Geschichte der Wolgadeutschen
Deutsche Post aus dem Osten
Herausgegeben von Adolf Eichler und Carlo von Kügelgen
Nr. 12 Dezember 1928

„Leise rieselt der Schnee“

von Kamilla Sinner, Leningrad.

Advent! — Der kleine Bube hat sich leise vom Klavier, wo Mutter und Brüder Weihnachtslieder singen, weggeschlichen und steht nun am Fenster, drückt die Stirn an die kalten Scheiben und schaut hinaus in den dämmernden Wintertag, in die rasend durcheinanderwirbelnden Schneeflocken, die der Sturm ans Fenster peitscht und zu dichten Kissen auf dem Simse zusammenballt. Bis morgen, das weih der Bube, ist ein gut Teil des Tageslichtes von diesen Schneewällen abgesperrt. Dann ist’s in der Schulstube so dämmrig weih. Die kalte Klassenluft liegt schwer in den Gliedern. Die Kameraden, die sich beim Eintreten mit lautem Getrampel den dicken Schnee von Filzstiefeln, Pelzmänteln und Flügelkappen Klopfen, sind gar nicht wie sonst zu losen Streichen aufgelegt, als wenn ihre frohe Laune draußen im Schnee, den sie auf dem oft so langen Schulwege durchwaten muhten, stecken geblieben wäre.

„Leise rieselt der Schnee . . .“, singen die Brüder hinter ihm. Es ist sein Lieblingslied, aber heute stimmt es ihn traurig, er mag nicht mitsingen. Still tritt er wieder hinter den Stuhl der Mutter, und als das Lied zu Ende ist, sagt er: „Mutti, ich habe noch nie gesehen, wie der Schnee rieselt.“ Die großen Brüder lachen: „Guck nur hinaus, ’s kommt wohl noch nicht genug Schnee für dich vom Himmel? Gelt, die Schule soll ganz einschneien, dann wär’s dir erst recht?“ Aber die Mutter versteht ihren Jüngsten. Seine Frage hat etwas in ihr geweckt, was lange, lange Jahre tief da drinnen schlief. Sie zieht ihn an sich heran und erzählt ihm von den freundlich-kalten Wintertagen ihrer Heimat, von Schneeflocken, die leicht und silbrig durch die Dämmerung rieseln, vom gütigen Knecht Ruprecht, den die Kinder dort nicht „Großväterchen Frost“ nennen, — von deutscher Weihnacht, die den Alten ebenso fest und tief im Herzen wurzelt wie den Kleinen. „Wie schön, Mutti!“ meint der Bube, und durch das feine Geriesel höre ich auf einmal von all den vergoldeten Kuppeln der Stadt das fröhliche Bimmeln der Weihnachtsglocken. Vor die Augen der Mutter senkt sich wieder der Schleier, der sie von ihrer Kindheit scheidet. Ein Weh durchzuckt sie. Ihre drei Jungen in ihre Heimat zu führen, sie dort zu Männern heranwachsen zu sehen, ist ihr Herzenswunsch. Doch wird seine Erfüllung auch ihnen das volle Glück bringen, das sie erträumt? Nein, sie weih es jetzt gewiß: Durch das Rieseln des Schnees um Advent werden sie die russischen Weihnachtsglocken klingen hören, und die Sehnsucht nach ihrer kalten, stürmischen Steppe, ihrer Heimat, wird sich wie ein Schatten auf die deutsche trauliche Weihnacht legen. Der verschneite Schulweg, das milchigweiße Dämmerlicht der kalten Schulstuben, ihre eignen Bubengestalten in Filzstiefeln, Pelzmänteln und Flügelkappen, all das wird ihnen in der Erinnerung wieder lebendig werden und ach! — so weh tun. Denn in dem Lande, das uns als Kinder gesehen, bleibt immer ein Stück unseres Herzens zurück. „Leise rieselt der Schnee . . .“


Deutsche Post aus dem Osten, Nr. 12 vom Dezember 1928, S. 256.