Geschichte der Wolgadeutschen
FREUNDSCHAFT
Tageszeitung der sowjetdeutschen Bevölkerung Kasachstans
17. Januar 1981 № 12 (3890)

Die nie Verzagende
Zum 85. Geburtstag von Klara Obert

Ein Mensch lebt. Verrichtet seine menschlichen Pflichten, arbeitet. Liebt seine Heimat, sein Volk, dessen Literatur. Lauscht seinem Volk die Weisheiten ab, sammelt seine Folklore. Schreibt selbst darüber, was das Herz bewegt. Macht das alles ohne großes Getue, ohne sich vorzudrängen. Verzagt nicht, bleibt in den Kampfreihen bis zuletzt, bis das Herz bricht. Dann studiert man seinen Nachlaß. Und ist erstaunt und ergriffen: Was für ein Herz ist gebrochen!

So war Klara Obert.

Sie wurde am 14. Januar 1896 in einer Lehrerfamilie im Dorfe Brabander an der Wolga geboren. Von frühester Kindheit an interessierte sie sich für das Leben, die Sitten und Bräuche der Bauern, ihre Sprache, Volksdichtung. Zuerst waren es die verschiedensten Kinderverse und Wiegenlieder, z. B.: „Troß, troß Trillchen, der Bauer hat ein Füllchen, Füllchen will nicht laufen, der Bauer will’s verkaufen. Springt das Füllchen weg, plums — liegt der Bauer im Dreck“. Was für ein Jubel, wenn die im Kreis stehenden singenden Kinder das „Füllchen“ „trostern“ und es, an den Händen haltend, „In den Dreck werfen“. Oder die verschiedenen Varianten von „Batsche-batsche Kuchen“ oder „Heija—bumbaja“: „Helja-bumbaja, schlag’s Gickelche tot: Es legt mir keine Eier und frißt mir mein Brot. Die Mutter bäckt Kräppel und bäckt sie zu hart. Sie schließt sie ins Kästchen und gibt mir nicht satt. Sie gibt mir ’nen Brocken, die Hühner zu locken. Komm ba, komm bi, den Brocken eß ich!“

Dieses Liedchen hinterließ einen tiefen Eindruck: So manches hungrige Kind aus dem Heimatdorf konnte „Heldin“ des Wiegenliedes sein. Auch die Märchen vom „Aschenputtel“, der „Goldmarle und Pechmarle“ gingen sehr zu Herzen. Dann während der Schulzeit im Heimatdorf kamen die „Kopfliedchen“ an die Reihe, d. h. die Lieder der Dorfdichter. Allmählich wuchs man heran, und die Vierzeiler, „Tanzlieder“ genannt, bemächtigten sich der Backfische und Jungen. Die „ledigen“ Mädchen „schnerrten“ das Tanzbein zusammen mit den Burschen, die kleineren Mädchen — noch ohne „Kavalliere“. Besonderer Beliebtheit erfreute sich das Tanzlied „Heirat du, heirat du, heirat du ’n Russebu: der kann säe, der kann mähe, der kann alle Arweit tue“, das noch in der „alten“ Zeit unter den eingewanderten Handwerkern entstanden war, die von der „Bauerei“ wenig verstanden. Endlich kamen die Volkslieder. Durch diese Lieder lernte sie ihr Volk besser kennen. Die späteren Jahre zeigen, daß sie mit ihnen durchs Leben gegangen und alt geworden ist. „Sie verschönerten mir alle ,Jahreszeiten‘ meines Lebens, und ich möchte die Liebe zum Volkslied einem jeden ins Herz hineinzaubern.“

Aus Brabander kam Klara Obert an das Saratower Mädchengymnasium und dann an die Universität. Hier studierte sie bei dem berühmten Folkloristen und Dialektologen Prof. Georg Dinges. Von den Sommerferien zurückkehrend, brachte sie ihrem hochgeehrten Lehrer „auf einen Ruck“ 100 Volkslieder und eine Menge Vierzeiler (Schwänke) mit. Prof. Dinges verteilte unter den Studenten Notizbücher. Jedes Blatt mußte ein Dialektwort enthalten mit Übersetzung ins Hochdeutsche und einem Satz mit diesem Wort. Prof. Dinges schätzte ihre Arbeit hoch ein. Das war für Klara Obert bestimmend. Eine Überraschung für Prof. Dinges war die Veröffentlichung im „Wolgadeutschen Schulblatt“ des Beitrags von Klara Obert „Das Volkslied und die Vierzeiler im Dorfe Brabander“. Nach Beendigung der Universität war Klara Obert Lehrerin in Mariental, in „Pannestiel“. Die Bedeutung der Folklore für jedes Volk war ihr zu Bewußtsein gekommen, und sie sammelte fleißig, soweit es ihr die Berufstätigkeit als Lehrerin und die häuslichen Pflichten als Hausfrau und Mutter erlaubten, Schwänke, Kinderreime, Volkslieder und besonders Sprichwörter und Redensarten. Sie begeisterte auch andere für diese Arbeit. (Bis 1940 hatte sie mehr als 1 000 Sprichwörter und Redensarten gesammelt, 500 russische aufgeschrieben, sie mit den deutschen verglichen, den Ursprung vieler sowjetdeutscher Sprichwörter und Redensarten festgestellt). Dann übersiedelte Klara Obert nach Saratow und war als Deutschlehrerin am Institut für Planung tätig. In dieser Zeit bestand sie auch die Kandidatenprüfungen und schrieb ihre Dissertation „Die Wolgadeutschen Sprichwörter und Redensarten im Lichte der marxistischen Weltanschauung“. Wissenschaftlicher Leiter war Prof. Dulson. In den Nachkriegsjahren lebte und arbeitete Klara Obert lange Zeit in Gorno-Uralsk und zuletzt in Nowosibirsk, wo ihre Kinder lebten. Mit 60 Jahren gab sie die Lehrertätigkeit auf und begann von neuem die Sammelarbeit. Ergebnis: zirka 2 000 Sprichwörter und Redensarten, in einer Kartei festgehalten, eine ansehnliche Zahl von Volksliedern, Schwänken, Scherzen, Witzen, Kinderspielen mit Liedern, eine beträchtliche Anzahl von Dialektismen und Russizismen, die bei den Sowjetdeutschen gang und gäbe sind. Als Ergebnis der Sammelarbeit sind auch andere Schriften anzusehen — ein kleines Bühnenstück „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“, eine lustige, sehr wertvolle Inszenierung „Hochzeit“ u. a. Auch die Arbeit an den Sprichwörtern und Redensarten zeitigte Beiträge. So erschienen 1965—1966 im NL „Sowjetdeutsche Sprichwörter und Redensarten“ und die preisgekrönten Beiträge „Die Frau in der sowjetdeutschen Folklore“ und „Arm und Reich in Alltagsrede und Kleindichtung“, Interessant: an letzterem Thema arbeiteten Klara Obert und Victor Klein jeder unabhängig vom anderen. Legten dann ihre Ergebnisse zusammen, und der Beitrag trägt beide Unterschriften. Auch die von ihr bearbeiteten Schwänke sind ein Ergebnis der Sammelarbeit, ein Teil derer wurde ins Buch „Nicht aufs Maul gefallen“ aufgenommen (1967). Mit der Gesundheit wurde es immer schlechter. „Ich muß mich von allem anderen befreien und nur an den Sprich Wörtern arbeiten, bevor mir der Tod die Feder aus der Hand schlägt... Wem soll ich die Folklore vermachen? Victor Georgijewitsch ist jünger, er kann die Arbeit zu Ende führen.“ Die Arbeit an der Folklore war ihr Lebenswerk.

Außer der Folklore war sie „ganz krank“ um unsere sowjetdeutsche Kinderliteratur. Ihre ehemaligen Schülerinnen waren schon Mütter und sogar Großmütter, baten sie immer wieder um Rat: wie den Kindern die Liebe zur Muttersprache beibringen? In den Heften und im Herzen lebten viele Kindertypen. Sie erweiterte diese Fundgrube, die Erwachsenen miteinbeziehend, und schuf eine Reihe köstlicher Geschichten, die 1971 in Buchform erschienen: „Kindermund. Ein Büchlein für Eltern und Lehrer.“ Tief im Herzen der Lehrerin Klara Obert lebten Kind — Schule — Elternhaus. Sie schenkte den Kindern manch schöne Verse, in denen die Natur und die Volksdichtung, Märchen und Sagen leben und in einfacher, volkstümlicher Sprache ans Kinderherz pochen. An dieser Stelle sollen besonders hervorgeheben werden die kennzeichnendsten Charakterzüge der Autorin selbst und ihrer Werke: Liebe zum werktätigen Menschen; von frühester Kindheit an zum Guten erziehen. um ein würdiger Erbauer der kommunistischen Gesellschaft zu werden. Denn: die junge Generation löst die alte Garde ab und nimmt auf ihre Schultern die Sorge ums Vaterland („Ablösung“). Die Erwachsenen müssen die Gedankenwelt, die Gefühlswelt der Kinder gestalten, besonders durch die Literatur. Und Klara Obert ist bemüht, mit ihren Gedichten und Erzählungen das Ihrige zu tun. Die Erzählerin Klara Obert kommt ohne den belehrend erhobenen Zeigefinger aus, den die Lehrerin Klara Obert hätte in Versuchung führen können. Beredtes Zeugnis legen ab „Peter und der Hebe Gott“, „Seelchen“ u. a. „Heinchens Universitäten“ sind die Geschichte eines armen Jungen, seine schwere Kindheit, sein Lebens- und Kampfweg, seine Entwicklung zum guten Menschen in den Verhältnissen der Sowjetmacht. Sprachlich, künstlerisch kann die Erzählung als das Beste der Prosaistin Klara Obert angesehen werden. Die Liebe zum Guten, zu den Schönheiten der heimatlichen Natur, zum arbeitenden Menschen, zum Leben und zur Arbeit kommen in ihren besten Gedichten und in ihren Briefen überzeugend zum Ausdruck: „Samenkinder“, „Ich glaube ans Gute“, „Das gute Wort“, „An meinen Sohn“, „Silberpappeln“, „Meine Heimat“, „Blütenstand“, „Pflug und Flug“ u. a. (Wir veröffentlichen einige davon).

Klara Obert war Lehrerin, weil sie anders nicht konnte, Folkloristin, weil sie darin ihre Lebensaufgabe sah; schrieb Gedichte und Prosa, weil es ihr ein Lebensbedürfnis war. Sie verfolgte aufmerksam alle Veröffentlichungen der sowjetdeutschen Literatur, freute sich der Erfolge, grämte sich über Fehlgriffe, Mißerfolge. Im Gedicht „Herbst" schrieb sie: „Ich liebe, was im Werden, was auf der Zukunft Bahn, drum stimm ich, wenn ich singe, ,Schön Ist die Jugend!‘ an.“ Und in „Ein Stückchen Sonne“: „Wenn schwach auch meine Lieder, ich werde mich bemühn: wenn klein auch ist der Funke, ist’s dennoch Sonnenglühn.“

Gestorben ist Klara Obert am 2. September 1971. Aber sie bleiben nachahmenswert — ihr optimistischer Lebensmut, ihre unbezwingliche Liebe zum Leben und ihr rastloser Arbeitswille.

Woldemar EKKERT


Freundschaft, 1981, Nr. 12, S. 3.