Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Die Landeinrichtung in unserem Gebiet
(Землеустройство в нашей Области.)
Von W. Borsenko.

Das Territorium, das gegenwärtig das Gebiet der Wolgadeutschen einnimmt, hat sich aus Teilen des früheren Nowousensker u. Nikolajewsker Bez. des Samaraer Gouv. und aus kleineren Teilendes Atkarsker und Kamyschiner Bezirks des Saratower Gouv. gebildet und umfaßt gegenwärtig eine Landfläche von etwa 2.392.000 Dessjatinen.

Heinrich Fuchs,
Leiter der Gebietslandverwaltung.


Der Landbesitz begann sich auf dieser Fläche an, Anfang des 18. Jahrhunderts (um das Jahr 1700) zu entwickeln, und zwar durch: 1. eigenmächtiges Besitzergreifen, 2. Kolonisation und 3. Schenkungen an Staatsdiener. Die erste Landeinrichtung dieses Landbesitzes wurde vor 150 J. durchgeführt laut des Manifests vom 8. Dezember 1765 über die Durchführung der „Vormundschafts-Landmessung“.

Bei dieser Vermessung wurden die Grenzen des Landbesitzes der deutschen Kolonisten bestimmt, denen 15 Dessj. auf die Seele zugeteilt wurden. Die endgültige Regulierung der Landverhältnisse und die Festlegung der Grenzen muß jedoch von der Zeit der Generalvermessung an — von 1798 bis 1805 — gerechnet werden.

Die Landpolitik der Periode vor der Revolution war die Politik der Gutsbesitzer, gerichtet auf die Wahrung der Rechte der Gutsbesitzer, der Edelleute und der Krone. Nur die starken Agrarbewegungen veranlaßten die Regierung, der Bauernbevölkerung von Zeit zu Zeit Zugeständnisse zu machen, die jedoch so unbedeutend waren, daß die Bauernschaft immer mehr in Armut geriet.

Eine besonders feine Landpolitik der Gutsbesitzer war die von den Agrarunruhen der Jahre 1905 und 1906 hervorgerufene Stolypinsche Landreform, die unter den Losungen: „Im Interesse der Starken“ und „Trennung der Massen“ durchgeführt wurde. Die Grundzüge dieser Politik bestanden in der Befestigung des Anteillandes als Eigentum, in der Einführung des Einzelbesitzes und sodann in der Abteilung des Landes in Landstücke oder Fermen (Chutore). Eine solche Politik war nur für eine kleine Gruppe von Landeigentümern, Protzen, vorteilhaft, die das Land der verarmten Bauernschaft aufkauften und somit den Prozeß, der diese zu Proletariern machte, abkürzten. Diese Politik führte die Regierung mit besonderem Nachdruck durch und schrak in dieser Beziehung auch nicht vor den größten Unkosten und den gröbsten Zwangsmaßnahmen zurück. So z. B. kam die Abteilung einer als Eigentum befestigten Dessjatine Land auf 4 Rubel zu stehen, und der Willen der Mehrheit der Gemeinde wurde dabei nicht in Rücksicht genommen.

Auf dem heutigen Territorium des Gebiets der Wolgadeutschen hatten an 18% aller Hauswirte ihr Land als Eigentum befestigt und waren zu Landstücken oder Fermen übergegangen. Dieser Übergang, der den größten Umfang im Jahre 1908 erreichte, gebar einen neuen Typus von Gutsbesitzern — die Dorfbourgeoisie.

Der Landbesitz verteilte sich zu Beginn der Februarrevolution auf dem Territorium des Gebiets der Wolgadeutschen in Dessjatinenzahlen folgendermaßen:

Ländereien dem Besitze nach

Brauchbare

Unbrauchbare

Insgesamt

Bauernländereien

1.809.992,26

209.700,96

2.019.693,22

Gutsbesitzerländereien

154.503,66

62.539,62

217.043,28

Kronsländereien

97.331,04

8.893,19

106.224,23

Kirchenländereien

3.377,20

3.377,20

Von d. Bauern u. Genoss. gekaufte Länder

37.443,00

5.813,90

43.256,90

Ländereien unter Wege

2.363,43

2.363,43

Insgesamt

2.102.647,16

289.311,10

2.391.958,26


Auf eine Seele der landwirtschaftlichen Bevölkerung kamen im Durchschnitt etwa 3,8 Dessj. Land. Insgesamt befanden sich in Nutznießung der Bauernbevölkerung 86,3 Proz., davon waren gekaufte Bauernländereien 2,1 Proz. Privatländereien 9 Proz., Krons-, Apanageländereien und ähnl. 4,4 Proz., Kirchenländereien 0,2 Proz. und unter Wegen 0,1 Prozent.

Das Verhältnis zwischen den Landflächen des Europäischen Rußlands war im Jahre 1905 folgendes: Anteile von Bauernländereien 35 Proz., Privatländereien 26 Prozent, Krons-, Apanage-, Kirchen- und andere Ländereien 39 Proz., bei Abzug des Waldes aber ein solches: Bauernländereien 69 Proz., Privatländereien 28 Proz., Krons- und andere Ländereien 2,2 Proz. Das Verhältnis in einzelnen Rayons verriet keine großen Schwankungen. So z. B. bildeten die Bauernländereien in dem Sawinkaer Kreise 26 Prozent.

In einem solchen Zustand befand sich die Landfrage in den Februartagen. Die Bauern begrüßten die Februarrevolution freudig in der Überzeugung, daß sie ihnen das Wichtigste zu ihrer Existenz, nämlich Land gebe. Aber sie irrten sich gewaltig. Sie erhielten kein Land und hörten nur entfernte, unklare Laute von Nationalisation, Munizipalisation, Landverteilung und dazwischen die Worte, daß, wenn sie das Land erhalten wollten, sie es bei den Gutsbesitzern kaufen müßten. Selbstverständlich konnte ein solcher Zustand nicht lange andauern. Die Bauernschaft begann an einigen Orten die Gutsbesitzer- und Kronsländereien eigenmächtig in Besitz zu nehmen. Die Oktoberrevolution löste die schon vor Jahrhunderten brennend gewordene Landfrage.

Am 19. Februar 1918 genehmigte der Allr. Kongreß der Räte das Grundgesetz über die Sozialisation des Landes, mit dessen Veröffentlichung der Privatbesitz von Land abgeändert wurde. Das Land wurde als Staatseigentum erklärt und der Bauernschaft zur Nutznießung übergeben; desgleichen auch d. ganze konfiszierte Vermögen: d. lebende u. tote Inventar, Gebäude usw. In diesen Tagen erhielt die werktätige Bevölkerung des Gebiets der Wolgadeutschen 326654 Dessjatinen.

Dank den Errungenschaften der Oktoberrevolution veränderte sich das Verhältnis in den Landflächen dem Besitze nach im Staatsmaßstab und drückt sich folgendermaßen aus: Bauernländereien 96 Proz., Ländereien der Sowjetwirtschaften 3 Proz. und der kollektiven Wirtschaften 1 Prozent.

Schon im Jahre 1918 nahmen die Landorgane eine Messung aller Ländereien vor, die sich in Nutznießung der Bauernbevölkerung befanden, um pünktliche Aufnahmen zu erlangen und auf Grund dieser Aufnahmen die Verteilung der bezeichneten Ländereien unter die Bauern vorzunehmen. Etwa 10 Landmesser waren mit der Arbeit auf dem Territorium des Gebiets der Wolgadeutschen befaßt. Die Praxis zeigte jedoch, daß die Arbeit in kurzer Frist nicht bewältigt werden konnte. Deswegen schlugen die Gebiets-Landorgane den Rayons-Landkommissionen vor, eine zeitweilige Verteilung der Ländereien auf das Jahr 1919 vorzunehmen. Diese Arbeit wurde sehr grob durchgeführt; wegen Mangels an pünktlichen Daten und Landmessern-Technikern mußte man sich auch mit einer solchen Verteilung zufriedengeben.

David Borger,
Kollegiumsmitglied der Gebietslandverwaltung.


Nach der Aufnahme aller Ländereien, die sich nicht in Nutznießung der Werktätigen befanden, konnte doch noch zu keiner Verteilung geschritten werden. Zeit und Umstände erheischten, daß zu dieser Frage von einem anderen Gesichtspunkte aus herangeschritten werde, nämlich von dem Gesichtspunkt der Sozialisation des Landes, d. h. der aus gleichenden Landeinrichtung. Im Anfänge des Jahres 1919 wurde von dem Allr. Zentr.-Vollz.-Komit. das „Reglement über die sozialistische Landeinrichtung“ bestätigt, wonach alles Land im Bereich der RSFSR, ohne Ausnahme und in wessen Nutznießung es sich auch befinden mochte, als einheitlicher Staatsfonds erklärt wurde. Am 11. März desselben Jahres wurde eine Instruktion zur Anwendung des Reglements über die sozialistische Landeinrichtung herausgegeben, wodurch die Landeinrichtungsarbeiten in ein neues Geleise geführt wurden. Danach sollten folgende Arbeiten ausgeführt werden: 1. Die Ausnahme aller Ländereien ohne Ausnahme, ihre Abschätzung und die Anfertigung von Karten, 2. Die Aufnahme der Bevölkerung und deren Einteilung nach Arbeitsfähigkeit, 3. die Aufnahme des lebenden und toten Inventars, 4. die Feststellung der Arbeitsnorm des betreffenden Rayons und noch eine ganze Reihe anderer Fragen wirtschaftlichen Charakters, ferner die Ausarbeitung eines Projektes, wie die Landfrage in den betreffenden Rayons am zweckentsprechendsten gelöst werden könne. Bon diesen Arbeiten wurden nur in dem Solotojer Kreise einige ausgeführt, und zwar wurden in 2‒3 Ortschaften Aufnahmen über die Bevölkerung und das Inventar gemacht. Das war auch alles, was bezüglich des Reglements über die sozialistische Landeinteilung getan wurde. Der Grund lag in dem gänzlichen Mangel an technisch ausgebildeten Landmessern, und es war nicht möglich, solche in jener Zeit anzuwerben.

In anderen Gouvernements hingegen wurden die Vorbereitungsarbeiten zur sozialistischen Landeinrichtung in schnellerem Tempo ausgeführt; dennoch zogen sie sich auch dort in die Länge. Deswegen mußte die zeitweilige Verteilung auf das Jahr 1919 verlängert werden, und zwar bis zu einer endgültigen Landeinrichtung. Diese Maßnahme hatte einen äußerst ungünstigen Einfluß auf die Landwirtschaft. Die Bauernschaft, die von der Dauerhaftigkeit der Grenzen des sich in ihrer Nutznießung befindlichen Landes nicht überzeugt war, verlor jedes Interesse an der Intensivizierung ihrer Wirtschaft. Im Jahre 1920 stellte es sich schließlich ganz deutlich heraus, daß die sozialistische Landeinrichtung in den nächsten 2‒3 Jahren unmöglich sei. Man warf dabei sogar die Frage auf, ob man überhaupt eine solche ausführen solle. Um diese Frage erhob sich eine Polemik in der Presse, sowohl in der örtlichen, als auch in der zentralen. Parallel mit dieser Frage tauchte auch eine Reihe anderer Fragen auf, nämlich bezüglich der Formen der Landnutznießung, der Pacht von Ländereien, des Arbeitslohnes usw.

Alle diese Fragen wurden durch den 9. Allr. Kongreß und danach durch die 3. Session des AZVK am 22. Mai 1922 geregelt, und zwar durch das Grundgesetz über die werktätige Landnutznießung, das die Einführung einer regelrechten dauernden und der Wirtschaft der Jetztzeit angemessenen Land-Nutznießung bezweckt.

Durch den 32. Paragraphen dieses Gesetzes wird das ganze Land, das sich in werktätiger Nutznießung der Bauernschaft befindet, dieser zur ständigen Nutznießung befestigt. Auf diese Weise bleibt die auf den Rayonskongressen der Vertreter der Gemeinden durchgeführte „zeitweilige“ Verteilung dauernd bestehen. Leider wurde die Verteilung auf den Rayonskongressen in unserem Gebiet infolgedessen, daß keine Landmesser dazu herangezogen werden konnten, plan- und regellos ausgeführt, weshalb gegenwärtig spezielle Arbeiten zur Klärung der Sachlage vorgenommen werden.

Mit der Herausgabe des Gesetzes über die werktätige Nutznießung nehmen die Landeinrichtungsarbeiten einen anderen Charakter an. Die ganze Aufmerksamkeit wird auf die Einrichtung der Anteilländer gerichtet, und zwar auf die Festlegung der Grenzen der faktischen Landnutznießung, d. h. aus die Registrierung, die Beseitigung der Zwischengrenzen, des Fernbesitzes, der Landeinkeilung und, was die Hauptsache ist, auf den Übergang zu neuen, vollkommeneren Formen der Land Nutznießung. Eine rasche Entwicklung der Land einrichtungsarbeiten konnte jedoch unter den schweren Verhältnissen nicht erwartet werden, da diese Arbeiten nicht mehr kostenlos ausgeführt wurden, die Bevölkerung aber durch die unerhörte Mißernte des Jahres 1921 so geschmückt war, daß sie keine Mittel dazu aufbringen konnte. Erst nach der Realisation der Ernte des folgenden Jahres (1922) liefen in der Gebiets-Landverwaltung Gesuche um Landeinrichtung ein. Ungeachtet dessen, daß es schon eine späte Jahreszeit war, führte die Abteilung für Landeinrichtung der Gebiets-Landverwaltung noch 9 Landeinrichtungsarbeiten aus, und zwar 3 auf Anteilländereien (11.350 Dessj.), eine für Städte (3712 Dessj.), zwei für Sowjetwirtschaften und Genossenschaften (1339 Dessj.), eine für Anstalten (1901 Dessj.), insgesamt auf einer Fläche von 18.461 Dessjatinen. Seit dem 1. Dezember 1922 werden die Landverhältnisse durch den Landkodex geregelt, der alle Grundbestimmungen, die von dem 9. Allrussischen Kongreß der Räte aufgestellt wurden, bestätigt hat.

Im Winter 1922‒23 wurden von der Abteilung für Landeinrichtung Vorbereitungsarbeiten zur Landeinrichtung in jenen Rayons ausgeführt, wo die Landverhältnisse der landwirtschaftlichen Vereinigungen ganz besonders verwickelt waren, und im verflossenen Sommer wurden folgende Landeinrichtungsarbeiten in Angriff genommen:

Ausscheidung von Ländereien für Dörfer …………………........... 38050 Dessj.

Ausscheidung von Ländereien für Teile von Dörfern ……….......... 5250     „

Ausscheidung von Ländereien für Genossenschaften ……….....…1500     „

Verteilung von Ländereien zu Landstücken ……………........…… 20418     „

Ausscheidung von Ländereien zu Landstücken ……………......... 13870     „

Regelung von Zwischengrenzen …………………………….........… 1217     „

Abmessung von Ländereien für Gruppen …………………….......... 6010     „

Abmessung von Ländereien für Genossenschaften ……………....... 195    „

Abmessung von Ländereien für die Krasno-Kuter Baumschule ….......60    „

Abmessung von Ländereien für Sowjetwirtschaften …………......... 1410    „

Abmessung von Ländereien für Städte ……………………........…… 9900   „

Abmessung von Staatsland für die Wolgadeutsche Bank …....… 100000   „


Insgesamt ……..…..… 197000  „

Im laufenden Jahre hat die Regierung der RSFSR einen Vertrag mit der Wolgadeutschen Bank landwirtschaftlichen Kredits abgeschlossen, demzufolge dieser Bank 100.000 Dessj. Land zur Pachtnutznießung übergeben werden, und zwar aus dem Bestand der freien Ländereien, die sich in den östlichen Kantonen des Gebiets befinden. Die Einrichtung dieses Landes muß im Eiltempo erledigt werden, da die Bank zu dessen Exploitation schon im Jahre 1924 zu schreiten beabsichtigt. Wenn man berücksichtigt, daß die Einrichtung dieser 100.000 Dessj. eng mit der Landeinrichtung der umliegenden landwirtschaftlichen Bevölkerung verknüpft ist und die Staatsländereien in dem bezeichneten Rayon überhaupt in Ordnung gebracht und eingerichtet werden sollen, kann man erwarten, daß unsere Landeinrichtung im nächsten Jahr eine Fläche von etwa 300.000 Dessj. berühren wird.


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 586-589.