Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Der Volkswirtschaftsrat des Gebiets der Wolgadeutschen während
seines 5-jährigen Bestehens

(Совет народного хозяйства Области Немцев Поволжья за 5 лет.)
Von F. Ries.

Wenn die Revolution nach den Erfahrungen, die sie sich im Kampfe mit dem Zarismus angeeignet hatte, außerordentlich rasch Formen der Regulierung von Fragen der Politik, der Verteidigung der Interessen der Werktätigen, und zwar nicht nur an den Fronten, sondern auch in rechtlicher Beziehung fand, so war es auf dem Gebiete der Wirtschaftsführung schon bedeutend schwächer bestellt. Zur Zeit der Entstehung der Sowjetmacht befand sich das Proletariat in dieser Hinsicht in einer äußerst schweren Lage, da ihm die ganze Sippschaft der sabotierenden Beamten, Ingenieure und Leiter der Produktion feindlich gegenüberstand. Das Proletariat war stark genug, um die Herren zu beseitigen und deren Vermögen in Besitz zu nehmen, aber nicht vorbereitet, dieses Vermögen im Dienst der eigenen Interessen zu verwalten. Das mußte erst erlernt werden, und, was die Hauptsache war, die Sabotierenden, die die Industrie im Interesse der Besitzer bedienten, mußten veranlaßt werden, für die Interessen des Proletariats zu arbeiten.

Diese schwere Aufgabe zu lösen, wurden die örtlichen Volkswirtschaftsräte mit dem Obersten Volkswirtschaftsrat an der Spitze ins Leben gerufen Die ersten Schritte waren außerordentlich unbestimmt; es mußte eine Position nach der andern eingenommen werden. Das Dekret über die Nationalisation der Großindustrie war allein noch nicht hinreichend, sie dem Proletariat dienstbar zu machen; es mußte auch faktisch Besitz von ihr eigriffen werden. Ferner war es sogar nicht genügend, sich der Großindustrie zu bemächtigen; das Leben forderte auch die Besitzergreifung der Kleinindustrie. Das forderte die Zeit des Bürgerkrieges, eine Zeit, in der man die Kleinindustrie veranlassen mußte, für die Armee zu arbeiten.

Der Volkswirtschaftsrat unseres Gebiets, der seine Tätigkeit im Januar 1919 begann, mußte vor allem diejenigen Zweige der Industrie übernehmen, die unmittelbar zur Versorgung der Armee beitragen konnten, und zwar die Leder- und Sarpinkaproduktion, ferner auch diejenigen Unternehmungen, die die Armee mit Transportmitteln versehen konnten. Da noch kein wohleingerichteter Apparat geschaffen war, muhte man sich mit der Registrierung der Unternehmungen und deren Materialien und fertigen Erzeugnisse, die sich zur Zeit der Registrierung vorfanden, begnügen und die Unternehmungen veranlassen, zu einem Minimolpreis für die Armee zu arbeiten. In der ersten Zeit der Verwirrung und Angsterfüllte der Unternehmer die Forderungen; als er sich aber an die ihn umgebenden Verhältnisse gewöhnt und sich ihnen angepaßt hatte, begann er das Geschäft so zu führen, daß ein bedeutendes Prozert der Erzeugnisse auf den Markt gelangte, und der Volkswirtschaftsrat war mitunter genötigt, für die Armee minderwertige Erzeugnisse in ungenügender Menge zu liefern.

Der Apparat mußte also gut ausgebaut werden und allmählich alles in seine Hände nehmen.

Auf solche Weise führte der Volkswirtschaftsrat des Gebiets die faktische Nationalisation der gesamten Groß- und Kleinindustrie bis zum Anfang des Jahres 1920 durch, indem er alle Unternehmungen, die Reparaturwerkstätten und Windmühlen miteingeschlossen, an sich zog. Demzufolge wurden auch alle diese Unternehmungen von dem Apparat des Volkswirtschaftsrats bedient, finanziert und reguliert.

Um all diese Arbeiten zu bewältigen, war ein ungeheurer Etat von Angestellten, und zwar von etwa 200 Personen nötig, die in den Unternehmungen selbst beschäftigten Leute nicht mitgerechnet.

Nach den Rechenschaftsberichten des 2. Plenums des Gebiets Volkswirtschaftsrats während seiner Sitzung vom 27. Februar bis 3. März 1920 befanden sich unter der Verwaltung und Leitung der in Frage stehenden Anstalt folgende Unternehmungen:

Dampfmühlen ……….. 5

Motormühlen ……….. 81

Windmühlen ………. 457

Wassermühlen ……… 80

Ölmühlen …………… 75

Metallfabriken ……….. 8

Ziegeleien ……………. 5

Holzsägereien ………... 8

Elektrische Stationen … 4

Lederfabriken ……….. 27

Gerbereien …………… 6

Außerdem waren spezielle Werkstätten zur Anfertigung von Fußbekleidung, Pferdegeschirr, Wäsche, Filzwaren usw. eingerichtet, ferner wurde Brennholz für die Bedürfnisse der Armee, als auch der Sowjetanstalten beschafft. Während der Krise in der Beschaffung von flüssigem Heizmaterial wurde der größte Teil der Motormühlen mit Lokomobilen versehen, die mit Stroh geheizt wurden. Die Mühlen wurden repariert und auch sonst in einen besseren Zustand gesetzt. Da kam das Jahr 1921, das Jahr einer für unsere Gegend unerhörten Hungersnot, und gleichzeitig wurde auch die neue ökonomische Politik eingeführt. Die Zahl der Unternehmungen, die der Leitung des Gebiets-Volkswirtschaftsrates unterstellt waren, mußte verringert werden. Die kleineren Unternehmungen, deren man infolge der Beendigung des Krieges zur Versorgung der Armee nicht mehr bedurfte, kamen alle in Wegfall, ebenso solche Unternehmungen, die wegen Mangels an Rohstoffen nicht in Gang gesetzt werden konnten.

Indem der Volkswirtschaftsrat die Zahl seiner Unternehmungen verringerte und der Pflicht bezüglich der Versorgung der Armee enthoben wurde, schränkte er auch seinen Apparat ein, indem er ihn den neuen Verhältnissen entsprechend umgestaltete. Gegenwärtig stellt der Volkswirtschaftsrat einen kleinen, aber arbeitsfähigen Geschäftsapparat dar, der nur einen Etat von insgesamt 32 Arbeitern besitzt.

Die letzte Reorganisation des Gebiets-Volkswirtschaftsrats führte zu folgendem Schema:

Präsidium des Gebiets-Volkswirtschaftsrats … 3 Personen.

Technische Produkt.-Abteilung ……………..… 4       „

Statistische Abteilung ……………………...……2       „

Buchhaltung ………………………………...….. 3       „

Kanzlei ……………………………………....….. 6       „

Wirtschaftl. Teil ……………………………........ 3       „

Unter der Leitung des Gebiets-Volkswirtschaftsrats befinden sich folgende Unternehmungen:

Der Sarpinka-Trust, der die Textilindustrie vereinigt,

der Industrie-Verband des Gebiets der Wolgadeutschen, der 11 Unternehmungen zur Verarbeitung von Holz, Tabak und Getreide vereinigt,

die Fabriken, „Wosroshdenije“ u. „Rekord“.

Ferner die nicht in Betrieb stehenden Unternehmungen:

Die Fabrik „Rabotnik“ (Arbeiter),

die Konservenfabrik,

13 Lederfabriken (in Pacht),

10 Textilanstalten (in Pacht).

Gegenwärtig entscheidet sich die Frage der Liquidierung der Gouvernements-Volkswirtschaftsräte und die Übergabe der Funktionen dieser Anstalten an die Abteilungen für Industrie der örtlichen Volkswirtschaft oder an die Präsidien der Gouv.-Vollz.-Komitees.

Mithin wird nach dem 5-jährigem Bestehen des Gebiets die Tätigkeit des Volkswirtschaftsrats des Gebiets der Wolgadeutschen beendet. 


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 584-585.