Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1926 № 20, 21

Alte Kolonistendichtungen
Von J. E.

Merkwürdig ist in den letzten Jahren die Zunahme von poetischen Dichtungen, die in unserer hiesigen deutschen Kolonistenpresse erschienen und aus der Feder von Wolgakolonistensöhnen stammen. Sinner, Bach, Lonsinger, Wollert, Würtz und noch manche andere bilden diesen Dichterkreis von Jungkolonisten, wenngleich er die Genannten auch nicht alle durch das Band einheitlicher Bestrebungen umschlingt, wie die früheren Dichterschulen in der deutschen Literatur ihre Jünger. Es wird einmal eine Zeit kommen, wo man von einer Geschichte der Dichtung auch in unserem wolgakolonistischen Geistesleben sprechen und ihren Anfängen nachspüren wird. Auf diese ersten Spuren unserer Kolonistendichtung sei hier die Aufmerksamkeit gelenkt.

Der jetzige Jungkolonisten-Dichterkreis hat seine Vorläufer in unseren Kolonien gehabt — entweder Schulmeister und Schreiber, oder aber auch ganz einfache Kolonisten, denen die Mutter Natur die Dichtergabe als ein freundliches Angebinde mit in die Wiege gelegt hatte. Erzeugnisse dieser alten kolonistischen Dichtung, die sich mitunter sogar zum Lied aufgeschwungen, haben unter den Volksliedern und Kinderreimen aus den Wolgakolonien von J. E. und P. S. bereits einen Platz gefunden.

Neben diesen zum Lied gewordenen Dichtungen und z. T. viel älteren Datums, gibt es noch andere, die sich mündlich oder auch schriftlich bisher im Volke erhalten haben. Ihre Spuren werden aber allmählich verwehen, wenn sie nicht bald durch schriftliche Fixierung der Vergessenheit entrissen werden. Es sind dies zum größten Teil Dichtungen religiösen, dann auch weltlichen Inhalts. Die religiösen Dichter benutzten als Vorlage und Quelle ihrer Begeisterung das Gesangbuch, versahen ihre Lieder, oder besser gesagt Gedichte, mit den Melodien des Gesangbuches und waren sehr fruchtbar. Ein in Fraktur geschriebenes Manuskript von dem Dichter des Kolonistenliedes: „Ein Schmerzensruf“, Michael Frank aus Dönhof, um 1830 Kreisschreiber in Messer und um 1848 in Holstein, weist rund 500 solcher von ihm gedichteter geistlicher Lieder auf. Ein anderes Manuskript von Christoph Karst aus Oberdorf, geboren 1833 in der Kolonie Holstein, gestorben als Siebzigjähriger, einem einfachen Bauersmann und Müllermeister, öfters Richter im Rosenberger Kreisgericht, weist über hundert solcher geistlicher Dichtungen auf, ebenfalls mit Gesangbuchmelodien versehen.[1] Ein Dichter aus alter Zeit soll auch ein gewisser Wagner in Kutter gewesen sein. Ob seine Gedichte geistlichen oder weltlichen Inhalts waren, ist uns unbekannt, da sie nicht erhalten geblieben sind.

Von weltlichen Dichtungen verdienen der Vergessenheit entrissen zu werden — wie weiter unten auch geschehen soll — mehrere Gedichte von Joh. Konrad Schütz, Vater des verstorbenen Kommissars Schütz des Älteren aus Warenburg. Er war geboren in Warenburg im Jahre 1837, früh verwaist, hatte die Katharinenstädter Kreisschule absolviert, war über 20 Jahre lang Dorfgemeindeschreiber, dann Händler, Kontorist, Repetitor in der deutschen Sprache bei erwachsenen Russen und Schülern, Übersetzer im Kreisschwurgericht, und starb in Saratow um das Jahr 1910 als ein über 70 Jahre alter Greis. Seine hinterlassenen Gedichte verraten in dem Mann einen Grübler, der in seiner Geistesrichtung unserer Zeit schon ziemlich nahe stand: neben den ethischen sind es vorwiegend sozial-ökonomische und -politische Gedanken und Fragen, die er in der Zeit des Schweigens dem verschwiegenen Papier in Gedichtform anvertraut hat. Regen Geistes bis zuletzt, lieferte er unter dem Decknamen „Ein Ausländer“ sogar noch einige Beiträge in Prosa für die frühere Volkszeitung.

Auch einige Gedichte weltlichen Inhalts von dem alten Valentin Gleim in Lauwe (Jablonowka) am Tarlyk, einem einfachen Bauersmann, geboren 1800 und gestorben daselbst 1892, sind der Beachtung wert. Eine Rednergabe soll sich schon in dem Knaben gezeigt haben, indem er beim Pferdehüten draußen auf den Steppenkippeln Ansprachen an seine Kameraden hielt, so das; sein Vater, wie jetzt noch die Enkelkinder des Dichters erzählen, dem Jungen einmal warnend zugerufen haben soll: Bou, daß eich dos neit me vun deich hair, sunst bist ball de „Feldprediger“ im Dorf![2]

In seinen älteren Jahren, als Fünfziger, war er Kreisbeisitzer im Warenburger Kreisamte. Noch früher, um die 30-er Jahre, als die Dorfschreiber noch rar waren, hat er auch längere Zeit die Schreibereien im Kolonieamte besorgt. Er sprach gern in Versen und Reimen. Seine Gedichte sind nur zum Teil gesammelt worden. Einzelne Bruchstücke leben noch im Gedächtnis des älteren Geschlechts im Dorfe fort. Er selbst hatte wohl auch Schriftliches hinterlassen, doch ist es verschleppt worden. Die meisten Gedichte sind satyrischen Inhalts, teils recht derb, wie denn auch der Alte selbst ein derber Geselle gewesen sein soll. Am bekanntesten sind zwei seiner Gedichte, die zugleich auch die derbsten sind: „Über die Raucher und Tabaksschnupfer“ und „Der träumende Schatzgräber“.

In dem ersten macht der Dichter seiner Entrüstung in derben Knüttelversen Luft über die durch brennende Pfeifen entstandenen Feuerschäden, über den großen Zeitverlust bei der Arbeit durch die Pfeifenstopferei, über die durchs Rauchen schepp gewordenen Gesichter und Mäuler und die ausgebissenen Zähne der Raucher, über den von ihnen ausströmenden schweineartigen Gestank, und schließlich über die stallmistjauchigen Nasenhöhlen der Schnupfer.

Das Gedicht fand eine Entgegnung durch einen F. V. Hahnstein. Es war das ein freier Ausländer, der in unseren Kolonien, wie so mancher andere, einheimisch geworden war, sich zuerst in Schilling, dann später in Katharinenstadt aufhielt, ein sehr geschickter und von den Frauen geschätzter Akkoucheur gewesen sein soll, — auch ein Orgelbauer, der die Lauwer Kirchenorgel und noch manche andere erbaut hat und also mit dem alten Gleim doch wohl persönlich bekannt gewesen war. Er nimmt den Karamaner Tabaksbauer in Schutz. In hummervollem Tone weist er die kränkenden Ausfälle seines eifernden Gegners zurück und beweist ihm vom ökonomischen Standpunkte aus die wirtschaftlichen Vorteile des Tabaksbaues.

Ein anderes Gedicht von Gleim „Der träumende Schatzgräber“ ist noch derber gehalten als das erste, doch von gefälligem Strophenbau[3] und flüssiger Sprache. Er verspottet darin den in früherer Zeit unter unseren Kolonisten so sehr verbreiteten Hang zur Schatzgräberei.

Angeblich noch aus der Anfangszeit unserer Kolonien, aus dem 18. Jahrhundert, soll zu uns ein altes Kolonistenlied über die Fronarbeit herüberklingen, das Al. Lichtner in Mariental in Wort und Weise ausgezeichnet und in „Unserer Wirtschaft“ 1923 Nr. 12 veröffentlicht hat. Allein hier waltet ein Irrtum ob. Das Lied ist viel späteren Datums und gar nicht wolgakolonistischen, sondern bessarabischkolonistischen Ursprungs, das den dortigen Schulmeister Beck in der Kolonie Paris zum Verfasser hat. Es war erschienen in dem vom Fürsorge- Komitee in Odessa herausgegebenen „Unterhaltungsblatt für die ausländischen Ansiedler Süd-Rußlands“, und da dies Blatt auch hier in unseren Kreisämtern gelesen wurde, also auch in Mariental, so wurde das Gedicht von den sangeslustigen Marientalern frühzeitig aufgeschnappt und als Lied im Ort heimisch gemacht. Es scheint nur ein Bruchstück zu sein.

Beck besingt in diesem Liede die Waldplantagen, die nach der Anordnung des Ministeriums der Reichsdomänen im Jahre 1844 in sämtlichen Kolonien des Südens unter mühevoller Arbeit der Kolonisten angelegt worden waren, aber nun schon längst wieder mit Stumpf und Stiel ausgerottet und spurlos verschwunden sind.[4]

Auch der Berliner Musikdirektor Schünemann bringt das Lied in seinem 1923 erschienenen Werke: „Das Lied der deutschen Kolonisten in Rußland“. Während des Weltkrieges hat er in den Gefangenenlagern Deutschlands das noch lebende Volkslied der deutschen Kolonisten in Wort und Weise gesammelt, und bei dieser Sammelarbeit wurde ihm auch das Becksche Lied von einem Marientaler vorgesungen.

Die Melodie ist bei Schünemann und Lichtner dieselbe, nur daß Schünemann alle Unarten des kolonistischen Gesanges: Schleifen und Leiern getreulich wiedergibt. Sehr verdorben ist auch der Text bei Schünemann.

Um den Freunden unseres Volksgesanges an einem Beispiel zu zeigen, wie ein Volkslied allmählich zersungen und verhunzt werden kann, bringen wir weiter unten auch dieses Lied nach den drei Lesarten bei Schünemann, Lichtner und Beck und wollen damit zugleich den Marientaler Sängern zu dem ursprünglichen und richtigen Text verhelfen.


Rußland
Von J. K. Schütz.

Das größte, doch das ärmste Reich
Kann jeder uns wohl nennen gleich.
An Umfang und an Menschenzahl,
An Fruchtbarkeit und Mineral
Mag Rußland unerschöpflich sein;
Doch wohnen „wilde“ Menschen drein.
Sie treten mit den Füßen drauf,

 

Und Zugereiste heben’s auf;
Die bringen’s in ein an der Land,
Von wo’s zurückkommt unerkannt.
Die Führer sind auf eins bedacht:
Ob man das Kreuz auch richtig macht.
Dies hemmt in vielem die Kultur
Und kann dem Reiche schaden nur.


Fronlied
I.
Nach Schünemann.

Es ist wahrlich zum Bedauern
Wie man heut’ die Leute quält,
Es wär kein Wunder für die Armen,
Wenn alle Lust zur Arbeit fehlt.
Immer in Dräun
Muß der Schuldner sein.
Jeder Tag bringt neue Lasten,
Man hat weder Ruh noch Rasten.

 

Denn ich steh schon vierzehn Tage
Hier und mein begrautes Haupt;
Und ich leide solche Plage
Um ein manniges Stücklein Brot.
Hält kein Sträußlein stand.
Auf dein schlechten Land
Noch viel wen’ger läßt sich treiben
Von den höchsten hohen Bäumen.

II.
Nach Lichtner.

Eins ist wahrlich zum Erbarmen,
Wie man jetzt die Leute quält,
’s ist kein Wunder, wenn den Armen
Alle Lust zur Arbeit fehlt.
Immer nur zu dräun
Muß der Schulz da sein.
Jeder Tag bringt neue Lasten,
Man darf weder ruhn noch rasten.

 

Ach, ich steh schon vierzehn Tage
Hier und grabe mich fast tot,
Dennoch bringet solche Plage
Mir kein einz’ges Stücklein Brot.
Auf dein schlechten Land
Hält kein Sträuchlein stand.
Jeder Tag bringt neue Lasten,
Man darf weder ruhn noch rasten.

III.
Nach Beck.

Es ist wahrlich zum Erbarmen
Wie man jetzt die Leute quält,
’s ist kein Wunder, wenn den Armen
Alle Lust zur Arbeit fehlt.
Immer nur zu dräun
Muß der Schulz da sein.
Jeder Tag bringt neue Lasten,Man darf weder ruhn noch rasten.

 

Steh ich jetzt schon 14 Tage.
Grabe mich beinahe tot;
Dennoch liefert solche Plage
Mir auch nicht ein Stückchen Brot.
In dem schlechten Land
Hält kein Sträuchlein stand.
Wie viel wen’ger darf ich träumen
Von den einst’gen großen Bäumen.


[1] Eines seiner Gedichte, das den schweren Tod dreier in den Oberdörfer Sandgruben 1891 verschütteter junger Leute beklagt, ist von dem Einsender dieses in dem Friedensboten 1906 veröffentlicht worden.

[2] Heute spricht man in Lauwe nur noch den gemeinen wolgakolonistischen Dialekt; nur das „dos" und „wos" ist geblieben. Wir machen unsere Mundartenforscher auf diese Abschleifung der ursprünglichen Mundart in einem Dorfe aufmerksam.    Der Verf.

[3] Die Bürgersche Lenorenstrophe.

[4] W. Isert, Lehrer, Statistisch-historische Beschreibung der Kolonien im schwedischen Gebiet, Gouv. Cherson. Odessa, 1904.


Unsere Wirtschaft, 1926, Nr. 20, S. 319-320; Nr. 21, S. 343-344.