Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1926 № 16

Die schlechte Kaholle!
Von Chr. Baltasar

Der Litsch war ein fleißiger Mann. Er lieferte Beweise genug, daß die Leute sagen mußten: „Ja, der schafft, und gut schafft er.“ Die Beweise kamen überall zum Vorschein. Das Dach wurde angestrichen und das Tor mit hohen Torpfosten versehen. Ein zierlicher „Knopf“ aus Blech, der eine Kornblume darstellte, gipfelte jeden Pfosten, und mitten auf dem oberen Torbrett war ein noch viel zierlicheres Bild aus Blech geschnitten: Pferde im Kreise, in der Mitte ein Mann mit einer Peitsche — er drischt. Wenn ein leiser Wind geht, dreht sich alles im Kreise herum auf einer Achse, einem langen Drahtnagel, daß es eine Lust ist anzusehen. Das war schon gut, aber es fehlte noch manches, was zum Wohlstand gehörte, und das mußte auch noch werden: eine hohe Bretterwand von der Straße her und auch hinten noch eine. Stall, Ambar, Scheuer, Scheuerchen und Ställchen mußten unter ein Dach gebracht werden und den ganzen Hof in zwei Teile teilen, den Hof und den Garten. Den Garten nicht deswegen, weil dort Obstbäume angepflanzt sind, nein, weil es der Hinterhof ist, wo alles untergebracht wird, was den vorderen Hof verunstalten kann: zerbrochene Wagen und Schlitten, Kamele, Mist, Ziegen, Stroh und dergleichen die Augen ärgernde Dinge. Litsch konnte solche schon nicht mehr recht ausstehen; eigentlich sollten das die Leute denken. Und jeder hielt ihn wirklich für einen tüchtigen Mann und schämte sich, „Litsch“ zu sagen; statt „Litsch“ nannte er ihn daher Karl Karlitsch, trotzdem das ungewohnt und unbequem war.

Auch in der Küche waren Veränderungen zu bemerken. Die alte „Oelbudel“ wurde auf den Boden getragen; ihre Stelle nahm eine blecherne „Flasch“ ein. Das zerbrechliche Glas mutzte also dem Blech weichen, weil schon größere Reisen zu machen waren. Das Öl wurde doch nicht mehr pfundweise in der „Lawka“ geholt, sondern pudweise in der Stadt. Also mußte auch die „Flasch“ größer sein als die „Budel“. Die dickbäuchige „Flasch“ war schön braun angestrichen und trug aus pechschwarzen Buchstaben die Aufschrift: Karl Kempel.

* * *

Eines Tages kam der Matwei angefahren. Den kennen alle. Er kauft Häute auf, bringt sie nach Karbulak und bringt von dort Leder mit. Der Winter war schon vor der Tür, und er fuhr immer noch mit einem Korbwagen. Den wollte der Matwei verkaufen und einen Schlitten kaufen. Praßler sind wandernde Leute, die nicht wissen, ob sie noch einmal zurückkommen oder nicht; drum scheuen sie niemals zurück, jemanden zu betrügen. Wenn sie in Verlegenheit kommen, wissen sie auch ganz gut, daß sie nicht glimpflich behandelt werden, daß sie „Haare lassen“ müssen. So sing auch Matwei seine Rede damit an, daß er hier übernachten wolle; sein Bruder müsse morgen mit einem Schlitten hier eintreffen. Karl Karlitsch wußte ganz gut, wo dies hinaus wolle; er wußte auch, daß der Korbwagen billig zu haben sei, aber ... er fühlte sich gar nicht berechtigt, einen Korbwagen zu fahren. So etwas können sich nur reiche Leute und hohe Beamte erlauben, er nicht, er würde zum Spott der ganzen Umgegend: Bauern haben mehr zu tun, als auf Korbwagen herumzukutscheln.

Und doch wurde am andern Morgen der Korbwagen gekauft — „zum Weiterverkaufen“.

Im Schatten des Hohlschuppens verbrachte der Korbwagen den Winter, wärmte sich im Hof an der Frühlingsonne — und blieb da. Er wurde repariert und angestrichen, so daß ein Pastor drauf hätte ausfahren können.

* * *

Nun wollte Karl Karlitsch einmal nach Kosakenstadt fahren. Die Leute erzählen, es gäbe in Kosakenstadt unzählige Taschendiebe, besonders auf dem Markt. Nach langem Beraten wurde ein guter Ausweg gefunden. Nahe am Markt wohnt Hansefs Niklos, der hatte immer „sei Tenn“ an der Gräsnucha; dort sind die Leute immer angekehrt tränken. Bei dem Niklos kann man einkehren; der wird sich doch wohl noch daran erinnern, daß er bei Litsche einen Ausreitstein geborgt hatte, als sein eigener entzweigebrochen war.

Karl machte sich mit seinem Jungen, dem Karlchen, auf den Weg. Der Braune erschrak, als er die ungewohnte Musik, das Gerassel des Korbwagens, hörte, und ging wie toll davon.

Nach zwei Stunden waren sie schon im „Kahollefeld“, nahe an der Saratowka. Da wurde es Karl Karlitsch ganz unheimlich. Es wäre ja gut fahren, „awer die schlechte Kaholle!“ Diese werden ihm im Korbwagen gewiß keine Nutze lassen. „Schlechte Kaholle! vun dene hat mir schun viel ghört!“

Karlchen mußte auf den Bock steigen, und Karl Karlitsch entlaubte einen Sonnenblumenstengel und stellte ihn neben sich in den Korbwagen, als ob es eine Flinte wäre.

„So, grad als wann mr e Flint hätte; do geht keen Teifel an!“ meinte Karl Karlitsch.

„Halt, Karlche, dort am Weg leit e Kartus; heb se uf! Die hat gewiß jemand verlöre. Ha, des is jo e ganz neie! ’n Silwerruwel is wieder drheem. No vorwärts! Fahr jetz zu! Laß den Braune trabe!“

* * *

In Kosakenstadt wurde nicht lange gesäumt; denn man wollte noch vor Nacht nach Hause kommen. Das „Kahollefeld“ und die Saratowka waren eigentlich für Karl Karlitsch die gefährlichsten Stellen.

„Schlechte Kaholle!“ brummelte er.

Schon von weitem waren zwei Männer ans dem Weg zu sehen. Jeder hatte eine lange Fangstange, mit der man das Pferd zum Stehen bringen oder auch den Fuhrmann von seinem Sitz heben konnte. Karl Karlitsch wurde es ganz unheimlich; er nahm die Leine fester, löste die Peitsche, um im Notfall davon zu jagen, machte aber sonst ein ganz unschuldiges Gesicht.

„Stoi!“ riefen die Männer, und hielten ihre Fangstangen bereit.

Karl Karlitsch sah, daß er nicht ausweichen konnte, daß ihn aber die beiden Männer leicht aus seinem Wagen heben konnten; drum hielt er an.

„Slesai!“

Karl Karlitsch verstand kein Wort russisch, und doch erriet er, daß er absteigen sollte. Er tat’s bebend am ganzen Körper. Von Mord hatte er noch nichts gehört, wenigstens auf dieser Straße; drum blieb ihm noch ein Hoffnungsfunken. Er will schon gerne laufen, wenn man ihm nur das Leben läßt.

„Dawai Kartus!“

Das hatte er nicht verstanden. Er wollte ja gerne alles tun, was die Männer sagten; aber er hat es nicht verstanden, mit dem besten Willen nicht!

Sie durchstöberten den Wagen, nahmen die gefundene Kartus heraus, stießen ihm diese schimpfend unter die Nase, gaben ihm noch einen derben Stoß und hießen ihn dann fahren.

„Na schlechte Kaholle! Die dachte gewiß, mir wäre Kaufleit mit m Sack voll Geld. Hawe awer nix gfunne un mußte mit der Kartus zufriede sin. Des is sichr so; dann der eene war bloßkeppig. Der kann unser neie Kartus gebrauche. Schlechte Kaholle!“

„Ich denk, Date, des war dene ihre Kartus. Die hawe uns heit morgend gsehn, wir mir die Kartus ufgehowe hawe un hawe uns jetz ufgepaßt. An dem Korbwage sin mir jo leicht zu erkenne.“

„Fahr und halt s Maul! — Na, schlechte Kaholle!“


Unsere Wirtschaft, 1926, Nr. 16, S. 255-256.