Geschichte der Wolgadeutschen

ERZÄHLUNGEN WOLGADEUTSCHER
SOWJETSCHRIFTSTELLER


CHR. ÖLBERG

GUTTELS JAB

Sonnabend ist der Tag, den auch das Kleinste am besten kennt. Als ich noch keinen Begriff von der Woche und den einzelnen Tagen hatte, wußte ich doch schon, wenn es Sonnabend war.

Wenn wir früh aufstehen und die Stühle auf den Tisch stellen mußten, wenn unser Date aus dem Haus eilte und unsere Mama uns mit nassen Lumpen schlug, dann war’s Sonnabend.

Diesen Tag hatten wir nicht gern; da durfte man nicht mit Stiefeln in die Stube gehen, und der Kopf wurde mit scharfer Lauge gewaschen. Doch, daß danach ein Sonntag kommt, das war ein Trost; denn da gab’s Kännjetee und Kalatsch oder Kuchen.

„Uf! uf!“ schrie jemand eines Sonnabendmorgens. Als ich die Augen und Ohren öffnete, sah und hörte ich, wie der Date die Schere mit dem Feuerstahl wetzte. Im Nu war ich ganz munter und stand auf den Beinen, denn am Sonnabend gab’s immer kurzes Federlesen.

Der Vater knapste mit dem Scherchen, was soviel heißen sollte wie: „Kommt her, es geht ans Scheren!“

„Wart doch noch ein bißchen, ich bin noch gar nicht fertig mit dem Teig“, rief die Mutter. Sie hatte immer noch das Muldentuch vorgebunden.

„Ist keine Zeit, Mutter, weißt doch, daß wir Besuch erwarten. Du wirst dich doch nicht im Dreck antreffen lassen wollen. Was sollen die Leute dazu sagen.“

„Ich bitt dich, die Katharinestädter, die schlafen sich erst aus. Die und des Frühaufsteigen waren noch keine gute Bekannte. Wir werden doch noch hundertmal fertig, bis die kommen“.

„Desto besser.“

Die Sprößlinge wurden einer nach dem andern geschoren und hinausgewiesen! „Bleibt draußen, bis ihr gerufen werdet, wann’s euch friert, geht in den Stall.“

Schöne Krümmelkuchen in Stückchen geschnitten, standen auf Tellern im Küchenschrank, auf der Glut dampfte die Kaffeekanne. Alles war sauber und geordnet. Die Mutter hatte eine reine Schürze vorgebunden; sie suchte, ob nicht irgendwo noch was nachgeblieben wäre, was auffällig hätte sein können. Der Vater hatte seinen „Suntagskoft“ und seine Wadenstiefel mit Glanzgaloschen drüber angezogen. Er schaute ungeduldig nach dem Fenster.

Er wartete auf den Karp Karpitsch, den Walkermeister von Katharinenstadt. Dem hatte er einen Jungen vermacht, seinen Jab.

Vater hatte sieben Jungen, wenig Land und wenig sonstige Habe, da sollte der Junge was lernen, damit er sich einmal anders ernähren könne. Für die Bauerei war er auch nicht geeignet. Jab war „tapplich“, drum sollte er walken lernen.

Der Vetter, so sollte der neue Herr genannt werden, der Vetter kam ihn abholen.

Zuvor gehts ins Kreishaus. Dort wird der Kontrakt gemacht und dann—„adjes, Jabje, sei nor brav, vier Jahr sind bald rum.“ Ja, wer denn Kern genießen will, der muß die Nuß erst knacken.

Jab wußte, daß er hier nicht mitreden durfte. Er wußte schon lange, daß er ein Handwerk lernen sollte, daß er in der Bauerei für überflüssig anerkannt wurde: Er war auch gar nicht überrascht, als ihm am Tage zuvor mitgeteilt wurde: „Du bist an den Walkermeister in Katharinenstadt vermacht.“ Dies hat ihn nicht mehr getroffen als: „Morgen machst du mit den Gäulen in die Wiesen!“ Der Vater ordnete immer an, Mutter und Kinder gehorchten. Gleichgültig verrichtete er auch diesen Morgen seine gewohnte Arbeit, bis er angerufen wurde: „Jab wäsch’ dich und zieh dich an.“

Die bevorstehende Scheidung machte ihm nicht die geringste Mißstimmung, nur war er in Verlegenheit, ob er „Adje“ sagen soll oder nicht, ehe er abfährt. Er fährt keinen gewöhnlichen Weg, er scheidet von der Bauerei, er wird Handwerker, kommt in die Stadt, ist schon „ledig“ und dgl. Gedanken bewogen ihn, „Adje“ zu sagen.

Es war schon spät abends, als sie nach Katharinenstadt kamen. Jab war von zu Hause aus zu schlafen gewohnt, wo und wie es sich eben schickte: auf den Dielen in der Stube, auf dem Stallboden, unter oder auf dem Wagen, im Walde oder auf der freien Steppe. Er schlief daher bald auf dem Wagen ein, der ihn auf lange Zeit in die Fremde geführt hatte, und erwachte erst am Morgen spät auf demselben Wagen in einem fremden Hofe.

Er hielt Umschau. Haus, Hof, Scheune, Stall, Werkstelle — alles war rein und in bester Ordnung, so daß er sich hier ordentlich behaglich fühlte. Alles war im fremd, doch die feierliche Umgebung an diesem Sonntagmorgen wirkte wohltuend auf ihn ein, so daß er kein Heimweh fühlte. Er konnte sich leicht in die neuen Verhältnisse einleben, die, wie auch die Behandlung, nach seinen Begriffen, ganz leidlich waren. Alle „Lehrjungens“, deren der Meister mehrere hatte, mußten gleichzeitig zusammen essen, damit nicht einer das Oberste herunterschöpfte. Zu großen Fasten gab’s Gutes; die „Wess“ machte Kaffee und frische „Lepeschka“, der Vetter gab 5 Kopeken und den guten Rat: „Besauft euch nicht und stellt kein Unheil an.“

Bei Licht wurde nur Winters gearbeitet, im Sommer nur von Hell bis Dunkel. Dann wurde die Arbeit eingestellt. Stall und Hof aber wurden bei Mondschein besorgt. Die Unmassen Schmutz, die sich bis ans Ende der Woche angesammelt hatten, wurden jeden Sonnabend mit Aufwand aller Kräfte wieder hinausbefördert, wobei der Vetter oder die Wess recht mörderlich über die kleinsten Fehlgriffe schimpften.

In der Fachstube war’s am schönsten: zwei Fenster und ein Plitchen, hell und warm, — hatzi! bloß ein bißchen eng und — hatzi! und hatzi! staubig, aber gegen das Zimmer draußen, wo der große Bogen war, war’s wie im Himmel. Den „Bläser“, der den großen Bogen geschlagen, konnte man nicht sehen, nur „drm, drm, drm“ hörte man in der dicken grauen Staubwolke.

Der „Bläser“ nahm einen Heuwisch, um sich den Staub aus dem Gesicht zu putzen, und sah nach, ob die Sonne noch am Himmel steht.

Die Walkerstube war am wärmsten und ohne Staub. Aber sie war so niedrig, daß der schwarze David darin krumm gehen mußte. Der Kessel, der acht Walktische mit Arbeit versah, kochte immer, Damit es aber nicht zu heiß würde, hatte der Vetter, anstatt Fenster, ein Fensterloch gelassen, durch das die frische Luft eindringen konnte, die sich sogleich in dicken Qualm verwandelte.

„He, Jungens, seid ihr all da?“

„Ja, ja!“

„Wir walken dem Vetter ein neues Haus, der Wess, eine Pianine.“ So drudelten die Jungen, wenn der Vetter nicht in der Nähe war.

Jab war bald beliebt beim Vetter und auch bei der Wess, denn er war fleißig, mit allem zufrieden und ging niemals aus dem Haus. Fast jeden Sonnabend ging er nach seinem Dorfe, um dort den Sonntag im Kreise seiner Familie zu verbringen.

Mit den Lehrjungen vertrug er sich einigermaßen, strich aber niemals mit ihnen in der Stadt umher.

„Er ist brav, er nimmt guten Rat an, er wird ein guter Meister und kann seinem Vetter unter die Arm greifen“—das war die Meinung des Vaters, das war auch die Meinung der Eltern.

Jab konnte sich auch nichts besseres denken, als eine Werkstätte zu errichten, wenn die Lehrjahre um wären.

Er ließ sich aber auch gerne von Jos erzählen, wie die Walker in großen Werkstätten in den großen Städten arbeiten, wo er selbst schon gearbeitet hat. Jab lauschte aufmerksam, wie man da ganz anders lebt. Man hat kein Land, kein Vieh und lebt jahrein, jahraus nur vom Lohn.

* * *

Tag um Tag, Woche um Woche flössen dahin. Jab hatte endlich alle Weisheiten des Walkers weg. Er konnte die großen Mannsstiefel und die zartesten Filzstrümpfe walken. Er war ein Meister.

„Bald, bald, Junge hast du ausgelernt. Dann machen wir unsere eigene Walkerei auf“, sagte der Vater: „Die Jungens können im Winter helfen. Wann’s geht, kannst de d’r auch Lehrjungens nehmen. Das schlimmste wird der Anfang sein.“

Eines Sonnabends packte Jab all seine Siebensachen zusammen, verabschiedete sich umständlich vom Vetter, von der Wess und den Kameraden. Er ging nach Hause, um nicht mehr zurückzukommen. Vier Jahre waren um.

Bald war daheim der Schafstall zur Werkstelle eingerichtet. Der Waschkessel wurde eingemauert, eine alte Tür auf Hackklötzen war der Tisch, und das Walken ging los.

Eine Stange über dem Tor mit einem darangebundenen Filzstiefel zeigte: Hier die Walkerei des Guttels Jab.

* * *

Die Walkerei des Guttels Jab war bald weit und breit bekannt- Die Leute fragten auch immer nach dem Guttels Jab und nie nach seinem Date. Der Date vermutete in jedem Fremden, der gegen sein Haus kam, einen Besteller und fragte ihn: „Gelt, Ihr sucht nach Guttels Jab? Kommt nur, ich bin sein Date.“

Sack auf Sack häufte sich die Wolle, besonders zu Herbstzeiten, so daß sie kaum unterzubringen war. Nun war auch keine Not mehr an Bargeld. Es lag in der „Beilade“ des Kastens und wurde argwöhnisch vor fremden Blicken bewahrt. Desto öfter und aufmerksamer musterte es der Date: „Bald ist ein Hunderter voll.“

„Einer ist voll“, sagte er eines Tages, nahm die Bibel vom Bettkranz, legte den „Hunderter“ hinein und steckte die heilige Brieftasche unten im Kasten unter der Mama ihren Kragenpelz.

Nach den Einkünften wurde auch der Jab geschätzt. Er bekam guten Kaffee und aß immer „drüber“, niemals am allgemeinen Tisch. Er wäre gar nicht mehr so tappich, behaupteten die Mutter, der Vater und alle Leute.

„Ein Hunderter ist wieder voll, Jab, jetzt können wir uns Land kaufen wenn wir gut ankommen.“

„Ihr wollt’s Geld schaffen lassen?“

„Ich sorge für dich, für keinen andern.“

* * *

Die Karmänner verkaufen jeden Herbst ihren Weizen bis auf den letzten Kern. Zu Ostern backen die Frauen noch einmal Kuchen, und wenn der Sommer kommt, ist kein Kochmehl mehr da. Die Händler wissen das und bringen beim Hochwasser Mehl über die Wolga und den Karaman herauf.

Nun passierte einem ein Unglück : das Mehl wurde bei der Überfahrt naß, deshalb fand es keine Abnehmer. Das Wasser ging schon zurück und das Mehl war noch nicht verkauft.

Alle „Schenik“ fließen ab, nur das mit dem nassen Mehl noch schwer beladene konnte den Rückweg nicht antreten. Der Mehlhändler bot überall, auch in den Nachbardörfern Mehl feil, erst für einen mäßigen, dann für einen billigen Preis.

Der Date öffnete noch einmal den Kasten, betrachtete die Bibel, schloß den Kasten wieder ab und steckte den Schlüssel in die Tasche.

Er ging ans Wasser, um zu sehen, ob das Wasser zurückgehe. Das Schwemmzeug am Ufer überzeugte ihn, daß das Wasser schon stark zurückgegangen war. Er wollte auch das Riesenboot betrachten. Als Bauer hat er mit Handel nichts zu tun... Aber billig kaufen, warum nicht?

„Kennt ihr wirklich nicht mehr fort? Ei-ei-ei... Natürlich, das Mehl v’rkaufen, damit ihr fortkommt, sonst weiß ich keinen Rat.“

Der Prassler möchte ja das Mehl für den halben Preis losschlagen, wenn sich Käufer fänden.

„Ich tät’s schon nehmen, wenn ich Geld hätte, aber Geld hab ich keins, außer ich krieg gelehnt. Wenn ihr noch was nachlaßt, können wir vielleicht ein Geschäft machen. Im Dorf ist’s doch schwer, Geld aufzutreiben.“

Für den Prassler war auch das schon eine Erleichterung und das Geschäft war bald abgemacht.

Die Leute von der Barke begannen mit allem Eifer das Mehl auszuladen. Beim Auszahlen wurde noch eine Weile gezankt, denn Jabs Vatter hatte die verabredete Summe nicht ganz auftreiben können, dann zogen sie ab.

Man hatte noch lange im Mehl herumzuarbeiten, das trockene vom nassen zu teilen und die Säcke auszureiben.

Jeder bekam zu fühlen, daß viel Mehl da war, auch der Braune. Die Mama kochte nun Klöße und der Braune bekam „Mesit“ vom Staubmehl. Soviel Mehl auf einem Haufen hatten Guttels noch nie gesehen. Nun gab es lauter Kalatsch, als ob immer Ostern wäre, wogegen sonst nur Brot auf den Tisch kam. Der Kalatsch war freilich ein bißchen „stockig“, aber man dachte: „Wahrscheinlich müssen gute Kalatsch so schmecken.“

Als die Ernte beikam, hatten die Leute kein Mehl mehr, so daß sie genötigt waren, bei Guttels Mehl zu holen. „Diese Ernte ist gewiß,“ sagte der Date, wog fleißig Mehl und machte mit Kreide Striche im Ambar. Die am Türpfosten, das waren die aus der „Hinnereck“, die Striche in der rechten Ecke waren die Oberdörfer und so fort. Wenn die Striche auch für andere Hiroglyphen waren, so konnte sie der Date sehr gut lesen.

„Hanfriedrich, du bist mir anderthalb Pud Mehl schuldig. Guck, hier steht’s geschrieben.“ Es war ein großer und ein kleiner Strich. Hanfriedrich bekannte sich zu der Schuld.

„Ihr habt das Mehl zu lauter Strich gemacht“, sagte Jab, zum Date: „Jetzt wollt ihr die Striche wieder zu Mehl machen?“

„Ich hab’s schon zusammen gezählt, es gibt mehr, als es erst war“, und der Date rieb sich die Hände.

„No? Noch mehr?“ wunderte sich Jab, „was man doch machen kann, wenn man Geld hat“.

(„Unsere Wirtschaft“, 1924, Nr. 12, 14)


Erzählungen wolgadeutscher Sowjetschriftsteller. / Hrsg. von J. Sinner.
1. Sammelband. 1917-1929. – Engels: Deutscher Staatsverlag, 1933, S. 81-85.