Franz wird Rotarmist
Von Chr. Balthasar
1.
„Franz ist tot!“ — Das war alles, was sie aus dem langen Brief eines fremden Mannes verstanden hatte. Franz war schwer verwundet, und sein Kamerad sollte, wenn Franz gestorben wäre, ihr dies und seine letzten Wünsche mitteilen. Sie konnte den Brief nicht zu Ende lesen; sie weinte, der Brief fiel zu Boden.
„Mama, dat! Ich hun s ufghowe. Dat. — Dann dat, Motter, lest Ihr“, sagte der kleine Fritz.
Aber die Mutter weinte auch und hörte Fritzchen nicht. Fritz sah beide an und weinte auch.
Alle weinten.
Vom Hof kam der älteste Sohn, der kleine Franz, sah sich um und ging hinaus. Er wußte schon genug. Sein Vater war im Krieg, und dort werden die Leute totgeschossen. Er wußte noch ganz gut, was ihm sein Vater erzählt hatte. Wenn die Jungen 21 sind, müssen sie fort zu Soldat. Dort werden sie schön angezogen, bekommen eine Flinte, lernen schießen, und wenn sich zwei Kaiser streiten, müssen sich die Soldaten schießen. Was ein Kaiser ist, konnte Franz nicht verstehen. Auf dem Bild war freilich ein Mensch abgebildet; aber Menschen schlagen sich selbst, wenn sie sich, uneinig sind, die andern haben damit nichts zu tun.
Sollte es denn nicht ein Gericht geben, wo man klagen könnte? Gewiß doch. Die Könige sind über den Kaisern. Der Dicke, der zehn „Medaler“ auf der Brust hat, ist ja ein König, hatte ihm sein Vater gesagt. Wenn ich König wäre, würde ich alle Kaiser gegeneinander stellen, und die müßten sich totschießen. Dann brauchten keine Soldaten mehr in den Krieg.
„No, was is dann los, Fränzche? Eier Motter heilt jo so“, fragte der Nachbar, der Vetter Gottfried.
„Der Tagwächter hot n Brief gebrocht; ich denk, ma Date ist totgschosse worre.“ —
„Des tut dr wohl gar net leed? Du heilst jo gar net?“ —
Franz schaute ihn fragend an.
„Vetter Gottfried, wann ich 21 bin un mach fort zum Saldat, dann schieß ich den Kaiser tot, die Kaiser all, daß s kee Kriege mehr gebt.“ —
„Du Host awer frieh Kurasche; s’ nor gut, daß du noch kee 21 bist.“ —
Der Vetter ging. Die Mama und die Mutter weinten noch immer; drum machte sich Franz auf dem Hof zu schaffen. Er weinte nicht.
* * *
Wenn die Mama so manchmal in Sorgen und Kummer gesagt oder gedacht hatte: „Bis der Franz kommt“, so war jetzt keine Hoffnung mehr. Sie war allein und nur auf sich angewiesen. Fränzchen war erst 10 und Fritz erst 4 Jahre alt. Es wird noch lange dauern, bis diese mitschaffen können.
Die alte Mutter war ganz trostlos. Sie war gerne bei ihrem jüngsten Sohn, dem Franz; denn der andere, der Gottfried, hatte eine so garstige Frau. Auch hier die Millis war nicht besonders gut, aber der Franz hatte immer wieder alles gut gemacht. Jetzt aber wird’s gewiß schlechter. Die Zuckerbüchse, das Geldsäckchen und so manches andere wird hinüber in der Millis ihren Kasten wandern. Botmäßigkeit und Ehrfurcht vor alten Leuten kennt die Millis nicht. Der kleine Franz ist ihr so recht nachgeartet; drum hat sie diesen auch nicht gern, der Fritz ist besser.
* * *
Der Vetter Gottfried kam jetzt öfter. Er hatte auch immer guten Rat. Fränzchen konnte nur nicht begreifen, was „Väterliches und Mütterliches“ bedeutete. Auch „Vormund“ konnte er nicht verstehen. — Mund nennt der Schulmeister das Maul; Vormund, Vormund . . .
Endlich kam’s. Ein Mann mit einem Säbel, einer mit Tinte und Papier und noch einer kamen und schrieben alles auf, was drinnen und draußen war. Das sind Vormünder!
Nach einigen Tagen kamen Leute; das ganze Dorf lief zusammen. Beim Franz war „Verstrich“.
„Wer biet mehr? Finf, zehn . . . finf, zehn, und zum . . . Plauz! E anrs her.“ —
So wurde ein Stück nach dem andern abgeklopft. Die Mutter weinte. Franz hätte so gern gefragt, was das bedeute, was die Leute machen, aber die Mutter weinte immer.
Endlich ging einer nach dem andern fort und alle trugen was weg.
„Mama, warom trage die Leit unser Sache fort?“ —
„Dummer“, sagte jemand, „die zahle jo Geld drfor.“
Die Mutter weinte.
Franz schämte sich und war ganz aufgebracht. Warum werden die Sachen fortgeschleppt?
„Den Schwarze raus!“ —
Das Pferd wurde herbeigeführt. Franz war ganz gespannt.
„Dreißig, verzig, finfunverzig, finfunverzig und . . . finf, zehn, fufzehn ...“ — „No, David, mit was soll ich dann arweite? Der Gaul is jo so schun hecher als wie mei ganz Teel ausmacht. Ich kann n net bezahle. Här doch uf un kaaf dir n anre“, flehte die Millis.
„Wer dr mehrscht gebt, der kriet n“, erwiderte David. „Finf.“ —
„Finf un zum . . . Plauz!“
David wollte das Pferd wegführen.
Schnell sprang Franz hin, riß ihm die Zügel aus der Hand und führte den Schwarzen nach dem Stall hin.
„Rotziger!“ — David gab Fränzchen einen Stoß und führte das Pferd ab.
Jetzt weinte Franz und weinte laut. Jetzt ist sein Vater totgeschossen, jetzt kommen Vormünder und verkaufen alles. Sie können nicht mehr fahren. Wenn er nur mal groß ist; auch die Vormünder will er totschießen. Er kann schon selbst reiten, kann fahren, und jetzt? . . .
Die Leute gingen weg. Die Vormünder saßen noch am Tisch und rechneten. Den siebenten Teil vom Unbeweglichen, den vierten Teil vom Beweglichen — fünfzig Rubel.
„Hier, nemm un schreib! Die Kinner ihres brenge mer ins Kreishaus uf Prozente — Mr meent gar net, so arm wie eener is, awer s lest sich doch was zamme. Bis die Kinner majeren sin, gebt s echt Geld. — Die Millis kann mit dem Gottfried zammeschaffe, Tuwak stecke; dann werd se schun auskomme. Sie kann sich aach e Gailche kafe. Des Geld reicht, s bleibt noch iwrig. — Ja, ja, Millis, ich glaab’ drsch, daß drsch schwer is; s is net leicht, mit Kinner dorchzukomme.“ — —
Es hätte auch alles zusammenbleiben können; aber die Vormünder, der David und der Gottfried, drangen aufs Teilen. „Du bist noch jung“, sagten sie, „un heiratst fort; un dann bist du aach e Fra. So is dene Kinner ihre Vermege besser ufbewahrt un sicherer.“
Der Gottfried kam mit einem Wagen, lud der Mutter Siebensachen und fuhr ab; die Mutter folgte weinend. Nach einer Weile kam der Gottfried noch einmal und trieb die Kuh weg. Die Mutter hatte eine zur Mitgift erhalten, und so war immer die erste Kuh die ihrige.
Der Hof wurde leer, die Stube war leer.
Die Mama weinte, Franz weinte, Fritz weinte auch . . .
2.
„Uf, Sohnje, hortig“, rief die Mutter eines Morgens; aber Franz rührte sich nicht. „Sohnje, Franz, hortig, goldiges, stei uf! Franz! . . .“ und sie zog die Decke herunter.
„Hortig stei uf, s is Zeit. Die Leit hun schun die Kälwer uf die Stroß getriewe. Mach doch!“ und sie schüttelte ihn.
„Ich will noch schlofe, s is jo noch dunkel“, und Franz schlief wieder ein.
Endlich nahm ihn die Mutter bei den Schultern, stellte ihn auf und schüttelte ihn so lange, bis er wach wurde. Franz dehnte und streckte sich: er will keine Kälber hüten, da muß man so früh aufstehen.
Die Mutter gab ihm einen Brotsack, die Peitsche und begleitete ihn bis ans Tor. Die Morgenfrische brachte Franz ganz zu sich; er ging, mit der Peitsche knallend, durch die Straße. — Die Kälber sind ein sehr dummes Volk. Sie können nie begreifen, daß sie zu Hause nur zu gewissen Stunden Futter bekommen, auf der Weide aber den ganzen Tag fressen können. Das Züberchen mit Milch und Brocken oder Kleie daheim stehen ihnen immer vor Augen, und oft bekommen sie eine große Sehnsucht danach. Dann strecken sie den Schwanz und heisa! Franz hat dann weit zu laufen. Erst vor dem Tor oder höchstens in einer Sackgasse kommt er dem Ausreißer bei, und einige Peitschenhiebe bringen ihn manchmal bald zu den andern zurück. Doch mittlerweile haben sich schon neue Lauflustige gefunden, und von neuem geht die Jagd los. Viele meinen, es sei ein Spiel, ein Wettlauf. Mit Schwanzstrecken melden sie sich zum Wettrennen, und ohne Erlaubnis stieben sie blind zur Welt hinein; die halbe Herde läuft nach allen Seiten auseinander. Oft stehen Franz und sein Vetter, der „Kälberhirt“, dieser wilden Jagd ganz ohnmächtig gegenüber.
Dann gibt’s einen Skandal: sie haben die Kälber laufen lassen, sie taugen nichts. Die muß man zum Teufel jagen, die Kerle . . .
Drum wird alle Kraft angespannt. Das Feuer kommt aus dem Hals; aber die meisten Kälber, wenn nicht alle, sind erhalten, sind zur Ruhe gebracht, und lustig grasen sie auf der Weide hinunter nach dem Teich. Jetzt kommen die Fliegen und Hornisse und necken die Kälber. Diese schütteln sich, Hüpfen und schlagen mit dem Schwanz, immer schneller zum Teich hin. Manchmal werden die Neckereien zu arg. Die Hornisse setzen sich an den Vorderkörper, außerhalb des Bereiches des Schwanzes; dann springt so ein Kalb quer durch die Herde, bringt große Unordnung in die Reihen, und Franz hat wieder seine Plage, Ruhe und Ordnung herzustellen.
Bald sind sie am Teich. So ein paar Stierkälber brausen dahin (sie haben Durst) und alle nach. Der alte Kälberhirt weiß, daß jetzt keine Gefahr ist, daß aber die größte bald kommen wird, und gibt Franz die nötigen Anweisungen.
Am Ufer des Teiches ist Tumult; alle wollen ans Wasser, aber keins hinein. Es entsteht ein Drängen, und ist eins über die „Schuh“ hineingekommen, so springt es alles über Haufen, als sei’s am Ertrinken. Mit einigen Sprüngen ist es auf dem Trockenen und drängt sich wieder ans Wasser. So geht das, bis der letzte Durst gelöscht ist. Nur einige Öchschen tummeln sich noch herum und reiben sich gegenseitig die angehenden Hörner, die andern stehen schon dicht geschart am Ufer. Doch es ist windstill. Kein kühler Zug vom Teich her. Der Sand am Ufer sprüht Hitze, die Fliegen haben sich alle unten hingezogen; denn oben sind die großen Herren, die Hornisse. Wie ein Luftschiff schnurren diese und besetzen den Rücken der Kälber. Blut soll das Kalb geben: ein wenig den Fliegen, und aus seinen Urquellen den Hornissen. Und es wütet und tobt.
Mahnend geht der Hirt um die Herde, redet Trost ein, zwingt zur Geduld.
Der Alte steckte zwei Stöcke in die Erde, hängte seinen Kaftan darauf und brachte so viel wie möglich von seinem Oberkörper in den Schatten.
„Guck nor immer nooch die Kälwer, Franz. Wann die mol ausenanner sin, brengt se dr Teiwel wider zamme. Mir kenne dene die Fliege net abjage, die sin emol do. Mich hat schon so e manch Flieg gstoche un wann ich mich wehre wollt, war immer jemand do, wu mr ingered hot, oder wu mich „smirno“ gmacht hot, wenn die gute Worte nix gholfe hun. Wie ich noch jinger un gsund war, war ich Knecht... — Hortig, dort laaft den Brodoi sei Mißgeburt wieder fort. Scharf hols zurick. Geb gut acht, ich will e bißche schlofe.“
Die Mittagsonne brannte heiß. Die Kälber wurden immer unruhiger. Sie konnten den Plagen der Hornissen und Fliegen kaum noch widerstehen.
Franz war müde und am Verschmachten. Er ging ins Wasser, um sich die Füße abzukühlen; er ging weiter hinein, um vom reinen zu trinken. Bis er sich umsah, war die größte Unordnung auf dem Standplatz. Die Kälber „büßten“ wie toll; einige rannten davon, gegen das Dorf, gegen den Wald. Noch mehr waren bereit zu folgen.
„Gehst du rom!“ Er wollte ja keins ins Dorf lassen, und der große Haufen nahm die Fährte nach dem Wald. Franz spannte alle Leibeskräfte an, um den Kälbern vorzukommen.
„Auwija“... Franz fiel auf die Erde. Sein Fuß schmerzte furchtbar; er hatte sich einen fingerlangen „Storzel“ eingetreten, den er nicht Herauskriegen konnte.
„Du verfluchtes Mißgeburt. Host wieder romgegafft, un jetz komme die Kälwer ins Waldgras. Zum Maulaffe brauch ich dich net. Wer solln jetz den Pand bezahle? Da, du Nixnutziger, da.“ Und wie Hagel fielen die Peitschenhiebe des Alten, der aufgewacht und zu Hilfe geeilt war, auf Franzens Körper. Nach einer Stunde waren die Kälber wieder am gehörigen Platz, aber Franz lag noch aus derselben Stelle. — „Du steist woll noch net uf? Wenn ich dir hinkomm, ich breng dich uf! — No, her e mol sehe... Ja, des is arig. Werscht so ball net wieder laafe kenne“. . .
„Millis“, sagte der Alte am Abend, „der Franz is doch noch zu jung. Loß den Jung drhaam; ich nemm mr n größere.“
3.
Die Hoffnung, daß der Franz zum Winter seine Kleidung verdient haben werde, war dahin; ihn zu nähren, brachte neue Sorgen hinzu. Die Millis konnte nicht mehr so leicht mit ihren Leuten fortkommen; es waren drei Mäuler, die essen wollten. Doch es fand sich bald Rat. Der „Brodoi“ hatte ein großes Arbusenfeld, das von den Vögeln immer mehr besucht wurde. Der brauchte jemanden zur Vogelscheuche. Es macht nichts, daß Franz lahmt. Er soll nur immer tüchtig schreien: holo-lo-lo hu!
Täglich bekam Franz ein großes Stück Brot; Arbusen, Melonen und Schwarzbeeren konnte er nach Herzenslust essen. Morgens in der Frühe mußte er tüchtig lärmen. Es schien als ob alle Raben das Feld, das Franz zu hüten hatte, auserkoren hätten; sie kamen alle hierher; gegen Mittag zogen sie weg, nur einzelne Irreläufer besuchten ihn hie und da auch am Tag. Die Spatzen dagegen toppten ihn den ganzen Tag. In ganzen Wolken kamen sie angestürzt und flogen nicht eher weg, bis er mit Stock und Steine auf sie losging. Doch die unverschämten Fresser waren im Nu auf dem Zaun und gleich wieder am andern Ende.
Oft beneideten ihn seine Kameraden, er habe nichts zu schaffen: Kälber hüten, Arbusen hüten, das ist doch keine Arbeit! Schlafen, weiter nichts. Sie seien doch andere Helden, sie fahren, rennen und jagen den ganzen Tag. Sie helfen ausreiten, da gibt’s Brot, das ist gearbeitet.
Franz zog sich immer mehr zurück. Er plagte sich Tag um Tag, und niemand wollte ihm zugestehen, daß er etwas leiste. Seine Arbeit war nicht nur unterschätzt, sie war verachtet. Ordentliche Leute haben andere Arbeit. — Nichts war ihm so bitter, als dieses. Er hatte doch immer gemeint, der Brodoi habe die Arbusen gesteckt, er aber beschütze sie vor Vögeln, er kämpfe mit dem Unkraut. Von Früh bis zur Nacht hat er die Vögel zu scheuchen, hier und da das Unkraut auszureißen und umzuhacken. Die Arbusen müssen alle gestellt werden, damit sie rund auswachsen und nicht faulen, die Melonen müssen von Zeit zu Zeit gewendet, die Gurken rechtzeitig gepflückt werden, sonst werden sie bitter, die Melonen zerfallen. Anfänglich geht das noch, aber später werden die Dinger viel „naseweisiger“. Sie kriechen unter ihrem Laut hervor und stellen so den ganzen Busen an die Sonne, prahlen mit Zahl und Größe, vergessen aber, daß die Vögel immer mehr angelockt werden. — Eines Morgens weckte man Franz, als der Tag noch gar nicht grauen wollte. Der Vetter wolle Weggehen, Franz könne die Vögel verschlafen; drum sollte er an der Hütte sitzen bleiben.
Der Herbst war so nahe herangerückt, daß es schon reiste. Franz schnatterte vor Frost. Wozu säumt man noch mit dem Zeug? Man könnte doch schon zusammenräumen; es ist schon zu kalt. Von dem grünen Nachwuchs könnte man „Saft“ kochen oder die Schweine füttern; es wird doch nicht mehr reifer. Er nahm den alten Kittel aus der Hütte und hüllte sich ein. —
So lang sein Vater noch lebte, brauchte er nicht immer so früh auf, wurde er nicht so oft gescholten. Jetzt nennt ihn jeder „Hertje“, spottet über seine zerrissene Kleidung, über seine schmutzigen Füße und über die „Schwarzbeereschnut“.
Ja, wenn sein Vater noch lebte. . . Er sah sich auf einmal in einem schwarzen Soldatenrock, gewichsten Stiefeln und mit einer Flinte. Er war 21 und Soldat. Da war auch der Kaiser. Sofort lud er seine Flinte, zog den Hahn auf. Der Kaiser sah, daß es ihm zu Leibe gehe, und holte aus mit seinem Szepter, dem Knüttel mit dem großen Knopf, den er immer in der Hand hat. . .
„Du vorschlosnes Mißgeburt! Do fresse die Vögel die Erbuse und du schlosst! Da!“ Und Franz bekam einen derben Hieb auf den Kopf. Er sprang hoch auf. Vor ihm stand fluchend der alte Brodoi, in der Luft krächzte eine Schockmillion Raben. — „Dir guck ich schun lang mit zu, wann mr net do is, schlosst du. Mach, daß du haam kummst, daß ich dich net mehr vor mei Aage seh.“
4.
Es war ein harter Winter. Brot war wenig, Brand gar keiner, die Kleidung schlecht. Oft holte die Millis ein Bündel Reisig, aber sie mußte früh gehen, damit es niemand sehen konnte, sonst würde man sie wegen Waldfrevel „penne“. Manchmal ging auch Franz mit, dann brachten sie zwei Bündel; es war auch nicht so „schauderlich“ als allein.
Doch das „nasse Zeug“ wollte nicht gut brennen. Immer hatte die Mutter eine Stunde zu schüren und zu blasen; sie bekam „Wasseraugen“, und doch wollte der Ofen nicht heiß werden. Der kleine Fritz saß noch lange im Ofenkessel, bis es endlich doch zu heiß wurde. Er stellte sich dann auf die Ofenbank und steckte die Nase in den Kessel. Wenn der Kessel rot wurde, so war das ein Vergnügen: es „kritschelte“, wenn er hineinspuckte, und der Speichel rollte in runden Kugeln im Kessel herum, bis er verdunstete. Das war ein Rätsel und lockte ihn immer wieder zu neuen Versuchen, bis die Mutter ganz ernst dagegen austrat. Auch der Franz, der Bengel, machte das nach! — Er wollte sich nur ein bißchen Wärmen, die Mutter bei Leibe nicht ärgern. — Er nahm ein Bündel Stroh und fing an zu „putzen“, die Strohgelenke herauszuschneiden, die „Hosen“ zu entfernen, das dicke und dünne zu sortieren. Es war so einerlei, so langweilig, drum wollte er manchmal flechten. Und er brachte es fertig. Ganz breite, platte, ganz nette, feine, schmale Flechten, auch die zierlichsten Spitzen (Zackflechte) brachte er fertig. Bunt, wie man’s gern sieht, wenn nur Farbe da war. Er war stolz darauf, aber er mußte immer „putzen“, damit die Mutter zu flechten hatte. Die brauchte viel Stroh am Tag, aber wenn sie am Abend bei grellem Mondschein flocht, da gingen auch dem Franz seine größten Bündel drauf.
„Millis“, sagte einst der „Brodoi“, „ich müßt dr n Esser nemme; s geht dr doch schlecht. Der Franz könnt bei mir sin; der hätt dann mehr uf und ach im Leib.“
„Warum hätt Ihr n dann im Herbst net behalle? Jetz, wu dr Winter rom is, wu s ball an die Arweit geht, do wollt Ihr n, bis n Herbst taugt r Widder nix.“ — „Gott behüt! An Waisekinner will ich mich net verfünnige. — Gott bewahr! Wann ich gscholle hun, do war des im Aerger. Im Aerger schlagt jo die Motter ihre eigene Kinner. Der Franz ist fortgerennt; du komst aach net mehr, un do is s hänke gebliewe. Heit saat ma Fra: Geh nor mol zur Millis, saat se, und sag, daß wir n Kind nemme wolle. Der Franz kann bei uns bleiwe, so lang wie er will. — Gell, Franz, du gehst widder bei uns? Mir hun doch Brot, so viel wie du willst.“ —
Franz war still, die Mutter seufzte.
„No, überleg dirsch noch emol. Adje!“ — Sie hatten ja nichts als Süßholztee und Kartoffeln; die Kinder sahen schon ganz fahl aus und hatten dicke Leiber. Auch die Kartoffeln waren am Rand...
Fünf Jahre waren vergangen. Die Millis hatte keine Not mehr. Essen und Trinken war vollauf vorhanden. Der kleine Fritz war schon ein hübscher Junge; er ging schon fleißig in die Schule. Sein „zweiter Date“ war gut mit ihm. Fritz wußte keinen Unterschied zwischen „erstem“ und „zweitem“ Date; seine Kameraden sagten ihm das; seine Mutter bestätigte es.
Nur der Franz kam nicht mehr. Er war draußen an der „Kuschum“. Dort baurierten „Prodois“. Der alte Prodoi fuhr manchmal hinaus oder sein ältester kam herein, um Abrechnung zu geben. Es wollte sich niemals machen lassen, den Franz mitzubringen. Und doch hätte ihn die Mutter so gerne gesehen. Auch ihr Mann wollte den Franz einmal sehen. Der ist doch gewiß schon groß; der könnte vielleicht sogar hierbleiben.
Er, der Mann, denkt ja schon lange daran, Bauerei anzufangen. Jetzt gerade nicht; denn die Bolschewike nehmen die Frucht weg. Drum macht man soviel Aussaat, wie man selbst braucht. Aber wenn die einmal nicht mehr da sind, wenn man wieder Land kaufen kann, dann — — —
Er natürlich ist für die Bauerei nicht erzogen; er könnte aber sein Geld schaffen lassen.
Verdammte Zeiten! Das liegende Papiergeld verliert seinen Wert, das Vermögen wird besteuert, so oder so geht es mit seinem Kapital bergab. J-ja, wenn er noch einmal in Saratow wäre, für Kindeskinder wollte er Kapital zusammenbringen — — —
So saß er gedankenvoll da, der Georg Andreitsch, der Millis ihr zweiter Mann. Seine ganze Vergangenheit zog an seinem Geist vorüber. Nicht so hatte er seine übrigen Lebenstage verleben wollen.
Als 12-jähriger Junge kam er nach Saratow zu Borells. Das waren echte Deutsche und hatten mit ihren Landsleuten, den deutschen Wolgakolonisten, regen Verkehr. Auch sämtliches Dienstpersonal wurde aus den Kolonien angeworben.
Vorzüglich nahmen sie Jugendliche an und „lernten“ sie. In der untersten Stube wohnten etwa zehn Jungen, die ebenso wie er, der Jörg-Jakob, hierhergekommen waren. Sie hatten den Hof und die Bude zu kehren, Produkte für die Küche vom Markt zu holen, im Kontor zu putzen und später Rechnungen zu kopieren. Auf diesem Weg kam einer nach dem andern zu einer bestimmten Profession in Borells Betrieben. „Jungens“, sagte die alte Borellsmutter oft, „seid nur brav und fleißig, damit ihr ordentliche Männer werdet. Seht den Andrei Iwanitsch; der hat auch einmal hier gewohnt und dieselbe Arbeit getan, die ihr jetzt tut. Jetzt ist er ein Mann geworden.“
Die unehrlichen konnte sie gar nicht ausstehen. Der Hofknecht, der Antip, war oft die Zielscheibe ihres Zornes und das Exempel ihrer Mahnungsreden.
„Ach, di ruska blocha ludi! Moi skolka let schiwi, nikochda tschuschoje nitka ne beri“, wetterte die Alte, wenn der Antip die Nadel der Borellsmutter nahm, um die Löcher in seiner Hose zuzunähen.
„Seht, Jungens, der fragt nicht lange und nimmt sich fremden Zwirn! Ist das nicht unverschämt? Wer im kleinen nicht treu ist, ist auch im großen untreu...“
Das Sprachorgan der Alten kam eher nicht zur Ruhe, bis alle Jungen versicherten, daß sie noch nie im Leben etwas genommen hätten und auch nie nehmen würden, bis der Antip feierlich als Spitzbube gebrandmarkt war, indem jemand seinen eigenen Zwirn aus der Kiste hervorholte, zum Beweis, daß jeder losgeplatzte Knopf mit eigenem Zwirn angenäht werde, daß keiner das geringste entwende.
„Smotri, Antip, di bolschoi, eto malenki, fui!“ sagte die Alte und verließ siegesbewußt die unterste Stube.
Sie wußte, daß sie tief in die Seele der Jungen gedrungen war.
Hier wurde er, der Jörg-Jakob, zum Georg und endlich zum Georg Andreitsch. Er hatte schon Aussichten, „Dowerenny“ zu werden, zuerst am Karamysch, dann in irgend einer Stadt.
Borells hatten ihn sehr gerne; denn er verstand es gut, billig zu kaufen und teuer zu verkaufen, und fand immer Gelegenheit, billige Arbeiter anzumieten. Er wurde sogar zu Rate gezogen, wenn ernste Geschäfte bevorstanden. Sein Lohn war schon derart gestiegen, daß nicht mehr eine Sparbüchse, sondern ein Büchlein von der Sparkasse notwendig war. Er wollte sparen, um ein eigenes Geschäft anzufangen.
Ein Geschäft, noch so klein, nur ein eigenes, dann heiraten. Er entsagte so manchem und ertrug das Foppen seiner Kameraden stillschweigend, während die Summen in seinem Sparbüchlein immer schneller anwuchsen.
Da kam die Revolution. Kein Herr, kein Gesetz war im Lande. Borells waren weggefahren. Georg Andreitsch hatte wenig Freunde, besonders im Betrieb; er hatte nur für Borells und seine Ersparnisse gelebt. Er konnte sich in den Ereignissen nicht zurechtfinden. Nur davon war er überzeugt: die Russen wollen die Deutschen ausrotten.
Davon wurde schon lange gesprochen, auch wurde von einem Gesetz gesprochen, nach dem alle Deutschen wegziehen sollen. Jetzt ist’s da! Und doch schreit alles: Freiheit, Gleichheit! . .
Borells hatten ihm so manche Sachen zum Aufbewahren übergeben, manches holte er noch nach, als diese schon fort waren; denn aus allen Häusern wurden Sachen weggeführt, sogar am hellen Tag.
Endlich kamen die Kommunisten und verlangten alle verschleppten Sachen zurück, doch nicht um sie zurückzuerstatten, sondern sie dem Sowet zu übergeben. Drum wollte sie Georg Andreitsch lieber selber behalten. Borells geben sie gewiß lieber ihm als den Kommunisten. — Er zieht nach U., seinem Heimatsdorf, bis das Durcheinander vorüber ist. Niemand verhinderte ihn daran. Borells sind im Ausland; es ist jetzt alles sein eigen.
J-ja, wenn er noch einmal in Saratow wäre, er würde sich noch mehr nehmen. Dann würde er ein steinreicher Mann — —.
"Guten Tag“, unterbrach seine Gedanken eine Stimme.
„Schön Dank. Was suchst du, Sohnche? Wu bist n her? Oder bettelst de?“ —
„Mamme!“ —
Im Augenblick war die Millis aus dem andern Zimmer herbeigeeilt und umhalste den Jungen.
Georg Andreitsch war verstummt. Dieser kleine Knirps, mager wie ein Gerippe, mit dem alten Gesicht, der großen schuppigen Nase, schmutzig und zerlumpt, war Franz, der Sohn seiner Frau. Diesen sollte er seinen Jungen nennen, diese Fratze! Er sah zum erstenmal, daß er eigentlich nicht eine junge rotwangige Frau mit nur einem kleinen, ganz netten Jungen, sondern eine Witfrau mit 2 großen Kindern geheiratet hatte.
„Der Franz will woll net mehr zurick?“ fragte Georg Andreewitsch seine Frau, als der Franz nach einigen Tagen noch nicht fort war.
„Der Jung klagt zu arg“, meinte die Millis, „der muß iwer sei Kraft arweite. Der verkommt ganz.“ —
„Des is schlecht: Der Franz meent vrleicht, daß ersch hier besser krieht. Der is doch schun zu groß zum Romlaafe.“ —
„Nich doch, Jorg, der is net faul, awer der kann doch net mehr arweite, als wie in seiner Kraft steht, un zudem war r schun 5 Johr net bei uns. Der werd jo ganz fremd. Mr brauche jo doch n Jung for unser Arweit, un do kann r hier bleiwe, später werr ich n schun wu s net is unnerbrenge. Du sehst n woll net gern, oder tut drsch Esse leed? —
„Der kann meintwege do bleiwe. — Franz du willst woll net mehr zurick?“
„Nee!“ —
„Warom host de dann dei Sache net mitgebrocht?“ —
„Ei die hun mrsch net gewe, weil ich fort wollt.“ —
„No warom bist n do weggelaafe?“ —
„Des sin lauter Unfläter. Tag un Nacht muß mr arweite, un s Esse ist schlecht. Wann mr krank werd, un do schelle se.“ —
„Ja, Jung, diene is net leicht. Awer wann mr ehrerbietig is un willig, dann gehts em gut. Natirlich, wann mr faul und störrig is, do kanns net gut gehe. Ich hun lang gedient un braucht net wegzulaafe. Vrleicht warscht de faul?“ —
„Faul? Ich hun im Sommer 50 Dessjetin Land geackert; do hot mr sich wer wees wie oft an den große Plug weh getue. Ich mußt die Putzmaschin allee drehe. Ganze Ambare voll Frucht sin do geworft worre. Ich mußt Säck schleppe, bis mrsch schwarz vor die Aage geworre is. — Un wann mr dann umgfalle is, hun se em n Faulpelz gescholle. —
„No mr wolle mol sehe, wie du dich ostelle werscht.“ —
* * *
„Franz, scharf uf! Horrig.“ —
Draußen war grimmige Kälte. Der Wind klopfte an die Laden. Franz packte seinen Kittel enger zusammen und ging hinaus. Im Ambar war Licht, Franz ging drauf los. Dort wurde eiligst Getreide in Säcke eingefaßt. Die „Bolschewike“ waren gekommen, die „Raswerstka“ im Dorfe durchzuführen. Georg Andreitsch war kein Bauer, bei ihm sollte man eigentlich keine Frucht nehmen. Doch aus Erfahrung wußte er, daß der Kommission nicht zu trauen war. Besteht die Kommission aus Dorfarmen, so wird sie gewiß sagen: „Der kanns vertrage“; besteht sie aber aus Wohlhabenden, so wird man sagen: „Wann mir gewe müsse, dann soll aach der zahle“. Der Rat aber fragte nicht, ob das Getreide gekauft oder gebaut war. Er nahm dort, wo vorhanden war.
Drum wollte Georg Andreitsch seine Vorräte beizeiten schützen. Im Heu, unter dem Mistholz, auf dem Boden und in jedem Schlupfwinkel wurden Säcke, Ständer und Kisten mit Getreide versteckt, das letzte wurde aus Schlitten geladen. Nur ein ganz kleines Häufchen blieb im Ambar zurück, genau soviel, wie für den eigenen Bedarf nötig war, ja sogar knapp bemessen, um in die Gruppe der Notleitenden zu kommen.
„No wolle dann in Gottesname fahre. Naa!“ —
Langsam und ohne Geräusch ging’s zum Dorf hinaus dem Walde zu. Der Wind heulte immer ärger. Das Gestöber wurde zum Schneesturm. Es war zwar schauerlich, dafür aber sicher: denn bei solchem Wetter jagt man keinen Hund auf die Straße.
„Brr!“ sagte Georg Andreitsch nach einer Weile. „Hier am Wolfsbrickche kenne mr ablade. Der Ufer is strack, do kann keens ruffahre. Mr kullere die Säck nunner. Dr Schnee setzt sich do an und deckt die Säck zu, dann is alles versteckelt. Gewitter! do is jo was Schwarzes. Die Gawel her! „Kto tut?“ —
„Halt s Maul! mr komme woll zu dicht?“ rief eine Stimme. „Nor zu, hier is Platz genung“, meinte Georg Andreitsch, nach dem er sich vom ersten Schreck erholt hatte.
„Awer, Donnerwetter, dort is jo so was Großes. Des sin Mensche!“ Man hörte das Klirren von Gewehrschlössern. „Herrje, des sin Armeize. Scharf die Säck runner. Rom, Schwarzer! Naa!“ — „Seid nor ruhig, mr fahre weiter links“, mahnte eine Stimme.
„Ach war ich awer vrschrocke“, atmete Georg Andreitsch erleichtert auf. „Des seid Ihr jou, un mir ware bang, na!“
Georg Andreitsch machte die Leine los, um Franz an ihr in den Graben zu lassen. In dem Wolfsgraben war Franz sein Leben noch nicht gewesen. Schon der Name allein flößte ihm immer eine so große Angst ein, daß er stets einen Umbogen machte, um nur ja nicht an den Graben zu kommen. Aber es half nichts, er mußte hinunter, denn die Säcke müssen doch näher zusammen gebracht werden. Sie brauchen ja nicht aufeinander, wenn sie nur näher zusammen liegen. Später müssen sie doch wieder heraufgeholt werden.
Georg Andreitsch meinte, daß Franz an der Leine leicht hinabsteigen und auch wieder heraufkommen könne. Georg Andreitsch wird halten und ziehen.
Franz war nach dieser Arbeit krank geworden. Der Georg Andreitsch wetterte: „So mattherzige Kerle! E bißche Schneeweiter bringt se ins Bett. Der Jung hot gar ke Natur, der is weech un taugt nix zur Arbeit.“
Franz lag im Fieber.
„Mame, Mame! do is n Wolf!, do kommt r . . . Ich krieg den Sack net raus; der is in e Loch gfalle. Ha! Ach du je, mein Leib! Der Sack is so schwer . . . wann ich n leie loß, krieg ich Schläg. . . Ach Herrje, n Wolf, der freßt mich!“
Die Mutter machte ihm Kompresse und redete ihm ein, er soll doch schweigen.
Im Dorf sind Sperrtruppen. Wenn die ihn hören, so werden sie alles erfahren. Georg Andreitsch saß stumm am Tisch.
„Mame, ich will net mehr bei Prodois bleiwe, die schlage immer. Dort sitzt jo der Prodoi am Tisch! Der rechnt, wievel Silwerruwel der Weez inbrengt. — Vetter, rechnt doch emol, wie oft daß ich mr n Nawel ausgehowe hun an eirn große Plug. Der Plug greift e halb Erschin, un jeden Summer hun ich 50 Dessetin geackert. — No ihr wollt wol net? Rechnt nor weiter! Wie oft hot mrsch in dr Seit g’stoche? 50.000 mol im Johr! Ja so was wollt ihr net rechne. Des brengt ke Ruwel! Wölf! Ha! do owe steht noch eener! Dohier! Loßt mich gehe, freßt Weez! Gell, Weez freßt du keen? Des is gut, daß du keen freßt, drum leit r aach hier unne im Wolfsgrawe, drowe derf r net leie. Die Leit brauche Brot. — —
„Guten Tag!“ —
Georg Andreitsch fuhr auf. Vor ihm standen die Kommission und einige Rotarmisten . . .
„Millis, mach den Jung still! Schöndank! Was sucht r?“ fragte Georg Andreitsch und versuchte, sich zu fassen.
„Ich bin doch keen Bauer“, fuhr er fort, „un hun aach ke Geld, um Vorrat zu kaafe. Ihr wißt doch, daß ich mei Lebtag gedient hun un jetz ohne Stell bin. Kommt, guckt selbst.“ —
„Sag emol, Jorg, du könntst uns so nützlich sin“, sagte einer von der Kommission, „du kannst schreiwe, verstehst die ruschig Sproch un bist üwerhaupt weiter als wie mir dohier, un doch helfst du uns net un loßt dich aach gar net sehe. Oder is dir dr Sowet Gift?“
„Gott bewahr. Ich war bei dene erschte Bolschewike un bin heit noch for die Freiheit. Ich bin doch n Proletarier. Ich will mich nor net ufdränge, awer wennt r mich braucht, dann bin ich bereit, warom dann net? Zu jeder Zeit.“
Dienstwillig öffnete er Ambar und Scheune, aber noch flinker das Türchen, als die Männer abtreten wollten. Er klappte Tür und Tor zu und schaute noch einmal durch den Ritz, ob die Kommission nicht noch einmal zurückkomme.
Georg rieb sich vergnügt die Hände, — es kam niemand zurück, also ahnte niemand, daß er Weizenvorräte hat.
Franz saß am Fenster in der Sonne. Es war ihm so behaglich. Die Sonne wärmte schon tüchtig. Er fühlte sich genesen.
Georg Andreitsch halte ihn immer in Ruhe gelassen, nicht so wie Prodois, und das veranlaßte ihn zu vergessen, daß er in den Wolfsgraben im tiefen Schnee baden mußte. Er sah durchs Fenster, wie Georg Andreitsch allein herumhantierte, ohne jemand zu Hilfe zu rufen; daher entschloß er sich, bald gesund zu werden und tüchtig mitzuhelfen, zumal mit dem Frühjahr immer mehr Arbeit herausschaute.
Franz konnte in Georg Andreitsch keinen Freund finden, aber er war besser als der Prodoi, das stand fest.
Sogar der Weizen war ohne Franzens Hilfe aus dem Wolfsgruben geholt worden. Prodois hätten so etwas nicht fertig gebracht die Arbeit mußten Knechte leisten, und wenn sie draufgingen. Georg Andreitsch ist einfach ein guter Mensch, und Franz will ihm tüchtig helfen, wenn er gesund ist.
„Franz, guck, ich hun en neies Buch in dr Schul kriet.“ —
„Ja du sollst Kreisschreiwr werre. Lern nor! Du bist jo aach s Goldige. Ich brauch nix zu lerne, zum Stallmiste bin ich aach so gut.“
„Jung“, fiel die Mutter ein, „wer lernt dr dann des? Du bist wol net aach mei Kind wie aach dr Fritz?“
„Jjo, Mame. Awer ich mußt denk Kälwerhert sein Tee und dem Prodoi sei Schwarzbeere esse, daß mehr for den Fritz iwrig gebliewe is. Ich hun gschafft, daß der Fritz zu esse hatt. Der braucht nor zu esse un zu spiele, un ich? — Drum is r gsund un stark, un ich bin n eleniger Kerl. Der kann lerne, un ich bleib dumm. Loßt mich aach emol schlofe, ausruhe un esse, ob ich net aach so werr!“
„Was hätt r dann forn Streit?“
Georg Andreitsch setzte sich an den Tisch.
Alle waren mäuschenstill.
„Es is widder n Sperrtrupp komme“, sagte Georg Andreitsch; „mir müsse die Frucht beiseile raume. Franz, du fahrscht fort. Wann dich jemand frogt, do sagste, du däst Some ins Feld fahre an die Brunne, ans Landstück. Am Heuweg drehst de dich awer links und fahrscht in Wald. Dort spannst de aus un kommst heem geritte. Vrstanne? Loß dich net fange. Fahr in Gottes Nome.“
Voll Angst, angehalten zu werben, heckte Franz auf dem Wagen und lenkte dem Wald zu. Niemand versperrte ihm den Weg bis an den Kirschenberg, wo er in den Wald hineinfahren wollte.
Da wollte die rappelköpfige Stute sich nicht lenken lassen, und der sonst kaltblütige Fuchs stutzte.
„Na! Mr meent, ihr wärt noch net im Wald gewest. Na!“ —
„Halt! Wohin?“ —
Wie aus der Erde hervorgewachsen, stand vor Franz ein Rotarmist, ein junger Mann mit einem Gewehr.
„Ich will uf die Stepp, ans Landstück. Ich will Some hinfahre, mir wolle ackere“, stotterte Franz.
„Du willst Frucht vorsteckele. Wie schreibst du dich?“ —
„Mei Stiefvatter kommt nooch, mir wolle ackere . . .“ —
„Still un hör uf zu lüge!“ —
Eine vielsagende Bewegung macht Franz ganz stille. Er hätte verschwinden mögen, aber das Gefährt . . .
„Stei mol ab un spann aus!“ —
Franz spannte aus und koppelte die Pferde an einen Baum. Dabei beantwortete er eine Frage des Rotarmisten nach der andern.
„Du schämst dich woll net, dene Blutsuckler zu helfe? Du weeßt woll net, daß schon drei Johr Kampf uf Tod und Lewe vor sich geht. Alle Unnerjochte hun sich in Stadt un Dorf vereinigt un e Regierung der Arweiter un arme Baure ausgerufe. Die wolle net mehr weiter Knechte bei dene Reiche sin. Die Reiche hun sich aach zammegschart un wolle uns widder ins Bockshorn jage un n Kaiser insetze. Die hun des Kapital, des Geld, un mir, die Masse, hun die Macht; drum dauert der Kampf so lang. Die wohlhabende Baure sin sich oft net klar, wem daß se beistehe solle un mache s oft so, wie dein Stiefvatter oder dein Vetter Prodoi. Du awer bist n armer Jung un werscht vun dene Reiche in die Ecke romgstoße; du mißt bei die Arme gehe un uns helfe. Die Reiche wolle die Rot Armee und die Arme so lang hungere losse, bis se widder unnertänig werre un sich widder ausbaite losse.
* * *
Schweigend ging Franz nach Hause.
„Du kommst jo ohne s Gfährt?“ —
„Ich bin gfange worre.“ —
„Himmel-Feuer Stern . . .“ mit der Gabel, die Georg Andreitsch in der Hand hatte, schlug er Franz nieder.
„Schloskapp, wu de bist! konntst du net fortjage, du Maulaff?“ —
„Jorg, du schlagst jo des Kind tot“, rief die Mutter.
„Kind? Bengel von 15 Johr un seht net, was vor m steht. Des Gfährt mit den Weez hat jetz dr Teifel geholt“, und die Gabel tanzte auf Franzens weiche und harte Körperteile weiter, bis Georg Andreitsch, ein Unglück befürchtend, die Gabel beiseite warf. Franz stürmte zum Tor hinaus, schnurstracks in den Sowet.
„Was suchst de Jung?“ fragte der Truppenführer.
„Des is n hiesiger Bauersjung“, sagte der Vorsitzende, „der meldt sich als Freiwilliger. Er will eich helfe vorsteckelte Frucht suche. Der is ganz vorbittert uf manche Baure.“ —
„Wann der Rache ausüwe will“, meinte der Truppenführer, „do kenne mir n net brauche.“ —
„Genosse Natschalnik, ich will ke Rache ausüwe; awer ich will geger die kämpfe, wu mich Tag un Nacht gequält hun, wu uns hungere losse. Ich will kämpfe geger alle Unnerdrücker, un alle Arme, wu in meiner Klaß stehe, helfe. Gebt mir nor e Flint un loßt mich mit eich!“ —
Der Anführer sagte nun zu einem Rotarmisten: „Gebt dem Jung e Flint un nemmt n mit.“