Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1926 № 32

Wie einer reich ward
Von Chr. Baltasar

Die Steppe am Jeruslan ist grau. Nichts als grauer Wermut wächst auf ihr. Der braune Salpeter zeugt davon, daß noch wenig Pflanzen, noch wenig Lebewesen hier zugrunde gegangen sind.

Bei nassem Wetter ist der Salpeter matschigklebrig, daß die Beine darin stecken bleiben; bei trocknem Wetter ist er bröcklich und rauh und wird bald zu allerfeinstem Staub, der sich in die Luft erhebt und wie Wolken stehen bleibt, in die Nase, ja in die allertiefste Lungenspitze dringt.

Müde geht der Wanderer daher. Er schaut vergeblich um sich. Nirgends ein Baum. Kein Schatten, kein Quell. Nur im lehmigen Jeruslangraben ist Wasser zu finden. Kleine Tümpel. Der Durst zwingt aus diesen sumpfigen Pfützen zu trinken.

Doch in der Ferne zeigt sich ein Hügel, zwei drei, ein ganz Gebirge im kleinen.

Dort ist es ganz anders: auf weichem Sandboden setzt der Wanderer dort behaglich einen Fuß vor den andern. Sandgras von Manneshöhe, Weiden, ja Birken und ein Quell! Frisches Wasser!

Eine Unmenge Sand hat sich hier verirrt und diese Zauber bewirkt.

Der Sand liegt auf dem Salpeter. Er liegt, als ob der Schöpfer beim Sandverteilen hier ein wenig verloren habe. Eine kleine Handvoll hat er hier auf der großen Lehmplatte fallen lassen und hat dann mit seinem Stiefelabsatz draufgetreten.

Der Sand knirschte unter dem Stiefel, sprang in weitem Kreise auseinander und machte dem Absatz Platz.

Dann kam der Jeruslanfluß gerannt: „Platz da!“ schrie er, „ich bringe die Wasser all von der Jama, von zwei Otrochina und drei Soljanka. Es soll alles in die Wolga. — Platz! wer nicht weicht, den nehme ich mit!“

Der Sand schmiegte sich fest an den Lehm, aber es half nichts. Der Jeruslan sprang hindurch, zerriß den Sandkreis und ließ auf jeder Seite eine Hälfte liegen.

Da kamen die Weiden und banden den Sand fest, damit er nicht immer dem Wind nachlaufe. Nachher erschienen die Birken und hockten sich drauf. Das Regenwasser fiel auf den Sand, schlüpfte hinein bis auf den kalten Lehm. Doch dieser sperrte sofort alle Poren zu und ließ kein Wasser hindurch. Dem Wasser wurde es kühl, aber es konnte nicht mehr zurück. Da kroch es langsam zur Seite und kam am Flußufer unter dem Sand hervor, um in den Jeruslan zu springen.

* * *

Hier an diesem Ufer ließen sich Kolonisten nieder und gründeten das Dorf Djakowka.

Der Ort, wie kein zweiter in der Steppe zu finden ist, zog bald so viele heran, daß es ein großes Dorf wurde. Wald und Wasser, Wasser und gutes Land waren die Magneten, die immer neue Einwanderer heranzogen.

Roggen und anderes Getreide gediehen gut, Obstbäume ließen sich leicht anpflanzen, das schmackhafteste Gemüse konnte da gezüchtet werden. Der Wald lieferte nicht nur alles notwendige Holz, sondern versorgte auch alle mit Beeren und Pilzen.

Jeder hinzugekommene Ansiedler konnte einen Anteil an all diesen Gütern haben, und so mancher fleißige Mann gelangte zu ansehnlichem Wohlstand. Endlich waren alle Güter aufgeteilt, und die Letzthinzugekommenen konnten nichts mehr bekommen. Das waren dann die Landlosen, die Fremdlinge, die keine eigene Wirtschaft führen konnten, sondern bei den „Leuten“ Verdienst suchen mußten. Man nannte sie die Armen.

Sie hatten kein Land, keinen Anteil Sie durften nicht in den Wald gehen, durften auch keinen Roggen, keine Arbusen bauen. Sie mußten sich dies alles kaufen für bares Geld. Doch das Geld war wenig. Wo sollte es auch Herkommen?

Nur einmal im Jahr hatte man Gelegenheit, Geld zu verdienen. Es war während der großen Messe, am 15. Mai. Jeder, der etwas zu verkaufen hatte, trug es hinaus auf den Freiplatz, auf den Markt. Wer Geld hatte, der strömte nach, um etwas zu kaufen. Die nichts zu kaufen und nichts zu verkaufen hatten, die zogen nach, um zu gucken.

Die Armen hatten nichts zu verkaufen als ihre Hände. Diese brachten sie auf den Markt während der großen Messe.

Wer Leute kaufen wollte, kam nach, und jeder kaufte, was er nötig hatte: Mäher, Binder usw.

Messe war nur einmal im Jahr. Wer kaufen und verkaufen wollte, der richtete sich zur Messe. Wer sich da nicht los wurde, der konnte keinen Käufer mehr finden. Bargeld wurde nur auf dem Markt gezahlt. Es wurde gefeilscht, in die Hände gepatscht, Rubel aufgeworfen oder mit den Zähnen probiert. Menschenkraft wurde im Lastschwingen berechnet. Schnaps wurde mit Gläschen gemessen. In allen Ecken tönte die Ziehorgel: hier beim Tanz, dort zur Probe.

All der Jubel, all die Musik, all das Gejohl und all der Lärm erschütterten die Luft in weitem Kreise.

In 14 Tagen war die Messe um. Alles wurde wieder ruhig bis zur nächsten Messe.

* * *

Alexei Iwanowitsch Bachtura hatte zum ersten Mal an der Messe teilgenommen. Bisher nicht. Sorgenlos lebte er bei seinem Vater; drum interessierte ihn auch das Wesen des Marktes nicht. Nur der Jubel zog ihn an, und er, ein lediger Bursche, zog dem Jubel, der Ziehorgel, nach.

Sein Vater, ein wohlhabender Bauer, wollte ihn bald verheiratet sehen mit des Popen Dunja.

Dies, dachte er, würde seinen Wohlstand und sein Ansehen heben. Großvater und später vielleicht Kirchenvorsteher zu werden, war ihm schon gut genug.

Doch Alexei, ein netter Bursche, den jedes Mädel gerne sehen mochte, war anderer Meinung.

Er hatte Gelegenheit genug, zu sehen, daß das Ansehen des Posnjak viel höher war als das des Popen. Jeder kannte den Posnjak im ganzen Umkreis.

Wer zur Messe kam, fragte erst, ob Posnjak seine Ware nicht kaufe, ob Posnjak nicht noch eine vakante Stelle habe. Jeder wußte auch, daß bei Posnjak dies und jenes zu haben war.

Alexei sah, daß sein Vater, ein schlichter Bauer, einfach der Iwan war, Posnjak aber der Iwan Iwanowitsch, den jeder respektierte.

Drum wollte er sich dem Willen des Vaters nicht fügen, wollte sein Glück auf eigne Faust versuchen, sich von dem einfachen Bauer lossagen, vielleicht ebenso werden wie der Iwan Iwanowitsch.

Als alles Einreden nichts half, wollte der Vater dem Glück des Sohnes nicht im Wege stehen und gab ihm 50 Rbl., drei Küsse und einen Segen und ließ ihn von sich.

Nun war dieser Alexei Bachtura ein angehender Wirt, der nicht mehr jeder Ziehorgel auf der Messe nachlaufen konnte, sondern ganz still über den Markt dahinging: er hatte nichts zu verkaufen und nichts zu kaufen.

Er konnte zum ersten Mal sehen, was Messe ist. Es ist nicht der Platz, wo alles Volk zusammenkommt, um zu jubeln; es ist der Ort, wo alle Ware zum Verkauf zusammenströmt. Die Fülle zeugt von Reichtum, der Jubel von Menschenkraft, die die Fülle schafft. Der Markt bringt diese ins Fließen, nennt ihren augenblicklichen Wert und bahnt den Weg der Fülle.

Fröhlich trinken und tüchtig schinden ist der Grundton der Messe.

Posnjak hat das nötige fließende Geld, das Grundkapital, um die riesige Menschenkraft zu binden, zu bändigen, Werte schaffen zu lassen, die ihm zufließen, ohne auch nur einen Brocken an irgendeinen andern abfallen zu lassen. Und Posnjaks Kapital häuft sich immer mehr, um immer mehr Menschenkraft zu fesseln. Posnjak ward eine Macht.

* * *

So saß Alexei und grübelte nach, wie er zu Kapital kommen könnte. Vor ihm saß sein Freund Kirill und entkorkte eine Flasche Schnaps. Neben diesem saß ein Fremder. Dieser verzehrte sein Reisebrot und trank frisches Wasser aus einem reinen Glas dazu. Glas und Flasche kamen nebeneinander zu stehen.

Alexei, ganz vertieft in seine Gedanken, schaute nach beidem.

Kapital ist eine schlimme Sache, ist schwer zu erwerben. Posnjak sagt, er habe sein Kapital verdient, aber es ist nicht wahr. Er hat sein Lebtag noch nichts gearbeitet. Erspart auch nicht, denn er lebt am wenigsten sparsam. Vielleicht geerbt oder erheiratet? Alte erzählen von Funden, ergrabenen Schätzen — kurzum, tausenderlei möglichen Wegen, auf denen Posnjak Geld habe erwischen können. Wie ein Wurm bohrte sich in Alexeis Hirn der Gedanke.

„Wie komme ich zu Kapital?“

Plötzlich zuckt er zusammen: Glas und Flasche haben ihn auf einen genialen Gedanken gebracht.

„Ein Eimer hat 20 Flaschen. Während der Messe werden tausend Eimer Schnaps getrunken; das macht zwanzigtausend Flaschen. Wenn so ungefähr der vierte Teil Wasser hinzugemischt werden könnte, so wären das schon fünfundzwanzigtausend Flaschen, und der Schnaps wäre zum Besaufen noch stark genug. Bescheiden gerechnet, wäre das bei dem Preise von 50 Kop. die Flasche nicht weniger als zweitausend Rubel. Hier ist Kapital! Hier ist der Anfang!“

Er sprang auf und rannte davon.

Er hatte seine Ruhe verloren. Er ging jedem Menschen aus dem Wege, um sich ja nicht zu verplaudern, seinen genialen Gedanken niemanden zu verraten.

Er fuhr eilig nach Saratow, um einen Schein zum Schnapshandel und auch ein nachgemachtes Siegel zu bestellen.

„Ein Segen für die Säufer“, ermunterte sich Alexei, „wenn sie nicht mehr so starken Schnaps bekommen werden.“ —

„Gott segne mein Vorhaben!“ betete er, als er in den Waggon stieg, und schlug ein dreifaches Kreuz.

Und Alexei ward ein reicher Mann.


Unsere Wirtschaft, 1926, Nr. 32, S. 517-519.