Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Die Veterinärorganisation des Gebiets
(Ветеринарная организация Области.)

Bei der Ausscheidung des Gebiets erhielt dieses aus zwei Bezirken des Gouvernements Samara und einem Bezirk des Gouvernements Saratow überhaupt fünf Veterinärärzte und fünf Feldschere. Dieses Personal war genötigt, 529.800 St. Haustiere zu bedienen; es kamen somit auf einen Veterinärarzt 135.690 Stück. Die Veterinärhilfe war in diesen Gouvernements und Bezirken, nicht gleichmäßig verteilt. Im Gouvernement Saratow war sie sehr schwach eingerichtet, und im Gouvernement Samara taugte sie gar nichts. So z. B. war bei der Bekämpfung der Rotzkrankheit der Pferde die Bevölkerung sich meist selbst überlassen, sie tötete selbst die rotzkranken Pferde und übersandte bloß die Akten darüber an die Landabteilungen.

Beim Übergang der Veterinärhilfe zum Gebiet blieb sich das Personal lange Zeit hindurch selbst überlassen, und man kann sagen, daß es sehr wenig in der gemeinsamen Sache verbunden war. Die Ursache war die ungleichmäßige Einrichtung der Veterinärhilfe in den genannten Gouvernements, wobei zuletzt jeder nach seinem Gutdünken arbeitete. Abrechnungen wurden keine gemacht; Verbindungen zwischen dem Personal und zwischen den Anstalten an Ort und Stelle existierten keine, da es keine Veterinärabteilung gab.

Der erste Versuch, eine Veterinärabteilung zu bilden, wurde im Jahre 1919 gemacht. Doch dieser Versuch wurde nicht mit Erfolg gekrönt. Die Rinderpest, die im Juni von der Denikinschen Armee aus dem Kaukasus zu uns geschleppt wurde, traf also im Gebiet eine völlige Unorganisiertheit an. Natürlich konnte keine Abwehr geleistet werden, da die Veterinärabteilung nicht fähig war, irgendetwas zu unternehmen. Deshalb war diese Krankheit auch imstande, im Laufe von vier Monaten in allen Dörfern des Bezirks Balzer ihren Einzug zu halten. Es erkrankten damals 22.641 Stück Rindvieh, von denen 18.627 Stück fielen.

Die Organisierung des Kampfes mit der Rinderpest mußte die Saratower Veterinärabteilung auf sich nehmen. In Marxstadt wurde die Gebietsveterinärabteilung und in den Bezirken die Bezirksabteilungen organisiert. Ärzte und Feldschere wurden geschickt, und der Kampf mit der Rinderpest hatte begonnen. Gänzlich wurde die Rinderpest im Januar 1921 liquidiert. Befallen waren überhaupt drei Bezirke, und an der Rinderpest fielen in den ersten vier Monaten, wie schon gesagt, 18.627 Stück, danach bis zu Ende dieser Seuche noch 3325 Stück, im ganzen also verendeten an der Rinderpest 21.952 Stück Vieh.

Mit der Beendigung der Rinderpest nahm auch die tatsächliche Existenz der Veterinärorganisation ein Ende im Gebiet oder, richtiger gesagt, verfiel sie in ihren ursprünglichen Zustand. Die Ärzte, die bei der Bekämpfung der Rinderpest gearbeitet hatten, waren in andere Gouvernements mobilisiert worden, und die meisten kehrten nach der Bekämpfung der genannten Krankheit wieder zu ihren früheren Stellen zurück. Auch die jungen Veterinärärzte, die noch keine Anstellungen hatten, verließen infolge des Hungers und des Banditismus das Gebiet. Dieses armselige Dasein der Veterinärabteilung hielt beinahe bis zum Jahre 1922 an.

Bei der Abrundung des Gebiets im Jahre 1922 vergrößerte sich plötzlich der Etat der Veterinärarbeiter des Gebiets durch das hinzugekommene Veterinärpersonal von Pokrowsk um das Doppelte. Am 24. September 1922 wurde von den versammelten Veterinärärzten der vollständige Zerfall der Veterinärhilfe festgestellt. Beinahe alle Ambulatorien standen mit zerbrochenen Fensterscheiben, ohne Öfen, ohne Türen usw., also zur Arbeit vollständig untauglich da. Das Veterinärpersonal entbehrte der Veterinärversorgung, d. h. der Heilmittel und der Instrumente. Die meisten Apotheken waren leer, teilweise von den Banden beraubt, teilweise seit den Jahren 1913‒14 noch nicht ergänzt. Alle Ärzte entbehrten der Verkehrsmittel, weswegen sie gezwungen waren, an Ort und Stelle zu verbleiben und jene Stellen, wo Krankheiten und Seuchen entstanden waren, ihrem traurigen Schicksal zu überlassen.

In den Städten existierte keine veterinäre Aufsicht. Nur in Pokrowsk besichtigte der Leiter der Veterinärabteilung auf dem Markte die Produkte. Die Schlachthäuser waren vernagelt; der Handel und die Viehüberführung wurden nicht beaufsichtigt. Zu gleicher Zeit stellte sich heraus, daß das Gebiet einen Herd der verschiedenartigsten Krankheiten darstellte. Die Tiere waren stark von der Krätze und vom Rotz befallen. Ebenfalls waren solche Plagen der Viehzucht, wie der Milzbrand und die Schweinepest, in vielen Punkten des Gebiets als beständige Krankheit vorhanden; dazu kamen noch die weniger erforschten Krankheiten, wie die Piroplasmose und andere, die die Viehreste, die der Hunger und die Zerrüttung zurückgelassen hatten, zu vernichten drohten.

Auf der oben angeführten Veterinärberatung wurde auch ein Veterinärnetz ausgearbeitet, das mit der administrativen Teilung des Gebiets in Kantone übereinstimmte; dabei wurde ein Minimum zu je einem Arzt und einem Feldscher für einen Kanton aufgestellt und zu einem Arzt in jede der fünf Städte zur sanitären Aufsicht bestimmt. Es wurde das Minimum der Veterinärversorgung mit Heilmitteln und Instrumenten und die Versorgung der Veterinärarbeiter mit allem Nötigen festgesetzt. Auch wurde ein Arbeitsplan ans das Wirtschaftsjahr 1923‒24 ausgearbeitet.

Indem die Veterinärabteilung von feiten der Administration der Landverwaltung vollständige Gutheißung ihrer Beschlüsse und materielle Unter-stützung empfing, machte sie sich energisch daran, das vorgezeichnete Programm ihrer Tätigkeit ins Werk umzusetzen. Ungeachtet der spärlich abgelassenen Mittel wurden die meisten Aufgaben in diesem Jahr gelöst. Vom Herbste an begannen die aus Marxstadt überführten und daselbst gebauten Kammern zur Heilung krätzkranker Tiere, in allem 21 Stück, zu arbeiten, nachdem sie gleichmäßig im Gebiet verteilt waren. Diese Kammern behandelten 3864 kranke Tiere, die gänzlich gesundeten, und im Winter war mit der Krätze aufgeräumt.

Anfangs Winter wurde bei der Veterinärabteilung ein Medikamenten- und Instrumentenlager eröffnet, von wo alle Ambulatorien und das Veterinärpersonal alles zur Arbeit Nötige bekamen. In jener Zeit waren auch alle Ambulatorien remontiert und in Gang gesetzt. Neue Veterinärärzte und Feldschere waren eingeladen worden- einige davon sind jetzt durch qualifiziertere ersetzt worden. Gegenwärtig arbeiten im Gebiet 17 Veterinärärzte und 18 Feldschere. Im Laufe des Winters und des Frühjahrs wurde eine kolossale Arbeit der Pferdebesichtigung in jedem Hofe durchgeführt, wobei 167 Stück wirklich kranker Tiere entfernt wurden. Verdächtige und zweifelhafte Tiere (606 St.) wurden der Maleinisation unterworfen und 200 Stück anderen wissenschaftlichen Untersuchungen.

Vom Frühjahr bis zum 1. September wurden folgende Vorbeugungs- und Heilungsimpfungen aus-geführt: gegen Milzbrand 5488, gegen den Rot lauf der Schweine 3155 und gegen die Pest 360 In den Ambulatorien wurden vom 1. Okt. 1922 bis zum 1. September 1923, d. h. in elf Monaten, 48.115 Haustiere von Krankheiten geheilt.

Das ganze Gebiet war in veterinär-ärztlicher Hinsicht untersucht, wobei in genügendem Maße die verseuchten Punkte festgestellt wurden. Es waren an vielen Stellen, die als Seuchenherde galten, Plätze zur Vernichtung der Erkrankten eingerichtet. Auch die Veterinäraufsicht in den Städten und großen Dörfern machte größere Fortschritte. Die Schlachthäuser funktionieren jetzt in Pokrowsk und in Marxstadt, und die Aufsicht über die Schlachttiere existiert in allen Punkten, wo sich Veterinärpersonal befindet. Auf den Märkten wurden 12.005 Stück Vieh besichtigt, von denen an Rotz Erkrankte 15 und von anderen gefährlichen Krankheiten Befallene 11 angehalten wurden. In den Schlachthäusern wurden 1173 Stück geschlachtete Tiere besichtigt, von denen 7 Stück brakiert und 113 Fleischteile für Nahrungszwecke als ungeeignet ausgeschieden wurden. Auf den Märkten wurden 1063 Pud Fleisch, Wurst und Schinken und anderes besichtigt, außerdem 672 geschlachtete Tiere, von denen 14 Stück von Milzbrand, 7 von verschiedenen anderen Krankheiten befallene und 104 schädliche Teile und Organe vernichtet wurden. In den Lagern wurden 2600 Pud Fleisch besichtigt, von dem 600 Pud untaugliches vernichtet wurden. Von 800 Pud besichtigten Fischen waren 25 Pud verdorben. Es wurde auch der Anfang mit der künstlichen Befruchtung gemacht, die bei der Hebung der Viehzucht eine große Rolle spielen wird. Auf zwei Stationen wurden 214 Befruchtungen ausgeführt. Auf der Veterinärberatung, die im Monat Juni d. I. stattfand, wurde ein neues Netz von Veterinärpunkten ausgearbeitet, um eine bessere Bedienung der Bevölkerung des Gebiets herzustellen. In diesem Zweck sollen an erster Stelle noch 7 Veterinärpunkte eröffnet werden. Es wurde der Arbeitsplan für die Zeit des Jahres 1923‒24 ausgearbeitet und die nötigsten Maßnahmen festgestellt, um das Gebiet von Rotz, Milzbrand, Krätze, von den vorhandenen Seuchen zu reinigen und es vor der Gefahr der Pest und anderen Seuchen, die in den nachbarlichen Gouvernements herrschen und unsere Viehzucht bedrohen, zu schützen.

Auf der Tagesordnung steht die künstliche Befruchtung und die weitere Ausbildung der veterinären und sanitären Tätigkeit in den Städten und den Dörfern des Gebiets und bessere Einrichtungen für die zu transportierenden Tiere.


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 589-591.