber Jakob war noch zu klein, und da mußte die Mutter, trotz der Krankheit, aufstehen und arbeiten. Doch es ging nicht lange, sie stieg nicht mehr aus dem Bett, Jakob lief zum Arzt, doch dieser kam nicht. Jakob klagte seine Not seinem Onkel, dem Vetter Karl, doch dieser hatte keine Zeit und konnte mit dem besten Willen nicht hinüberkommen und konnte auch nicht helfen. Jakob wollte die Mutter zum Doktor bringen, aber sie konnte nicht mehr laufen und mußte sterben, ohne jemals im Leben einen Doktor gesehen zu haben.
Jakob weinte bitterlich. Er wußte nicht, wen er jetzt um Rat fragen sollte, oder wer ihm bei der Arbeit helfen wird. Er hatte so oft erfahren, daß ihm niemand hilft. Wenn ihm ein Wagenrad herausgegangen war, wenn er ein Kummet nicht zubinden konnte, so wurde er immer ausgelacht: „Du Mattherziger!“ Und nur der Vater und später die Mutter haben ihm aus solchen Verlegenheiten herausgeholfen. Die Nachbarsleute nie. Jetzt aber war kein Trost mehr da. Der Vater ist im Krieg und kommt nicht mehr und die Mutter wird ins Grabloch gelegt. Jakob weinte.
Vetter Karl war gesund und wohlhabend und hatte keine Kinder. Er konnte seines Bruders Kind, seinen Blutsverwandten, nicht zugrunde gehen lassen. Er nahm Jakob samt all dem Vermögen zu sich und hatte nun den gewünschten Erben. Jetzt war ihm geholfen in seinen Alttagen. Einen Wohlstand und den Jakob einen gesunden, fleißigen und klugen Jungen. Bis Vetter Karl und seine Frau alt sind, ist Jakob groß und kann die Wirtschaft übernehmen, sie aber können in die vorderste Stube ziehen und ruhig leben. Ja, jetzt kann das Alter kommen!
Und es war eine Freude der Alten, wie Jakob eine Arbeit nach der andern auf sich nahm und die Alten in Ruhe ließ.
Da kam die große Mißernte. Vetter Karl war gezwungen, Vieh abzuschaffen und Brot zu kaufen. Das nächste Jahr brachte ganz und gar nichts ein, auch keine Gemüse. Im Herbst stand das letzte Mehl in der Stube und die letzten Kartoffeln unter dem Bett. Das letzte Schwein und das letzte Schaf wurden abgeschlachtet. Es war zum verzweifeln.
Vetter Karl war sein Leben noch nicht so arm wie jetzt, er hatte nie so wenig Vieh wie in diesem Winter und doch reicht ihm das Futter nicht. Was tun? Das Vieh mit dem Futter abschaffen oder noch warten. Aber es reichte alles nicht. Wenn der Jakob nicht da wäre, würde es schon besser ausreichen. Der Kerl hat auch immer Hunger! Wenn nur nicht das Alter... Aber es reicht alles nicht und, der Jakob will essen. Fort muß der Jakob, damit alles besser ausreicht.
„Jakob, mach dich in die Stadt, vielleicht kriechst du einen Dienst. Es fällt mir schwer mein Kind, aber, es hilft alles nichts, es reicht nicht aus, wir müssen doch noch verhungern“,
Und Jakob steckte sein bißchen Essen in die Tasche und ging fort. Er ging in das nächste Dorf, ging weiter. So lief er zwei Tage von Ort zu Ort und ward ganz müde. Niemand brauchte Dienstleute, und niemand wollte ihm was zu essen geben. Aber er spürte argen Hunger. Auf der Landstraße kamen Fuhrleute mit Getreide. Diese wollten ihn ein Stück Wegs mitnehmen.
So saß nun Jakob auf den Säcken und dachte darüber nach, wo er um einen Dienst anfragen soll, wo er ankehren könnte, um etwas zu essen. Ein Sack hatte ein kleines Loch, so daß man Körner herausdrücken konnte. Jakob bohrte mit seinem Finger Körner heraus und steckte sie in den Mund.
„Was machst du, du Nichtsnutziger! Seh’ mal, der Kerl hat sich eine Handvoll Körner aus dem Sack herausgebohrt! Schaff daß du mir aus den Augen kommst!“ Und der Fuhrmann bekräftigte seinen Ernst mit der Peitsche.
Jakob stand nun neben dem Weg und würgte Tränen hinunter. Sein Magen war ganz leer, und die Peitsche des Fuhrmanns hatte großen Schmerz verübt.
„Wenn es doch der Fuhrmann nicht gesehen hätte“, dachte Jakob und ging langsam dahin, um einen andern Transport abzuwarten.
Jetzt war er klüger geworden, er hatte Menschen kennengelernt. Jakob wanderte von Ort zu Ort, von Markt zu Markt. Er fror und hungerte. Er begegnete so manchen seinesgleichen, die geradeso lebten, wie er.
Sie erzählten sich die Ereignisse, teilten ihre Erfahrungen, und schimpften die „Leute“. Es war allen so unbegreiflich, daß es überall Brot, aber keins für sie zu essen gab. Und das kam nach ihrer Meinung daher, weil sie keine Eltern haben, die ihnen zu ihrem Recht verhelfen könnten. „Wer Eltern hat, der kriecht Brot zu essen“, sagten sie.
Sie waren schon in so manchem Komitee, in so manchen Anstalten, aber sie bekamen nie Bescheid, wurden oft einfach hinausgejagt.
Jakob war einmal in einen Keller geschlichen und hatte Kartoffeln in seiner Tasche mit fortgenommen. Er wurde bei der Tat ertappt, durchgebläut und in den Sowjet geschleppt. Dort wurde aufgeschrieben, daß er ein Dieb sei und eingebrochen hatte. Solche Kerle mußten aus dem Dorf, damit die „Leute“ ruhig leben könnten.
So kam Jakob in die Miliz. Dort wurde er eingesteckt. Sofort kam ein junger Mensch, fragte ihn freundlich, wo er herkomme und was los sei. Nachdem Jakob alles aufrichtig erzählt hatte, wurde er mitgenommen und in ein großes Haus gebracht. Dort wurde er freundlich aufgenommen, gewaschen und rein gekleidet, dann wurde ihm' ein Bett angewiesen. Auch zu essen bekam er.
Jakob schien es ein Traum. Hier waren viele Kinder und keine hatten Not, alle waren fröhlich und froh. Sie haben gelernt, gespielt und gearbeitet, niemand hat sie beleidigt, nicht einmal gestört. Alle haben mitgeholfen, alles würde in Ordnung gehalten, aber niemand war verkürzt.
Eines Tages kam ein Genosse und sagte: „Jakob du, kannst nach Hause, deine Sache ist beendet“.
Jakob kroch in die Ecke und weinte. Wo soll er denn hin? Der Onkel will ja das Brot alles essen die „Leute“ geben ja auch nichts, und wenn man sich was nimmt, kriecht man Schläge und wird Spitzbube geheißen. Tag um Tag nichts zu tun und herumlaufen und hungern, und er hatte doch immer so gerne gearbeitet, der Jakob. Er würde so gerne schaffen, Hof kehren, Stall misten, Wasser holen, alles was er kann, und niemand sollte ihn schelten.
„Warum weinst du, Jakob? wenn du bei uns bleiben willst, kannst du bleiben, brauchst es nur zu sagen“.
Jakob hätte den Genossen umarmen können. Er hatte genug und war glücklich, er konnte hierbleiben. Er will alles tun, er will arbeiten, so viel man von ihm verlangt, er will bereit sein.
Jakob wollte gerne Aufschluß haben, ihm war nicht klar, wer ihn hier aufgenommen hat. Ein fremder junger Mann hat ihn hierher gebracht, andere haben ihm geholfen, niemand hatte ihm etwas gegeben und doch hatte er alles, was er brauchte. Von wem? Der Vetter Karl hatte ihn zu sich genommen, als er genug hatte. Als das Brot aber knapp geworden war, hat er ihn wieder fortgejagt, die „Leute“ haben ihn geschlagen. Der Sowjet hat ihn einsperren lassen... Ist er denn eingeschmissen? Das konnte er nicht begreifen.
Täglich wurden Kinder gebracht, große und kleine. Zerlumpt, krank und ausgehungert, aber immer wurden sie freundlich behandelt.
Jakob mußte fort, es war kein Platz mehr da, und es sollten neue aufgenommen werden. Traurig folgte Jakob dem Ruf eines Genossen. Er wußte nicht wohin, war aber schon zufrieden, daß es nicht nach Hause ging.
Sie kamen in ein ebensolches Haus, dort waren ebenso viel Kinder, aber alle von seinem Alter. Auch viel geräumiger war das Haus. Hier sollte er bleiben.
Es war auch hier gut, er blieb gerne.
Jakob hat hier mitgelebt und alles beobachtet. Er war immer fleißig und überall zugegen. In der Schule, auf dem Hof, in der Werkstelle, auf dem Felde, überall.
Spiel und Arbeit, Freude und Sorgen, alles hat er mit allen geteilt. Er hat alles kennengelernt, die Leute und die Ordnung. Er hat sich in der kommunistischen Kindergruppe einschreiben lassen, er war der fleißigste unter allen, keine seiner Pflichten hat er versäumt, und alles, was er gelernt und begriffen, hat er den andern mitgeteilt.
Den Unterschied im Leben: einerseits tierischer Kampf ums Dasein, wo der Einzelne sich erhalten will, und alle darunter leiden, andererseits geschlossener Kampf in geschlossenen Reihen, wo jeder an seinem Ort das Seinige tut und so alles leichter geschaffen werden kann.
Er will hier arbeiten. Er geht nicht zum Vetter Karl, er bleibt hier, zusammen mit seinen Genossen.
Jede Versammlung der Jugend besucht Jakob, nimmt regen Anteil, lernt wirken und schaffen. Eines Tages kam derselbe junge Mensch, der in die Miliz gekommen war um Jakob abzuholen. Er referierte hier über die Lage der Jugend, über die Lage im Dorfe. Er schilderte den Unterschied im Leben, wie einerseits tierischer Kampf vor sich geht, wo der einzelne sich auf Kosten des anderen erhalten will, alle aber darunter leiden; wie andererseits Kampf in geschlossenen Reihen geführt wird und alles dadurch leichter geschaffen werden kann.
Auf der nächsten Jugendversammlung bittet Jakob um Aufnahme in den Jugendverband. Er äußerte all seine Gefühle und wies darauf hin, daß Kinderrechtschutz, daß die Kinder- und Jugendorganisation bis aufs allerletzte Dorf hinausgetragen werden müssen, daß die Agenten des Kinderrechtsschutzes ganz wichtige Jungen sind und hoch geschätzt werden müssen. Auch die Aushängeschilder an Aufnahmestellen für Obdachlose müssen groß gemalt werden, damit nicht alle solange suchen müssen, wie er herumgelaufen ist.
(„Unsere Wirtschaft“, 1927, Nr. 13‒16)*)
Erzählungen wolgadeutscher Sowjetschriftsteller. / Hrsg. von J. Sinner.
1. Sammelband. 1917-1929. – Engels: Deutscher Staatsverlag, 1933, S. 85-89.
*) Diese Information ist fehlerhaft. Wir haben alle Ausgaben der Zeitschrift „Unsere Wirtschaft“ für alle Erscheinungsjahre von 1922 bis 1927 durchgesehen und es stellte sich heraus, dass dieses Werk nie in der Zeitschrift veröffentlicht wurde. – Anm. von A. Spack.