Geschichte der Wolgadeutschen

FRIEDENSBOTEN–KALENDER

AUF DAS JAHR 1913


Kolonialgeschichtliches
von Pastor J. Erbes, Wolskaja.

Hungersnot im Gnadenflurschen Kirchspiel 1866/67.

Zu diesem Kirchspiel gehörten damals 5 Kolonien: 1) Gnadenflur, welches im Jahre 1862 in allem 526 Seelen zählte; 2) Mannheim mit 537 Seelen; 3) Sichelberg mit 386 Seelen; 4) Rosendamm mit 336 Seelen und 5) Wiesenheim mit 274 Seelen. Bis zum Jahre 1861 wurden diese 5 Gemeinden 10 Jahre lang von Süd-Katharinenstadt aus, von Pastor Wahlberg geistlich bedient; im genannten Jahre wurden sie schließlich als selbständiges Kirchspiel vom Minister des Innern bestätigt und erhielten in Wahlberg dem Jüngeren ihren eigenen Seelsorger. Die Ansiedler stammten meist aus dem Paninschen Kreise. —

In seinem Otkoberbericht von 1867 berichtet nun Pastor Wahlberg über den Zustand seiner Gemeinden folgendes: „Die durch die totale Mißernte des verflossenen Sommers drohende Not und Armut trat schon im Herbste vorigen Jahres mit drückender Last ein, die im Winter von Tag zu Tag sich vergrößerte. Nur einzelne Wirte im Kirchspiel vermochten sich aus eigenen Mitteln zu helfen. Alle Übrigen verdanken ihre Existenz nur der Aushilfe, die der Kredit der Gemeinde noch möglich, machte. Es wurde der Roggen auf Kosten und Bürgschaft der Gemeinden leihweise angekauft und sodann monatlich pro Seele zu einem bestimmten Quantum ausgeteilt. Viele Familien wanderten infolge dieser Not aus, um anderweitig ihr Unterkommen zu suchen; viele sind bis jetzt noch nicht zurückgekehrt. Einen traurigen Anblick boten denn daher die Kolonien im Winter, namentlich Wiesenheim, Gnadenflur und Mannheim, zum Teil auch Rosendamm. Die Lehmhüttlein waren fast ganz verschneit und auf mancher Straße herrschte Todesstille. Denn die Hüttlein sind verlassen und stehen leer: ihre Bewohner sind entweder aus Mangel an Heizmaterial in einzelne Häuser zusammengezogen, oder haben sie die Heimat verlassen, um in der Fremde ihr Auskommen zu suchen.

Bei einem Hausbesuche, z. B. in Wiesenheim fand ich in einer Stube von kaum zwei Quadrat-Faden zwei Familien zusammenwohnend und etwa 15 Personen zählend. Die eine Mutter lag mit 3 Kindern im Bette mit einer Decke bedeckt, um ihre Blößen zu decken; die andere stand am Bette, worin 4 ihrer kleinsten Kinder saßen, mit der ärmlichen, aber warmen Federdecke sich gegen Kälte schützend; der Sohn der letzteren, ein Jüngling von 18—19 Jahren bettelte in dem benachbarten Russendorfe Mistholz zur Heizung zusammen, um das volkreiche Hüttlein bewohnbar zu erhalten. Schwarzbrot und ein auf Steppenkräutern gebrauter oder gekochter Tee war die einzige Nahrung dieser Menschen. In Gnadenflur fanden sich in einer wohl noch kleineren Stube 3 Familien bei einander und war alles krank bis auf ein Weib und 2 Mädchen von 11—15 Jahren. So ungefähr sah es in den meisten Häusern aus. Indessen gab es auch einige, aber wenige Wirte, die in besseren Umständen lebten. In Sichelberg besuchte ich eines Tages 7 Familien und fand den Zustand besser. Der väterlichen Fürsorge des Saratowschen Kontors und der örtlichen Kolonialobrigkeit ist es nur zu verdanken, daß niemand dem Hungertode erlegen.

Hitziges Fieber zum Teil bösartigen Charakters trat als Gefolge dieser Not und Armut in mehreren Kolonien, namentlich Gnadenflur, Mannheim und Sichelberg auf und vermehrte die Sterblichkeit unter den Erwachsenen in bedeutendem Grade. Es hat der Tod die Reihen hier in den letzten anderthalb Jahren stark gelichtet, und hart hat der Allmächtige und Gerechte mit seinem Zornesarme auf die hiesige Gegend gedrückt, aber auch zugleich Gnadeneinkehr bei uns gehalten....

Der Herr hat unseren demütigen Bitten auch gnädig Gehör geschenkt und hat in diesem Jahre den Acker gesegnet, so daß wir uns einer ziemlich guten Ernte erfreuen, dürfen, wodurch nun doch die größeste Not gestillt und dem Mangel am täglichen Brot zum großen Teil abgeholfen ist. Wegen Mangel an Samen und Zugvieh haben zwar die ärmeren Wirte wenig, einige nichts aussäen können und sind daher wiederum angewiesen, Brot und Saat aus dem Gemeindevorrats-Magazin zu beziehen, aber er freut sich denn auch in diesem Jahre einer guten Einnahme, so daß Lebensunterhalt und alle Gemeindeabgaben aus eigenen Mitteln bestritten werden können. In dem armen Wiesenheim, zum Teil auch in Rosendamm ist die Ernte wieder unter dem Mittelmäßigen ausgefallen; ersterer Ort ist in seinem Bestehen wahrlich fast schon gefährdet. Indes ist die größeste Not durch Gottes Hilfe gehoben und dafür sei ihm herzlich Dank gebracht.

Jedoch ist die materielle Not in diesem Jahre mehr denn sonst einem besseren Gedeihen des Unterrichts in der Kinderlehre und namentlich Schule stark hemmend entgegen getreten, indem viele Kinder nach einiger Zeit die Schule verlassen muhten, um mit ihren Eltern zu ziehen. Andere hatten keine Kleidung; gegen Frühjahr erkrankten wiederum viele. Im Anfang des Herbstsemesters gab es über 50 schulpflichtige Kinder, die fast ganz von Kleidern entblößt waren. Ich richtete daher ein Bittschreiben an einige wohltätige Freunde in Katharinenstadt, die auch mit wahrhaft freigebiger Hand und fröhlichem Herzen abzuhelfen sich bestrebten und diesen Kindern den Schulbesuch möglich machten. In Wiesenheim konnte das Schullokal wegen Mangel an hinreichender Heizung nicht mehr zum Unterricht benutzt werden und mußte der Schulmeister die Kinder vom Februar-Monat an in seiner Wohnung unterrichten. So ist denn die Armut mehrfach hemmend auch dem Gedeihen der Schule entgegen getreten und kann demzufolge von einem erfreulichen Fortschritt des Religionsunterrichts in diesem Jahre nicht die Rede sein.“

So weit der Bericht des Pastors Wahlberg. Was nun die Befürchtungen Wahlbergs, in bezug auf die Kolonie Wiesenheim anbelangt, so sollten sie sich erfüllen: anfangs der 70-er Jahre hörte Wiesenheim nach nur etwa 10-jährigem Bestehen auf zu existieren. Die Einwohner siedelten nach dem nur 2 Werst entfernten Rosendamm über, und da, wo einst das arme Wiesenheim gestanden, ist nun wieder eine öde Steppe. Nur in den Personalbüchern von Rosendamm findet das verschwundene Wiesenheim nach Erwähnung, indem es bei manchem Gemeindeglied heißt: geboren in Wiesenheim.

In gleicher Weise ist auch noch eine andere junge Steppenkolonie in jener Gegend wieder verschwunden, nämlich Alexandersdorf im Kirchspiel Weizenfeld. Nach etwa 15-jährigem Bestande war auch diese Kolonie durch die Not gezwungen worden, sich mit der 3 Werst davon gelegenen Kolonie Alexanderhöh zu vereinigen. Dies geschah im Herbste 1865. Manche Wirte blieben den Winter über noch in dem verlassene Dörfchen, siedelten aber im nächsten Frühjahr auch nach Alexanderhöh über.

In ähnlicher Weise nun wie hier so kann auch so manche unserer jungen Ansiedlungen in Sibirien durch schwere Notzeiten wieder verschwinden. Der Herr unser Gott aber wolle seiner Verheißung gedenken: Es wird dir kein Übels begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen. Ps. 91,10.


Friedensboten–Kalender auf das Jahr 1913. – Talowka bei Saratow a/Wolga: Verlag der Buchhandlung Eben-Ezer, S. 117-120.