Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1925 № 7, 8, 9

Ein ganzes Leben
Erzählung von Boris Pilnjak (Wogau).

Pilnjak Boris (B. A. Wogau) wurde geboren zu Moshaisk, Gouv. Moskau, den 29. September (12. Okt.) 1894. Sein Vater ist der Tierarzt Heinrich Wogau aus Katharinenstadt, seine Mutter — Olga Iw. geb. Sawinowa, die Schwester des Malers Sawinow. Der Knabe genoß seine Elementarbildung zu Hause, besuchte dann die Realschule zu Bogorodsk, Gouv. Moskau und Nishny-Nowgorod, immer seinen Vater im Dienste begleitend, der Tierarzt in der Landschaft war. Nach Abschluß der Mittelschulbildung besuchte er das Moskauer Handelsinstitut, das er 1916 beendete. Seine ersten Werke erschienen in verschiedenen Zeitschriften seit Beginn des Krieges. Heute ist er unstrittig der hervorragendste unseren den jüngeren russischen Erzählern. Seine Schreibart gemahnt an die Andrei Bely's, unter dessen Einfluß er auch heute noch steht.

Wogau-Pilnjak ist sehr fruchtbar. Er hat bereits an ein Dutzend Bände auf den Büchermarkt gehen lassen. Sehr treffend schildert er unsre neue Zeit und ihre Menschen. Sein Hauptwerk, der Roman «Голый год» (Das Hungerjahr) ist in den meisten Kultursprachen erschienen.

Für den schlichten Leser sind seine Werke der eigenartigen Schreibweise wegen schwer verständlich. Um aber unsere Leser doch mit ihrem berühmten Landsmann bekannt zu machen, wählten wir eine seiner einfachsten Erzählungen: „Ein ganzes Leben“. Wir behalten uns vor, später noch einmal auf das dichterische Schaffen Pilnjaks zurückzukommen.

K-r.


I.

Die Schlucht war tief und öde.

Ihre lehmigen, gelben Abhänge, mit rotstämmigen Fichten bewachsen, senkten sich in steilen Absätzen, und ganz unten auf dem Grunde sprudelte eine Quelle. Rechts und links über dem Abgrunde stand ein Fichtenwald, dunkel, alt, mit Moos bestanden und von Erlengebüsch durchwachsen. Und über ihm hing ein schwerer, grauer, niedriger Himmel.

Nur selten weilten Menschen hier. Das Gewitter, das Wasser, die Zeit entwurzelten die Bäume. Sie sanken nieder, bedeckten die Erde, verfaulten und verbreiteten den strengen, süßlichen Geruch verwesender Fichten. Disteln, Zichorie, Schafgarbe und Wermut wurden jahrelang nicht ausgerissen und überwuchsen die Erde wie stachlige Borsten. Ans dem Grunde der Schlucht war ein Bärenlager; im Walde gab es viele Wölfe.

An dem steilen, schmutziggelben Abhange riß sich eine Fichte los, überstürzte sich und blieb viele Jahre lang mit den Wurzeln nach oben hängen. Ihre Wurzeln, die einem leblosen Seepolypen glichen, der seine Glieder in die Luft streckte, waren schon mit Kuckucksmoos und Wachholder bewachsen.

Und in diesen Wurzeln bauten sich zwei große, graue Vögel ihr Nest, ein Männchen und ein Weibchen.

Es waren große, plumpe Vögel mit grau-gelbem, bräunlichem, dichten, Gefieder. Ihre Flügel waren kurz, breit und stark. Ihre Füße hatten große Krallen und waren mit schwarzem Flaum bewachsen. Auf kurzen, dicken Hälsen saßen große, viereckige Köpfe mit gelben Raubtierschnäbeln und mit runden, finsteren, schwermütig blickenden Augen.

Das Weibchen war kleiner als das Männchen. Ihre Beine schienen feiner und schöner zu sein, und es lag eine gewisse schwere und grobe Anmut in der Biegung ihres Halses. Das Männchen aber war plump, eckig, und einer seiner Flügel, der linke, ließ sich nicht gehörig zusammenfalten: so lahm hing er seit der Zeit, als er mit anderen Männchen um das Weibchen gekämpft hatte.

Das Nest breitete sich zwischen den Wurzeln aus. Unter ihn, stürzte an drei Seiten der Abhang hinunter. Über ihm breitete sich der Himmel aus und ragten ein paar abgebrochene, morsche Wurzelreste hervor. Ringsum und unten lagen Knochen, vom Regen schon abgewaschen und weiß geworden. Das Nest selbst aber war mit Steinen und Lehm ausgelegt und mit Moos gepolstert.

Das Weibchen saß immer in, Neste.

Das Männchen trieb sich allein auf den, überhängenden Wurzelarm herum, mit seinem finsteren Blick weit in die Runde spähend, oder es saß unten, den Kopf in die Schultern gezogen und den Flügel schwer hängen lassend.

II.

Hier, nicht weit von der Schlucht, hatten sich diese beiden großen Vögel zum erstenmal getroffen.

Schon hielt der Frühling seinen Einzug; an den Abhängen taute der Schnee; im Walde und in den Tälern wurde er grau und weich; die Fichten strömten einen schweren Duft aus; auf dem Grunde der Schlucht erwachte die Quelle. Die Dämmerungen waren grünlich, lang und von warnenden Lauten durchdrungen. Die Wölfe gingen in Rudeln umher, und die Männchen bissen sich um die Weibchen.

Sie begegneten einander auf einer Waldlichtung in der Abenddämmerung.

Dieser Frühling, die Sonne, der weiche Wind erfüllten den Körper des Männchens mit einer unbekannten Schwere. Früher flog er umher oder saß, schrie oder schwieg, flog schnell oder langsam, denn die Ursachen dafür lagen in ihm oder in seiner Umgebung: spürte er Hunger, so flog er aus, um einen Hasen zu sangen, zu töten und zu verzehren ; blendete ihn die Sonne zu sehr oder wehte der Wind zu scharf, so verbarg er sich vor ihnen; sah er einen Wolf heranschleichen, so flog er schnell fort von ihm.

Jetzt war es anders.

Jetzt war es nicht mehr das Gefühl des Hungers oder der Selbsterhaltung, das ihn zwang zu fliegen, zu sitzen, zu schreien oder zu schweigen. Etwas, das außer ihm und seinem Empfinden lag, beherrschte ihn.

Wenn die Dämmerung hereinbrach, erhob er sich wie im Traum, ohne zu wissen warum, von seinem Platze und flog von einer Lichtung zur andern, von Abhang zu Abhang. Lautlos bewegte er seine großen Flügel und scharf spähte er in den grünlichen, sich verdichtenden Nebel.

Und als er einst auf einer Lichtung seinesgleichen sah und in ihrer Mitte ein Weibchen, da stürzte er sich auf sie, ohne zu wissen, warum es so sein mußte. Er fühlte eine maßlose Kraft in sich und einen großen Haß gegen jene anderen Männchen.

Er umkreiste langsam das Weibchen, stark auf-tretend, die Flügel hängen lassend, den Kopf eingezogen, und sah die Männchen schnell an.

Einer von ihnen, der bisher Sieger gewesen war, versuchte ihn zu stören, dann aber stürzte er sich auf ihn mit zum Schlage bereitem Schnabel, und zwischen ihnen begann ein langer, grausamer Kampf, — sie flogen gegeneinander, schlugen sich mit Schnäbeln, Brust, Krallen und Flügeln, dumpf kreischend und sich gegenseitig die Leiber zerfleischend.

Sein Gegner erwies sich als schwächer und ließ nach; er aber wandte sich wieder dem Weibchen zu und begann von neuem, es zu umkreisen, ein wenig hinkend und seinen blutigen linken Flügel auf der Erde nachschleppend.

Fichten umstanden die Lichtung, die Erde war ganz mit Nadeln bestreut, blau schimmerte der nächtliche Himmel.

Das Weibchen war ganz gleichgültig gegen ihn, wie gegen alle. Sie schritt gemächlich auf der Achtung einher, scharrte die Erde aus, fing eine Maus und fraß sie ruhig. Den Männchen schenkte sie scheinbar keine Aufmerksamkeit.

So ging es die ganze Nacht.

Als aber die Nacht verblich, als sich über den Osten ein grünlich-lilafarbener Lichtstreifen  legte da ging sie langsam zu dein, der sie alle besiegt hatte, schmiegte sich an seine Brust, berührte zärtlich mit ihrem Schnabel seinen kranken Flügel, als wollte sie ihn beriechen und heilen, und, sich langsam von der Erde erhebend, flog sie der Schlucht zu.

Und er flog ihr nach, trunken schreiend, schwer seinen Flügel bewegend, ohne ihn aber zu beachten.

Sie ließ sich gerade auf den Wurzeln jener Fichte nieder, wo später ihr Nest entstand. Das Männchen setzte sich neben sie. Ganz unentschlossen, gleichsam verwirrt war er.

Das Weibchen umkreiste ihn einigemal und beroch ihn wieder. Dann drückte sie ihre Brust gegen die Erde, spreizte die Beine, erhob den Schwanz und erstarrte, die Augen halb schließend, in dieser Lage. Das Männchen warf sich auf sie,  verbiß sich mit dem Schnabel in ihr Gefieder, die Erde mit seinen schweren Flügeln schlagend; — in seinen Adern rieselte eine so selige Pein, eine so starke Freude, daß er wie geblendet war, nichts fühlte außer dieser süßen Pein. Er stieß einen  durchdringenden Schrei aus, der das Echo erweckte und den Morgen erschütterte.

Das Weibchen ergab sich demütig.

Über den Osten spannte sich schon das rote  Band des Sonnenaufganges; der Schnee in den Tälern färbte sich lila.

III.

Im Winter standen die Fichten unbeweglich, und ihre Stämme schimmerten braun. Der Schnee lag tief, zu großen Bergen zusammengefegt, die sich düster in die Schlucht neigten; grau breitete sich der Himmel aus ; die Tage waren kurz, und die endlosen Dämmerungen wichen nie ganz aus ihnen. In der Nacht aber krachten die Stämme und brachen die Äste vor Frost. Schweigend stand mit blassem Schein der Mond am Himmel, und es schien, als ob er die Kälte noch verschärfte.

Die Nächte wurden den Vögeln durch den Frost und dieses Phosphorlicht des Mondes zur Qual. Sie saßen in ihren Nestern zusammengekauert, dicht aneinandergeschmiegt, um sich zu erwärmen; aber der Frost drang doch durch das Gefieder, rieselte über den Körper, den Rücken entlang bis zum Schnabel und machte die Füße erstarren. Und das irrende Licht des Mondes ängstigte sie. Es kam ihnen vor, als ob die ganze Welt aus einem einzigen großen Wolfsauge bestände und darum so schrecklich leuchtete.

Und die Vögel schliefen nicht.

Sie wälzten sich schwerfällig im Neste herum, änderten ihren Platz; ihre großen grünfunkelnden Augen waren weit geöffnet. Wenn sie hätten denken können, sicher hätten sie nichts sehnlicher als den Morgen herbeigewünscht.

Schon eine Stunde vor der Morgendämmerung, wenn der Mond verschwand und allmählich das Licht hervorkam, begannen die Vögel Hunger zu verspüren. Im Munde hatten sie einen unangenehmen, galligen Geschmack, und von Zeit zu Zeit krampfte sich ihr Kropf schmerzhaft zusammen.

Und wenn der Morgen vollends da war, flog das Männchen nach Beute aus. Er flog langsam, entfaltete breit seine Flügel, ohne sie schnell zu bewegen, und spähte scharf vor sich hin auf die Erde. Gewöhnlich jagte er Hasen. Manchmal dauerte es lange, bis er eine Beute fand. Er flog über der Schlucht, entfernte sich oft bis zehn Werst weit vom Neste, flog aus der Schlucht in die unermessliche weiße Ferne, wo im Sommer die Kama war. Wenn keine Hasen zu finden waren, warf er sich auf die jungen Füchse und Elstern, trotzdem ihr Fleisch nicht schmackhaft war.

Die Füchse verteidigten sich lange und hartnäckig, indem sie heftig bissen; man musste sie vorsichtig und geschickt angreifen: es galt, ihnen auf einmal den Schnabel in den Hals neben dem Kopfe zu schlagen und sofort mit ihnen, die Krallen in ihren Rücken klammernd, in die Luft zu fliegen; — in der Luft setzte der Fuchs keinen Widerstand mehr entgegen.

Mit der Beute flog das Männchen nach Hause in die Schlucht, in das Nest, und hier fraßen sie, er und das Weibchen, alles auf einmal auf. Sie fraßen nur einmal am Tage, aber soviel, daß sie sich kaum noch bewegen konnten und der Kropf ihnen schwer herunterhing. Sie fräßen sogar den mit Blut getränkten Schnee mit. Die übriggebliebenen Knochen warf das Weibchen den Abhang hinab.

Das Männchen setzte sich auf den Wurzelarm, krümmte sich zusammen und plusterte sich auf, um sich’s bequemer zu machen. Er fühlte, wie es ihm nach der Mahlzeit warm durchs Blut rann, wie sich etwas durch die Därme ergoß, das ihm ein Gefühl großer Befriedigung verschaffte.

Das Weibchen blieb im Neste sitzen.

Gegen Abend begann das Männchen, ohne zu wissen, warum, zu schreien.

— U — hu — u! schrie er in Kehllauten, als wenn der Ton im Halse durch Wasser gurgelte. Manchmal bemerkten ihn die Wölfe, wenn er so einsam da oben saß, und mancher ausgehungerte Wolf versuchte, den Abhang hinanzuklettern. Dann wurde das Weibchen unruhig und kreischte erschrocken auf; das Männchen aber blickte gelassen mit seinen weitgeöffneten, halbgeblendeten Augen hinunter, beobachtete den Wolf und sah, wie dieser, langsam hinanklimmend, sich loslöste, ganze Schnee- klumpen mit sich reißend, und sich, winselnd vor Schmerz, überstürzte.

Dann kroch die Dämmerung heran.

IV.

Im März, wenn die Tage länger wurden, die Sonne zu wärmen begann, der Schnee sich braun färbte und schmolz, die Dämmerungen lange grünlich schimmerten und die Wölfe in Rudeln umherschweiften, gab es mehr Jagdbeute; denn alle Waldtiere fühlten schon die ermüdende und bezaubernde Unruhe des Vorfrühlings in sich. Sie trieben sich auf den Lichtungen, den Abhängen und im Walde herum, machtlos gegen diesen Trieb des Umherschweifens, willenlos dieser Erschöpfung des Vorfrühlings hingegeben. Da waren sie leicht zu fangen.

Die ganze Beute brachte das Männchen den Weibchen — selbst aß es wenig, nur das, was ihm das Weibchen übrig ließ —, dos waren gewöhnlich die Eingeweide, das Fleisch der Brustmuskeln, Haut und Kopf, doch aus dem Kopf fraß das Weibchen immer noch die Augen, das Leckerste heraus.

Am Tage saß das Männchen auf dem Wurzelarm.      

Die Sonne schien. Es wehte ein leiser, weicher Wind. Auf dem Grunde der Schlucht lärmte eilig die schwarze Quelle dahin, sich von den weißen Schneeufern abzeichnend.

Ringsum war es still. Das Männchen saß mit geschlossenen Augen, den Kopf eingezogen. In seinem Äußeren lag viel Ergebenheit, eine müde Erwartung und ein gewisses komisches Schuldbewußtsein, das zu seiner Schwerfälligkeit gar nicht paßte.

In der Dämmerung wurde er lebhafter. Unruhe erfaßte ihn. Er erhob sich auf seine Füße, streckte den Kopf vor, öffnete weit seine runden Augen, spreizte die Flügel und faltete sie wieder zusammen, schlug die Luft damit. Dann, wieder zum Knäuel zusammengekauert, den Kopf eingezogen, mit den Augen blinzelnd, schrie er: U-hu-hu-u! — unheimlich, daß die Waldbewohner erschraken.

Und das Echo in der Schlucht antwortete:

U - hu . . .

Grünlich-blau waren die Dämmerungen. Der Himmel war mit großen, scheinbar ganz neuen Sternen gepflastert.

Die Fichten strömten einen öligen Duft aus. In der Schlucht verstummte für die Nacht im Frost das Bächlein. Irgendwo auf den Balzplätzen schrien Vögel. Alles aber war still auf der Lauer.

Als es vollständig dunkel geworden war und die Nacht sich blau färbte, schlich das Männchen in das Nest zum Weibchen, schuldbewußt, sich vorsichtig auf seine großen, des Gehens ungewohnten Füße setzend. Eine starke, herrliche Leidenschaft trieb ihn zu ihr.

Er setzte sich neben das Weibchen, streichelte mit dem Schnabel ihr Gefieder, und immer noch war in ihm jenes frühere, ein wenig komische und gar nicht zu ihm passende Schuldbewußtsein.

Das Weibchen war seinen Zärtlichkeiten gegenüber  vertrauensselig. Sie schien sehr schwach und weich; aber hinter dieser Weichheit verbarg sich ihre große Kraft und Macht über das Männchen; vielleicht ließ sich gerade in dieser Weichheit ihre Macht ahnen.

In ihrer Sprache, in der Sprache des Instinktes, sagte das Weibchen zum Männchen:

Ja, man darf.

Und das Männchen stürzte sich auf sie, ganz sinnlos vor Leidenschaft. Das Weibchen gab sich ihm hin.

V.

So ging es eine Woche, anderthalb.

Dann aber, als eines Nachts das Männchen zu ihr kam, sagte sie:

Nein. Es ist genug.

Sie sagte das, da sie mit ihrem Instinkte fühlte, daß es genug sei; denn eine andere Zeit war gekommen — die Zeit, Kinder zur Welt zu bringen.

Das Männchen, betroffen, scheinbar schuldig, daß er den Befehl des Weibchens nicht erraten hatte, diesen Befehl des Instinktes, der dem Weibchen gegeben war, entfernte sich von ihr, um nach einem Jahre wiederzukommen.

VI.

Vom Frühling an, den ganzen Sommer hindurch bis zum September, waren sie, Männchen und Weibchen, ganz in Anspruch genommen von dem großen, schönen und notwendigen Geschäfte der Zeugung — bis zum September, da die Jungen ausflogen.

Wie ein vielfarbiger Teppich entfalteten sich Frühling und Sommer. Heißes Leben brannte in ihnen. Die Fichten schmückten sich mit Kerzen und dufteten harzig. Es duftete der Wermut. Harzklee, Zichorie, Glockenblumen, Hahnenfuß, Schafgarbe und Stiefmütterchen blühten und verblühten, die Disteln bestachelten sich.

Im Mai waren die Nächte dunkelblau.

Im Juni — grünlich weiß.

Morgen- und Abendröte brannten wie die roten Flammen einer Feuersbrunst, und von Anbruch der Nacht an zogen durch die Schlucht in weißen, silbernen Schichten die Nebel und verwischten die Umrisse der Fichten.

Zuerst lagen fünf graue, grüngesprenkelte Eier im Neste. Dann kamen die Vögel zum Vorschein: großköpfig, mit außerordentlich großen und gelben Schnäbeln, mit grauem Flaum bedeckt. Sie piepsten jämmerlich, indem sie die langen Hälse aus dem Neste herausstreckten, und fraßen sehr viel.

Im Juni flogen sie schon umher, immer noch dickköpfig und piepsend, indem sie mit den unbeholfenen Flügeln ungeschickt zuckten.

Das Weibchen war die ganze Zeit mit ihnen — besorgt, aufgeplustert, zänkisch.

Das Männchen konnte nicht denken und fühlte es wohl auch kaum; nur eins fühlte er — Stolz über sein Werk, das er mit großer Freude verrichtet. Sein ganzes Leben war erfüllt von dem Instinkt, der seinen eigenen Willen und seine Lebenslust auf die Jungen übertrug.

Er schoß umher nach Beute.

Es mußte sehr viel erjagt werden, denn so- wohl die Jungen, wie auch das Weibchen waren unersättlich. Es galt weit zu fliegen, oft bis zur Kama, um dort Möwen zu fangen, die immer herumkreisten um jene ungeheuer großen, weißen, unbekannten und vieläugigen Tiere, die auf dem Wasser gingen, seltsam rauschten und wie die Waldbrände rochen; — das waren die Dampfer.

Er fütterte selbst die Jungen. Er riß Fleischstücke heraus und gab sie ihnen. Mit seinen runden Augen beobachtete er aufmerksam, wie die Jungen diese Stücke auf einmal packten, indem sie ihre Schnäbel wen öffneten, wie sie daran würgten, die Augen verdrehten, vor Anstrengung wackelten und schließlich hinunterschluckten.

Manchmal fiel eins von den Jungen aus Dummheit aus dem Nest heraus, den Abhang hinab. Dann flog ihm das Männchen eilig und besorgt nach, ängstlich kreischend, als schimpfe er; er ergriff es vorsichtig und unbeholfen mit den Krallen und brachte das erschrockene und unvernünftige Zunge zurück ins Nest. Im Neste aber streichelte er lange mit seinem großen Schnabel dessen Gefieder, umkreiste es, vorsichtig die Füße hebend, und hörte nicht auf, besorgt zu schreien.

Nachts schlief er nicht.

Er saß auf dem Wurzelarm, spähte scharf durch das Dunkel der Nacht, um seine Jungen und die Mutter vor Gefahren zu behüten.

Über ihm standen die Sterne.

Und manchmal, als wenn er die Fülle und Schönheit des Lebens ahnte, schrie er drohend und dumpf, das Echo weckend.

U — hu — hu — hu — u! tönte es, die Nacht erschreckend.

VII.

Im Winter lebte er nur, um zu leben. Im Frühling und im Sommer lebte er, um Kinder zu zeugen. Denken konnte er nicht. Er tat es, weil die Natur und jener Instinkt, der ihn leitete, es ihm befohlen.

Im Winter lebte er, um zu essen, um nicht zu sterben. Die Winter waren kalt und schaurig.

Aber im Frühling — da zeugte er.

Da floß das Blut heiß durch seine Adern, da war es still, da schien die Sonne und glänzten die Sterne, und eine große Lust war in ihm, sich zu dehnen, die Augen zu schließen, mit den Flügeln die Luft zu schlagen und grundlos freudig zu schreien.

VIII.

Im Herbste flogen die Jungen aus. Die Alten verabschiedeten sich von ihnen für immer, und der Abschied war schon gleichgültig.

Im Herbst regnete es, wallten Nebel, tief senkte sich der Himmel. Die Nächte waren trostlos, naß, schwarz. Die Alten saßen im durchnäßten Nest, zu zweien. Sie schliefen schwer ein, froren, wälzten sich schwerfällig herum. In ihren Augen funkelten grünlichgelbe Lichter.

Das Männchen schrie nicht mehr.

IX.

So vergingen dreizehn Jahre ihres Lebens.

X.

Dann starb das Männchen.

In der Jugend war sein Flügel beschädigt worden, als er um das Weibchen gekämpft hatte.

Mit den Jahren wurde es ihm immer schwerer, Beute zu erjagen; immer weiter mußte er danach fliegen Nachts konnte er nicht einschlafen; er empfand einen heftigen, bohrenden Schmerz im ganzen Flügel. Das war schrecklich, denn früher hatte er seinen Flügel gar nicht gefühlt, jetzt aber wurde er seltsam schwer und quälend.

Nachts schlief er nicht, ließ den Flügel hängen, als wollte er ihn von sich abstoßen. Am Morgen aber, kaum daß er ihn wieder bewegen konnte, flog er nach Beute aus.

Das Weibchen verließ ihn.

Im Vorfrühling, in der Dämmerung, verließ sie das Nest.

Das Männchen suchte die ganze Nacht. Erst als der Morgen dämmerte, fand er sie — mit einem anderen Männchen, einem jungen, starken, der zärtlich um sie herumgirrte.

Da fühlte der Greis, daß alles, was ihm das Leben gegeben hatte, zu Ende war. Er stürzte sich herab, um mit dem Jungen zu kämpfen, aber er kämpfte unsicher und schwach. Der Junge warf sich ihm entgegen, stark und leidenschaftlich, zerriß seinen Leib und schrie drohend. Das Weibchen aber beobachtete, wie damals vor vielen Jahren, gleichgültig den Kampf.

Der Greis war besiegt.

Blutig, zerfetzt, mit ausgelaufenem Auge, flog er nach Hause in sein Nest; still ließ er sich auf seinem Wurzelarm nieder. Er ahnte, daß seine Rechnung mit dem Leben abgeschlossen sei. Er hatte gelebt, um zu essen und zu zeugen. Jetzt blieb ihm nur noch übrig, zu sterben. Das fühlte er ganz sicher mit seinem Instinkt; denn zwei Tage lang saß er still und unbeweglich auf dem Vorsprung, den Kopf eingezogen.

Dann aber starb er, ruhig und ohne es zu merken. Er fiel den Abhang hinab und blieb unten liegen, die Füße verkrümmt und nach oben gestreckt.

Es war Nacht. Neue Sterne standen am Himmel. In den Wäldern und auf den Balzplätzen schrien die Vögel. Irgendwo stöhnte ein Uhu.

Fünf Tage lag das Männchen auf dem Grunde der Schlucht. Er begann schon zu verwese» und verbreitete einen bitteren, häßlichen Geruch.

Dann fand ihn ein Wolf und fraß ihn.

[1916]


Unsere Wirtschaft, 1925, Beilage: Naturbilder aus unserem Gebiet, Nr. 7, S. 27-28; Nr.8, S. 31-32; Nr. 9, S. 35-36.