Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1924 № 2

Gottes Segen

Von Chr. Balthasar

Kling ling! Kling ling ling!

Es werd bekannt gemacht: Die sapasne Soldate bis 43 solle gleich in die Prikas komme! —

Alle ausgediente Soldaten auf einmal!!!

Im Nu war der David Diel in der Prikas, obwohl das Geklingel und die Einladung des Büttels ihn selbst eigentlich nicht anging.

Er war vor drei Wochen 44 alt geworden, also Ratnik erster Klasse.

In der Prikas wurde ihm bei all dem Lärm und dem Durcheinander die volle Gewißheit, daß er von der „Strafe Gottes“, von dem unseligen Krieg, vorderhand nicht in Mitleidenschaft gezogen worden war.

„Gottes Segen!“ murmelte er, als er die Prikas verließ, doch in Gedanken fügte er hinzu: „Wenn nur dieser Segen auch anhält, wenn ich nur am Ende nicht doch noch fort muß!“

Der Segen hielt an, und trug immer reichlichere Früchte; denn der furchtbare Weltkrieg, von den Diplomaten, den klügsten Beamten der Kaiser und Könige und anderer Edlen und Großen der verschiedenen Länder ins Werk gesetzt und von den verschiedenen Hirten der verschiedenen Kirchen mit Segen und Gebeten unterstützt, zog sich ins Unendliche.

Es wurden immer mehr Menschen für den Moloch des Krieges gefordert: blaubillettne, rotbillettne, weißbillettne... Ein Trupp nach dem andern zog aus dem Dorf.

Es war schon nicht mehr auffällig, wenn Mädchen oder Frauen durch das Dorf ritten, es war sonst niemand in der Wirtschaft, der mit den Pferden umgehen konnte.

Die Torbänke wurden leer; alt und jung hatten früh und spät alle Hände voll zu tun.

In der Betstunde waren jetzt nur noch die Alten und Jungen geblieben. Bruder Ehlers kam jetzt öfter, tröstete sie so gut er konnte, legte ihnen die Offenbarung aus und hielt Kinderbetstunden ab.

Früher hatte das manchem Spaß gemacht (Kinderbetstunde!); jetzt aber waren ernste Zeiten, und „Kinnergebetje dringt dorch die Wolge“.

Beim Fridka war’s schon zu eng; es wurde noch eine und noch eine Betstunde gebildet, in jeder Eck, soll heißen: in jedem Dorfteil eine. Auch eine Männerbetstunde bildete sich. Hier waren lauter junge Brüder, die das Rauchen nicht lassen konnten. Es waren die Männer von 38; sie spürten ebenfalls großen Drang zu beten, aber sie konnten der Pfeife nicht entsagen und auch nicht zusehen, wie die Schwestern lamentierten und die Brüder küßten. Ihre Frauen sollten das nicht, drum versammelten sie sich besonders, nannten sich aber doch „Brüder“. Bei diesen war auch David Diel.

David Diel begann den Segen des Gebets recht zu spüren. Zum Dank ließ er das Rauchen bleiben und trat in die echte Brüdergemeinde ein.

Früher hatte er zum Beten keine Zeit. Mit seiner kleinen Bauerei konnte er nie bestehen; er mußte immer Nebenverdienst suchen. Da er lauter „Mädels“ und mithin nur eine Seele Land hatte, mußte er sich Land „streichen“ (steigern). Das war kostspielig. Wenn das Landsteigern bevorstand, mußte er alles zu Geld machen, um Land zu bekommen. Er besuchte in solcher Zeit den Vorsteher und den Schreiber fleißig und verehrte sogar diesem ein schönes Stück fettes Fleisch; denn er hätte doch gern den Tag des „Verstrichs“ bestimmen helfen.

Diel konnte sich mit seinem Geld nicht vorne hinsetzen, er saß immer bescheiden hinten und wartete auf die kleine „Züg“. Der Bruder, der Knorrige, und andere steigerten sich erst satt, dann kam er und seinesgleichen an die Reihe, und da nicht immer. Manchmal hatte der Knorrige alles zusammengestrichen, um es dann teilweise zu verkaufen, wenigstens das schlechte.

Nach dem Ausbruch des Krieges hatten sich die Zeiten plötzlich geändert. Der „Verstrich“ war bei weitem nicht mehr so heiß; es war leichter Land zu kaufen, von den Soldatenfrauen sogar in Hülle und Fülle. Diel konnte jetzt dort ackern, wo er früher nicht hindenken durfte. Er konnte auch einmal große „Züg“ ackern.

Die Ernte war gut. Jetzt mußte ein Ambar sein, ein Backhaus kam so nebenbei, es war der Jule ihr Häuschen. Ihr Fritz war im Krieg umgekommen, und da hat sie alles verkauft und ist nach ihrem Dorf gezogen.

Ja, jetzt konnte Diel bauen. Wenn das Haus, das er sich erst gebaut hatte, nicht schon fertig wäre, so würde er es unbedingt 10 und 13 anlegen.

Mit Fleisch und andern Artikeln handelte er nicht mehr wie früher; er hatte keine Zeit mehr dazu: die Bauerei wurde immer größer.

Mit dem Reichtum stieg auch sein Ansehen: Er ward Vorsitzender im Konsumverein. Nun nahm er sich vor, am Sonntag nicht mehr zu arbeiten. „Es liegt kein Segen drin.“

* * *

Fluchs Heinje hatte nur einen einzigen Sohn namens Heine. Der war 18 Jahre alt und sollte heiraten; denn die Alten waren schon klapprig.

Heine war ein bleicher, schmächtiger Junge. Lesen und schreiben konnte er nicht, aber tanzen und die „Ziehorgel“ spielen aus dem Effeff, noch besser als der alte Fluchs Heinje. Diese beiden Dinge betrieb er nun auch eifrig, ebenso die wenig einträgliche Beschäftigung mit Fischen.

Er hatte wohl eine Ziehorgel, aber eine kleine, ein altes Klapperding, und er hätte doch so gerne eine zweireihige gehabt. Vater und Mutter hätten ihm diese auch gerne gekauft, aber immer hat das Geld nicht gereicht, und ihren Garten, die einzige Habe, die sie besaßen, konnten sie doch nicht verkaufen, um für einen Teil des Erlöses eine zweireihige Ziehharmonika zu erstehen. Immer wieder mußte für die Einnahmen der Apfelernte, wenn’s eine solche überhaupt gab, was Neues gekauft oder was Altes repariert werden.

Das einzige Gespräch bei Fluchs war eine zweireihige Ziehorgel und des jungen Heine Heirat. Oft wurde eine solche Ziehorgel bei Gelegenheit auch betrachtet, aber immer noch nicht gekauft. Nun, vor dem Heiraten gibt’s vielleicht außer den Gelegenheiten auch noch die Möglichkeit dazu.

Bald machte jedoch das Gespräch von Ziehorgeln und Heiraten einem anderen Platz. Mit Besorgnis sahen Fluchs die 20-jährigen einrücken, dann die 19-jährigen. Bald muß der Heine auch fort . . . Ach, und es ist der einzige Trost der Alten; er hat auch noch keine neue Ziehorgel. Das Heiraten wird vorderhand aufgeschoben. Jetzt gerade sind sie so übel dran. Das Brot ist bedeutend im Preise gestiegen, die Kleidung noch mehr, und die Ernte war so schlecht. Auch will niemand borgen. Oft ist der Alte ins Dorf gegangen, aber immer ohne jegliche Aussicht zurückgekommen.

Sein Nachbar hatte ihm geraten, den Garten zu verkaufen oder wenigstens die Hälfte davon. Warum denn in den alten Tagen so Not leiden? Der Heine ist ja jetzt groß, der geht nicht zugrunde. Aber davon wollt’ s Heinje nichts hören.

* * *

David Diel wurde immer ernster und gewichtiger. Er war bewandert in der Bibel, wie in Geschäften. Drum war er bald ein ansehnlicher Bruder. Jetzt, da er jedem geistlichen und weltlichen Rat erteilen konnte, stieg sein Ansehen von Tag zu Tag. Im Bewußtsein seiner Würde ging er nun nicht mehr barfuß, trug er eine schwarze Hose und einen „Kost“ oder wenigstens ein Brusttuch. In der Kirche rückte er allmählich vor, und eines Sonntags sagte der Vetter David, der Kirchenvorsteher: „Sitz doch nicht immer da hinten, setz dich dort vor bei die Alten“.

Im Verein war viel zu tun. Der Vorsitzende hatte oft tagelang dort zu tun. Eines schönen Tages kam Fluchs Heinje so ganz leise in die Bude. Schon an der Miene sah’s ihm der Vorsitzende an, daß er borgen wollte.

„Schöndank, Petter, daß Ihr Euch auch einmal sehen laßt. Seht ja so schlecht aus, seid Ihr krank?“

Krank wäre er nicht, versetzte der also Angeredete.

„Führt Euern Gaul zu mir und gebt ihm Futter. Könnt auch bei uns zu Mittag essen, wart doch schon lange nicht bei uns. Früher habt Ihr uns als besucht, jetzt sind wir Euch wohl nicht gut genug? Fahrt nur rüber zu mir. Was Ihr hier zu tun habt, könnt Ihr nach dem Mittag machen. Sagt zu Millis, ich käme gleich zum Essen, sie kann derweil auftragen . Wenn Euch die Zeit zu lang wird, — auf dem Bettkranz steht eine Ziehorgel, eine zweireihige, die hab’ ich erst gekauft.“

Besseres konnte dem Heinje nicht angeboten werden. Er wollte borgen . . . Die ganze Nacht dachte er darüber nach, wie er das der Verwaltung am besten vorbringe. Und jetzt kann er’s dem Vorsitzenden, dem freundlichen Verwandten, unter vier Augen vorbringen, ohne daß Leute dabei sind.

Auch ein Mittagessen wird nicht schlecht schmecken, ein Mittagessen mit Fleisch . . . Und eine zweireihige Ziehorgel betrachten und sie probieren, vertreibt die Zeit.

Alle Käufer wollten behaupten, es sei noch lange nicht Mittag, aber nach Diels Sackuhr war’s halb zwölf, und die Bude mußte geschlossen werden. Es war Zeit zum Mittag essen.

„Bleib mal bißchen da, Lukjan Danilitsch“, sagte Diel zum Buchhalter, „wollen mal die Rechnungen durchsehen . . . Hast du nicht dein Advokatbuch da?“

„Ja.“

„Dann sieh mal nach, ob du gleich einen Kaufbrief schreiben kannst, auf Land, eigentlich auf einen Garten.“

Lukjan Danilitsch schrieb gerne für einen Rubel Bittschriften, Kaufbriefe, Testamente u. drgl., er konnte aber schlecht russisch. Drum hatte er so ein „Advokatenbuch“ mit dergleichen Formen: Er brauchte nur die Taten einzusetzen.

Die nötige Form war bald ausgefunden. „So“, sagte Diel, „die schreib fertig, und wann du zu Mittag gegessen hast, nimmst du den Akt, Tinte und Feder und kommst zu uns, aber gehst „drüben“ hinein, brauchst dich nicht gleich sehen zu lassen.“

* * *

Das Mittagessen war gut. Heinje fühlte sich anfänglich so recht wohl, aber es wurde ihm endlich doch heiß. Wie sollte er’s anfangen, um sein Vorhaben an den Mann zu bringen? Diel läßt ihn nicht zu Wort kommen. Der redegewandte Bruder kommt auf allerhand zu sprechen. „Die Jungen müsten bald fort. Es fehlt an Kleidung, da kriegen nur die, die an die Front müssen; die anderen müssen in ihren Zotteln von zu Hause herumlaufen. Ein Elend, besonders für die, die von zu Hause keine Sachen Mitnahmen... Das Brot wird auch immer teurer, es geht zu viel an die Front. Die Regierung braucht Gut und Blut, Blut und Gut.

Der Verein verborgt nicht mehr; denn die Ware wird immer weniger, alles geht an die Front. — Wie geht’s Euch denn, Petter? Habt Ihr schon Sachen für den Heine? Wie steht’s mit Brot bei Euch?“

Stumm saß Heinje da und horchte. Auf der Süßholzinsel, wo er wohnte, hatte er vieles noch nicht gehört, er hatte wohl befürchtet, der Heine müsse fort, aber später. Es war alles teuer, aber nicht so aussichtslos. Jetzt erst sah er das Schreckliche seiner Lage. Sie haben nur 3 Hemde und 2 Hosen im Hause. Die besten zieht der an, der fort geht. Das Brot ist all...

„Freund, helf nur; ich muß borgen: Sachen für den Heine, und Brot für uns alle!...“

„Na verkauft doch Euern Garten, oder die Hälfte. Wenn der Heine fort ist, könnt Ihr zwei Alte doch nicht fertig werden damit, dann geht er nur zu Grund. Jetzt tät Euch aber Geld grad not.“

„Der Baier hat mir schon 300 Rbl. für die Hälfte geboten, nur verkaufen wollte ich nicht...“

„Das gab’ ich Euch auch. Schlagt ein. Können’s heut’ noch fertig machen. Nehmt gleich Arschinwar’, Mehl und was Ihr wollt, die neue Ziehorgel...“

„Da sollt aber der Heine lachen. Doch verkaufen möchte ich nicht, auch meine Frau nicht. Streit will ich mir keinen machen.“

„Ach was, Weibsleut, lange Haare, kurzer Verstand! Deine Leute können sich die Sache nicht so vorstellen. Nimm, ich biet’ dir’s gut genug an.“

„Ei no, dann soll’s gelten, wir werden Nachbarsleute, aber meine Frau...“

„Laßt das, wir gehen hinüber in die vorderste Stube, dort machen wir’s fertig. Wollen erst beten, wenn Ihr satt seid.“ —

„Ja, herzlich satt.“ —

„Sprich den Segen zu den Gaben, die wir jetzt empfangen haben.“

Und das Geschäft wurde zur vollsten Zufriedenheit des gottesfürchtigen Mannes abgeschlossen.

So half Gottes Segen dem Bruder David Diel immer mehr auf die Beine gemäß der Losung des gottesfürchtigen Mannes, die er immer auf der Zunge hatte und die auch schön in Fraktur gezeichnet in einem schönen Rahmen in seinem Hause an der Wand hing und die da lautete: „An Gottes Segen ist alles gelegen.“


Unsere Wirtschaft, 1924, Nr. 2, S. 58-61.