Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Die Entstehung und Entwicklung der Frauenbewegung in unserem Gebiet
Von I. Frei.

Mit schwerem Herzen mache ich mich daran, einen kurzen Überblick über die Frauenbewegung in unserem Gebiet zu schreiben.

Es ist vielleicht etwas unzeitgemäß, bei einer Jubiläumsschrift schwere Gedanken zu hegen; es wäre vielleicht paffender, das Schwere zu übergehen und das Angenehme hervorzuheben und somit in den feierlichen Jubiläumschor eine Helle, freudige Stimme mehr hineintönen zu lassen. Aber die Wahrheit muß vorangehen. Besser eine bittere Pille schlucken und dadurch genesen, als ein freudiges Gesicht zeigen und dabei zu Grunde gehen.

Zur Zeit der Oktoberrevolution war in unserem Gebiet noch nichts von einer Frauenbewegung zu merken. Die wohlhabenden Frauen hatten ihre Tee- und Kaffeekränzchen; sie verrichteten auch manchmal gemeinsam kurzweilige Handarbeiten, um eine Lotterie für diesen oder jenen Zweck zu veranstalten. Die ärmeren und unterdrückten Frauen suchten Trost in der Kirche und in Betstunden. Niemanden kam es in den Kopf, eine Organisation zu schaffen, die die Befreiung der Frau von der Herrschaft des Mannes oder die Bekämpfung der sozialen und politischen Ungerechtigkeiten im Auge gehabt hätte. Alle lebten so zur Welt hinein, als ob es gar keine andere, bessere Lebensform geben könnte als die bestehende. Während die Revolution in den Großstädten schon in vollem Gange war, ruhte auf den Dörfern noch alles in tiefem Schlafe.

Die Flugblätter, Broschüren und Zeitungen, die massenhaft in die Provinzen geschickt wurden, waren ja russisch gedruckt und konnten somit keinen großen Einfluß auf die Denkweise der deutschen Bevölkerung haben.

So kam es, daß sich im Gebiet keine einzige Frau fand, die sich um die Lage der Frauen des Gebiets kümmerte.

Nur die Lehrerinnen, die im Lehrerverband standen und die Versammlungen fleißig besuchten, wurden mehr oder weniger in den großen Kampf der Zeit hineingezogen.

Sie bildeten im Winter des Jahres 1918‒1919 eine Kommission, die auf der Lehrerversammlung gewählt wurde und ein Projekt über Mutter- und Kinderschutz für die Lehrerinnen ausarbeiten sollte. Diese Kommission bestand aus den Lehrerinnen E. Henning, (später Mattern) I. Mattern (Frei) und der Ärztin Malyschewa. Das Projekt wurde aus-gearbeitet und nach Saratow geschickt, wo sich damals noch unsere Gebietsabteilungen befanden.

Ich persönlich habe schon ein Jahr zuvor den Gedanken gehegt, irgend eine Frauenorganisation zu gründen. Da ich aber, wie auch die meisten anderen Frauen, in meiner eigenen Familie und mit meinen eigenen Kindern beschäftigt war und keine gesellschaftliche Arbeit leisten konnte und keine Verbindung mit den Massen hatte, so gelang es mir natürlich nicht.

Erst nachdem die Gebietsbehörden im Frühling 1919 nach Marxstadt überführt worden waren, wurde mein Drang nach gesellschaftlicher, gemeinnütziger Arbeit befriedigt, indem ich im Sommer als Leiterin für Mutter- und Kinderschutz bei der Sozialen Fürsorge bestimmt wurde. Ich hatte nun die Möglichkeit, die Mütter um mich zu gruppieren. Die Gruppierung wurde in die Elternversammlungen des neueröffneten Kindergartens weitergepflanzt, und wuchs später zu einem Frauenverband aus, der anfangs Oktober 1919 gegründet wurde, und breit angelegte, aber sehr verwickelte, klassenlos aufgebaute Statuten ausgearbeitet hatte. Diese Klassenlosigkeit des Verbandes bildete den Keim des Todes für ihn, und so kam es, daß er, kaum geboren, schon sterben mußte.

Was für ein Verband war das? Ein professioneller? Nein, obgleich er Ansprüche darauf machte. Ein Verband der Unterdrückten? Auch nicht; denn es konnte eine jede Frau Mitglied, eine Bürgersfrau sogar Ehrenmitglied werden, wenn sie eine größere Summe Geld in die Kasse des Verbandes eintrug.

Also, eine Organisation, die nicht wenig nach Feminismus roch.

Ida Frei,
Leiterin der Frauenabteilung beim Gebietskomitee der RKP(B).


Im Jahre 1919, als in Moskau und Petersburg die Arbeit unter den Frauen schon aus proletarischen Fuß gestellt war, d. h. als die proletarischen Frauenmassen nicht nach dem geschlechtlichen Prinzip, sondern als ein Teil der proletarischen Klasse betrachtet, von der Kommunistischen Partei geleitet und von den bürgerlichen (feministischen) Frauenorganisationen abgesondert war, als Kongresse der Kommunistinnen, Konferenzen der Arbeiterinnen und Allrussische Beratungen für Arbeit unter den Frauen einberufen wurden — zu dieser Zeit entstand bei uns der Frauenverband! Wir hatten keine Ahnung von den Umgruppierungen der Frauenorganisationen in den Sowjetzentren und unsere leitenden Organe leider auch nicht. In dem Archiv des Gebietskomitees der Kommunistischen Partei finden wir ein Bittgesuch des Frauenverbandes um Verabfolgung von 5000 Rbl. zur Veranstaltung von Klubarbeit. Dem Bittgesuch waren die Statuten des Verbandes beigelegt und mit einer Aufschrift vom Sekretär — Gen. Jakobson versehen. Also mußte sich auch in unserem Gebiet die alte Geschichte wiederholen: erst eine bürgerliche Frauen-organisation (wenn .sie auch nicht so ganz echt herauskam)!

Anfangs 1920 wurde eine besondere Leiterin für Arbeit unter den Frauen beim Parteikomitee bestimmt, die die Frauenbewegung nach dem allrussischen Maßstab regeln sollte. Diese erste Leiterin war I. Mattern (Frei).

Es wurde am 7. Februar 1920 eine Organisationsversammlung der Kommunistinnen von Gen. Wegner einberufen, die aus folgenden Genossinnen bestand:

1. Leiser Elsa, 2. Holzer Anna, 3. Gorbunowa A., 4. Sabelfeld Erna, 5. Emig, 6. Truschina S., 7. Mattern I., 8. Schwenk M., 9. Fischer M., 10. Lewaschowa E. und 11. Scheuermann H.

Von diesem Bestand konnte man von vornherein nichts Gutes erwarten, und es stellte sich auch tatsächlich heraus, daß bis heute von diesen Genossinnen nur noch 2 an der Arbeit festhalten, 2 bald das Gebiet ganz verließen und die anderen in ihren Familienverhältnissen fast ganz versumpften.

Auch die Leiterin selbst war nicht richtig gewählt worden, denn sie war mit kleinen Kindern und Familienmißständen belastet; auch hatte sie noch keine organisatorischen Erfahrungen. Sie konnte mithin unmöglich eine energische Arbeit im Gebietsmaßstab entfalten und mit dem Zentrum eine feste Verbindung anknüpsen. Naturgemäß wurde die Arbeit nur im Bereich von Marxstadt durchgeführt, und alle Anstrengungen, sie auch in den Bezirken zu entfalten, blieben erfolglos, bis zum Jahre 1922 neue Arbeiter, die die Parteischule geendigt hatten, ausgenützt werden konnten.

Nach allem Obengesagten wird man es ganz natürlich finden, daß die Hauptarbeit in Marxstadt angefangen und vollbracht wurde. Da die Frauenabteilung keine Instruktionen vom Zentrum hatte und abgesondert vom Parteikomitee arbeitete, so konnte die Arbeit nicht planmäßig geführt werden.

Es wurden die alleinstehenden Rotarmistenfrauen um die Frauenabteilung gruppiert; es wurde auf die Anstalten, die die Frauen vom Haushalt befreien sollten, energisch eingewirkt. Da aber die Periode des Kriegskommunismus zu Ende ging, so war da nicht mehr viel zu machen. Es folgten Banditenaufstände, die auch den Anfang der Frauenbewegung aus dem Geleise brachten.

Da kam noch die große Hungersnot. Die schwach organisierte Frauenabteilung stand ihr beinahe hilflos gegenüber. Doch verstand sie, die Frauenmassen um die Komitees für den Kampf mit dem Hunger zu organisieren, was ihr hauptsächlich in Marxstadt gelang.

Im Spätsommer 1920 kam die Genossin Samoilowa auf dem Schiff „der Rote Stern“ nach Marxstadt und untersuchte die Arbeit des Parteikomitees; dabei fand sie, daß letzteres eine schwache Leitung der Frauenabteilung gegenüber ausübe.

Sie legte diese Beobachtung in folgendem Vorschlag nieder: „Eine bessere Verbindung mit der Frauenabteilung herzustellen, zu welchem Zweck die Leiterin der Frauenabteilung in allen Sitzungen der Komitees zugegen sein muß“.

Im Herbst desselben Jahres kam aus Sibirien die Gen. Holzmann, die die Leitung der Frauenabteilung übernahm und sehr wichtige Reformen in die Arbeit einführte. Sie organisierte eine parteilose Gebiets-Frauenkonferenz, die von Gen. Bartel geleitet wurde und ein Weckruf für die Frauen des ganzen Gebiets war; dann führte sie das Institut der Delegatinnen ein, zu welchem Zweck sie die Stadt in Viertel einteilte und von jedem Viertel Delegatinnen wählte. Der Banditismus brachte eine Unterbrechung in diese Arbeit. Nach der Liquidierung des Banditismus fuhr die Genossin Holzmann nach Moskau auf die Kurse. So verlor die Frauenbewegung die einzige Arbeiterin, die praktische Erfahrungen in der Arbeit unter den Frauen besaß.

Die Arbeit wurde durch die Delegatinnenversammlungen weitergeführt und noch das Institut der Praktikantinnen gegründet. Letzteres konnte für unser Gebiet keine großen praktischen Folgen haben, da es durch die neue ökonomische Politik verdrängt und vom Zentrum aus liquidiert wurde.

Ein großes Ereignis mit wichtigen Folgen war die 4. Allrussische Beratung der Arbeiter- unter den Frauen, die im November 1921 in Moskau tagte.

Schon die 4. Beratung, und wir waren dort das erste Mal vertreten!

Nach dieser Beratung hatten wir die Möglichkeit, unsere Arbeit ins richtige Fahrwasser zu bringen.

Hier ist es interessant, das Verhältnis des Parteikomitees zu der Frauenabteilung zu unterstreichen. Als der Vertreter der Beratung aus Moskau angekommen war und ins Präsidium des Parteikomitees eintrat, wurde er sofort gefragt: „War Lenin auf eurer Beratung?“ Auf die Antwort „Nein“, lächelte man etwas spöttisch — und kümmerte sich sehr wenig um die Frauenabteilung.

Im Jahre 1922 wurde unser Gebiet abgerundet und die Gebietsanstalten nach Pokrowsk überführt. Hier mußte die Frauenabteilung sich mit den neuen Genossinnen und den Gewerbearbeiterinnen einleben, was eine gewisse Zeit in Anspruch nahm.

Hier tauchte die ernste Frage auf, wie man die Arbeit in den Verbänden organisatorisch gestalten solle. Der Gebietsverband der professionellen Verbände tat nichts in Bezug auf die Arbeit unter den Verbandsfrauen, und so verband sich die Frauenabteilung mit Verbänden durch Organisatorinnen, die sie aus ihrer Mitte ausschied. Eine wichtige Frage war die Frage der Vorbereitung von neuen Arbeiterinnen; denn Mangel an qualifizierten Arbeiterinnen ist die Hauptkrankheit unserer Frauenabteilung. Diese Frage wurde dadurch gelöst, daß man bei der Parteischule eine Frauensektion gründete, die uns bis jetzt 15‒18 neue Arbeiterinnen schenkte und uns die Möglichkeit gab, auch in den Kantonen eine richtige, planmäßige Arbeit anzufangen.

Ich bin am Ende mit meiner „traurigen Märe“. Viel Arbeit hat es gekostet, manche sorgenvolle Nacht wurde durchwacht, und die Folgen? Da will ich mit den Worten des Genossen Lenin antworten, der die Arbeiter unter den Frauen warnt: „Diese Arbeit kann keine schnellen Resultate geben und blendenden Effekte Hervorrufen“.

Die Arbeiter unter den Frauen verlieren den Mut nicht und rufen allen zu, von denen die weitere Entwicklung der Frauenabteilung abhängt, ihnen gewissenhaft mit Rat und Tat zukünftig besser beizustehen, damit man zum nächsten Jubiläumstage unseres Gebiets bessere Erfolge konstatieren kann.


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 601-604.