Geschichte der Wolgadeutschen

FRIEDENSBOTEN–KALENDER

AUF DAS JAHR 1912


Kolonialgeschichtliches
von Pastor J. Erbes, Wolskaja.

Notzeiten in früheren Jahren.

Immer wieder dringen von Zeit zu Zeit Notrufe zu uns herüber aus unseren neugegründeten Wolga Kolonisten-Ansiedlungen in Sibirien. Abgesandte Männer von dort durchwandern unsere Wolgakolonien, schildern die Not in den neuen sibirischen Ansiedlungen, kollektieren zum Bau von Schulhäusern. Ja im Frühjahr des Jahres 1910 sind sehr beutende Geldsummen von allen Gemeinden auf Berg- und Wiesenseite nach Akmolinsk für die dortigen hungernden und darbenden Mitbrüder abgesandt worden.

Nicht zum ersten Mal gehen solche schwere Zeiten über unsere Wolgakolonien hinweg. Unsere Kolonialgeschichte weiß von gar manchem Hungerjahre zu erzählen. So auch, als die ersten Kolonien hier vor fast 150 Jahren gegründet wurden, und später, als die ersten Tochtergemeinden in den weiten, öden Steppen auf der Wiesenseite vor 50—60 Jahren entstanden. Einen Bericht darüber lassen wir hier folgen. Der Bericht erzählt von der Not der ersten eingewanderten Kolonisten, namentlich derjenigen, welche 1766 die Kolonie Kratzke auf der Bergseite gegründet haben. Unter diesen befand sich auch ein Webermeister mit Namen Züge. Was er berichtet hat, wollen wir hier wiedererzählen.

1. Wie die ersten Kolonisten in dem heutigen Kratzke ankamen.

Nachdem Züge geschildert, hat, wie der Kolonistentransport von Saratow ans an einigen Kolonien, und zuletzt an Grimm vorübergezogen sei, fährt er in seiner Erzählung also fort:

„So lange wir uns noch m der Nähe dieser deutschen Kolonie befanden, trafen wir wenigstens eine Art von Weg, obschon wild und unwegsam genug. Endlich ging aber unsere Fahrt mitten in die Steppe hinein, und wir sahen jetzt keine Spur eines Weges mehr. Ich glaubte anfangs, unsere Führer wären fehl, als ich ihnen aber dies zurief und sie lachend antworteten, wir sind ganz recht, wurde die Ahnung, statt der erwarteten lachenden Gegend in eine Wildnis zu kommen, die sich meiner schon seit etlicher Zeit bemeistert halte, beunruhigende Gewißheit.

Nachdem wir noch eine Weile in einer öden, traurigen Fläche fortgefahren waren, gelangten wir an einen Bach, welcher, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, Metwe Ititz[1] oder Bärenfluß genannt wird.

Unser Führer rief: halt! worüber wir uns sehr wunderten, weil es zum Nachtlager noch zu früh war.

Unsere Verwunderung ging aber bald in Staunen und Schrecken über, als man uns sagte, daß wir am Ziel unserer Reise wären. Erschocken blickten wir einander an, uns hier in einer Wildnis zu sehen, welche, so weit das Auge reichte, außer einem kleinen Walde nichts als fast drei Schuh hohes, größtenteils verdorrtes Gras zeigte. Keins von uns machte Anstalt von seinem Rosse oder Wagen herabzusteigen, und als der erste allgenreine Schrecken sich ein wenig verloren hatte, las man aus allen Gesichtern den Wunsch, wieder umlenken zu können. Die Erfüllung desselben war jedoch nicht möglich. Seufzend stieg endlich einer nach dem andern ab, und die mit einem gewissen Gewicht gegebene Nachricht des Lieutenants[2], alles, was wir hier sähen, würde uns von der Gnade der Kaiserin geschenkt, wirkte auch nicht auf einen von uns nur die kleinste Freude. Wie wäre dies auch möglich gewesen bei einem Geschenk, welches in seiner gegenwärtigen Gestalt unbrauchbar war und gar keinen Wert hatte; das von uns erst mühsam umgestaltet werden mußte und nicht einmal gewisse Aussicht gab, ob es die mit der Zeit darauf verwendete Mühe vergelten würde.

Das ist also das Paradies, das uns die russischen Werber in Lübeck verhießen, sagte einer meiner Leidensgefährten mit einer traurigen Miene.

Es ist das verlorene, guter Freund, antwortete ich ihm; denn gewiß haben Adam und Eva, als sie der Engel aus dem Paradiese jagte, da, wo sie zuerst verweilten, nicht mehr Dornen und Disteln gefunden, als wir hier in dieser trostlosen Einöde. Ihnen wuchs doch Kraut auf dem Felde, uns wächst nur dürres Heidegras, das dem Scheine nach nicht einmal unsere Pferde werden fressen können. —

Es war freilich eine Torheit von uns gewesen, daß wir uns in Rußlands unbewohnten Gegenden ein Eden dachten; die Täuschung war aber dagegen auch allzugroß, dafür eine Steppe zu finden, die auch nicht einmal den mäßigsten Forderungen entsprach. Wir bemerkten in dieser unwirtbaren Gegend nicht die geringste Anstalt zu unserer Aufnahme, sahen auch Verlauf mehrerer Tage keine machen, und doch schien bei nicht mehr fernen Winter Eile nötig zu sein.—

2. Wohnungsnot und Nahrungssorgen.

Unser Lieutenant versicherte uns, die Häuser, welche uns gebaut werden sollten, wären bereits von der Regierung an Zimmerleute verakkordiert, die sich auch sehr bald einfinden würden. Er suchte uns zu trösten, so gut es gehen konnte, und ermahnte uns die bessere völlige Einrichtung geduldig abzuwarten, und uns indessen zu behelfen, wie Zeit und Umstände erlaubten. Es blieb uns nichts anders übrig, und weil uns die Rückkehr nicht erlaubt war, fingen wir an uns in die Zeit zu schicken. Statt sie mit unnützen Klagen zu verschwenden, setzten wir uns in Tätigkeit und machten zu unserem Interimsaufenthalte ein Lager, worin wir einer Zigeunerhorde glichen. Etliche machten sich von der über die Wagen gezogenen Leinwand Zelte; andere zimmerten sich, weil es uns nicht an Holz mangelte, Häuser zusammen, die mit Strauchwerk und Erde bedeckt wurden; die Nachlässigsten bedienten sich ihrer Wagen zur Lagerstätte, und trieben sich des Tages im Freien oder bei ihren Bekannten umher.

Da ich nicht willens war, lange hier zu bleiben, sondern dem ganzen nur noch so lange zuzusehen, als es die günstige Sommerwitterung ohne Beschwerde erlaubte, richtete ich mich auch nicht auf die Dauer ein, sondern begnügte mich einstweilen mit einer so leichten als sonderbaren Wohnstelle. Ich machte einen Platz von dem hohen Grase leer, setzte die Kibitka von meinem Wagen darauf, befestigte sie mit Pfählen in der Erde und legte oben noch eine Bastdecke darauf, welche vorn heruntergeschlagen werden konnte, den Eingang einigermaßen zu verwahren, und hatte nun wenigstens eine Lagerstätte und einen Ort, wohin ich mich vor Kälte und Regen flüchten konnte, obschon der Aufenthalt darin nichts weniger als angenehm war, da ich nur sitzen oder auf meiner Matratze liegen konnte. Hier bewahrte ich auch mein Geld und den Rest meiner Habseligkeiten auf, die aber bereits sehr zusammengeschmolzen waren, weil ich seit meiner Entfernung von Berlin nichts nachgeschafft hatte. Meinen Proviant ließ ich auf dem Wagen, und die Beschaffenheit desselben war ein Grund mehr, mich mit meiner gegenwärtigen Lage unzufrieden zu machen, weil ich mich auf eine allzu frugale Kost beschränkt sah. Getrocknete Fische zur Mittags- wie zur Abendmahlzeit wollten mir nicht mehr munden, und ebenso wenig das Brot, welches nach und nach so hart wurde, daß ich es kaum noch zu beißen vermochte. Gleichwohl mußte ich mich mit einem Glücke von beiden begnügen und zum Getränke den ganzen Tag über mit Wasser, das uns der benachbarte Bach zum Glücke noch in sehr guter Beschaffenheit anbot. Etwas Branntwein, den ich mir von Saratow mitgenommen hatte, hielt nicht lange nach, und bei uns war keiner zu bekommen, weil diejenigen, welche noch einigen Vorrat besaßen, nichts daran ablassen wollten, um nicht selbst Mangel zu leiden. Ich beneidete eine nicht fern von uns liegende Kalmückenhorde, die in ihren Filzhütten, so schmutzig sie immer sein mögen, weit besser wohnte als wir. . . . .

Daß wir die Zimmerleute immer vergeblich erwarteten, war für die Gegenwart nicht unsere einzige Sorge. Nach einigen Tagen fing der Proviant an uns auszugehen, so sparsam wir auch damit gewirtschaftet hatten. Wir mußten dem drohenden Mangel bei Zeiten abzuhelfen suchen, und weil dies in der Nähe nicht geschehen konnte, fragten wir die Soldaten, die sich besser versorgt hatten als wir, nach dem nächsten russischen Dorfe, denn daß ein Kolonistendorf uns die nötigen Bedürfnisse würde liefern können, durften wir, so wie wir diese auf unserer Durchreise gefunden hatten, nicht hoffen. Wir ließen uns den Weg nach dem Dorfe beschreiben, so gut es möglich war, weil ihn aber von den Soldaten selbst keiner genau wußte, und der Lieutenant die Lage des Dorfes nur geographisch ungefähr angeben konnte, mußte wir es auf gut Glück wagen, ob wir ihn treffen würden. Unser sechs machten sich eines Morgens zu Pferde auf, nahmen auch einen Wagen mit, ihn mit den nötigen Bedürfnissen zu beladen.“

So weit nach Züge. —


[1] Der Bach heißt richtig: Karamysch.

[2] Sprich: Leutnants. Es bedeutet: Offizier.


Friedensboten–Kalender auf das Jahr 1912. – Talowka bei Saratow a/Wolga: Verlag der Buchhandlung Eben-Ezer, S. 122-125.