Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Die Presse im Gebiet der Wolgadeutschen nach den Revolutionen von 1917
(Пресса в Области Немцев Поволжья после революций 1917 г.)

Schon vor dem Ausbruch der Februar-Revolution war das vormals schwach entwickelte, fast durchweg religiös-verschrobene und starr am Alten haftende Pressewesen im Gebiet der Wolgadeutschen gänzlich erstickt. Die bei den Verhältnissen der Zarenzeit gewissermaßen fortschrittlich gesinnte deutsche „Volkszeitung“ war als die letzte während des großen imperialistischen Weltkrieges von den übereifrigen Dienern des Thrones mehrmals brutal gemaßregelt und endlich im Juni 1916 geschlossen worden. Jeder treue Diener und Anhänger der absoluten und despotischen Herrschaft Nikolais II., dieses degenerierten Nachkömmlings eines degenerierten deutschen Fürsten auf dem russischen Thron, und jeder andere „echte“ Russe, von dem Deutschenfresser Nikolai Nikolajewitsch Romanow, dem Onkel des Zaren (!), angefangen bis herab zu dem kleinsten echtrussischen Beamten, — alle diese treuen oder „gemachten“ Busenfreunde und Anhänger des Thrones und der allein „orthodoxen“ (wahren) Staatsreligion hielten es damals für ihre heiligste Pflicht, nicht nur in eigener oder höchsteigener Person alles Deutsche zu verfolgen, zu unterdrücken oder gar gänzlich zu vertilgen, sondern auch das einfache, sonst gutmütige russische Volk dazu aufzustacheln. Es sollte daher weder ein gedrucktes, noch ein geschriebenes, ja nicht einmal ein gesprochenes Wort in dem heiligen Rußland der letzten Zarenzeit an den Tag kommen. Wer nicht russisch schreiben oder sprechen konnte, sollte das Schreiben und Sprechen überhaupt bleiben lassen. Wem von uns Deutschen, namentlich denen, die in der Armee waren oder sonst damals ein wenig in der Welt herumgekommen sind, ist jene schwarze Zeit nicht mehr im Gedächtnis?

Redaktion und Mitarbeiter der Zeitung „Nachrichten“.
Gottlieb Schneider, Robert Reuß (technischer Schriftleiter), A. Loos, Hermann Schulz (Verantwortlicher
Schriftleiter), Ad. Reichert.


Einige Zeit nach der Februar-Revolution, und zwar im April 1917, berief das sogenannte Zentralkomitee der Wolgadeutschen mit den Herren Großkapitalisten Schmidt, Borell, Schellhorn, dem Pastor Schleuning und ähnlichen neugebackenen „Wohltätern des Volke“ an der Spitze unter Mitwirkung ihrer treuen Anhänger, eines A. Lonsinger, P. Sinner und eines Paters J. Baumtrog, eine Konferenz der Wolgadeutschen ein, auf der hauptsächlich die Großbourgeoisie, die Geistlichkeit, die Händler und die Protzen vertreten waren. Außer den vielen andern Beschlüssen zu Nutz und Frommen dieser Herren wurde auch noch der Beschluß gefaßt, zur Herausgabe einer deutschen Zeitung für die deutschen Kolonisten an der Wolga von der ganzen deutschen Bevölkerung eine Steuer zu erheben, und zwar zu 10 Kopeken (!) von der Seele (!!), ob reich oder arm (!!!).

Die Redaktion der russischen Zeitung „Трудовая правда“.
Grigori Jeremejew, Ed. Groß (Verantwortlicher Schriftleiter) W. Gerasimow (technischer Schriftleiter).


Dieser „etwas“ freche und unverschämte Beschluß wurde auch mit allen Mitteln durchzuführen versucht. Bevor jedoch die neue Zeitung erschien, wurden einige Flugblätter in großer Anzahl von den angemieteten Zeitungsschreibern der obengenannten „Wohltäter des Volkes“ in die Welt hinausgeschickt, um nicht nur die Leute im Hinterland, sondern auch unsere deutschen Soldaten an der Front für solche „schöne“ Dinge zu begeistern, wie für den „Kampf bis an ein siegreiches Ende“ der Deutschenfresser Miljukow, Gutschkow und Konsorten, für die „Freiheitsanleihe“ dieser Herren, für das „heilige Deutschtum“ der Herren Welteinsacker Schmidt, Schellhorn usw. und der Gauner Schleuning, Baumtrog usw., für einen den Großgrundbesitzern und Landspekulanten erwünschten status quo der Landverhältnisse, für die heilige Gründungs- Versammlung usw. usw. Die bald darauf erscheinende „Saratower Deutsche Volkszeitung“ des deutschen zwölfköpfigen Zentralkomitees oder der „zwölf Apostel“, wie es noch genannt wurde, fuhr noch eifriger in diesem Sinne fort und bekämpfte als echt bourgeoise, reaktionäre und frömmelnde Zeitung jede neuzeitliche, freiheitliche und sozialistische Strömung mit pharisäisch-frommen, spitzbübisch-ehrlichen, höflich-flegelhaften Mienen und Gebärden.

Als Gegner dieser Zeitung erschien zu gleicher Zeit „Der Kolonist“ in Katharinenstadt, der trotz seiner mäßig sozialistischen (menschewistischen) Richtung dennoch gleich von Anfang an in einen erbitterten Kampf mit der „Saratower Deutschen Volkszeitung“ geriet, indem er das spitzbübische Treiben der „zwölf Apostel“ und ihrer Anhänger, die allesamt plötzlich aus unersättlichen Blutsaugern und abgefeimten Kunden weltbefreiende und weltbeglückende Heroen geworden waren, bloßstellte.

In dem Kampf, der immer erbitterter wurde und um die Wahlen in die Gründungsversammlung seinen Höhepunkt erreichte, war die „Saratower Deutsche Volkszeitung“ nicht allein geblieben. Sie hatte bald eine Bundesgenossin gefunden: die „Deutsche Stimme“, redigiert von Pater August Baumtrog (dem Bruder des schon genannten Paters Jos. Baumtrog) und dem Kaufmannssohn Florian Klein in Mariental. Dieses Blatt war noch schwärzer als die „Saratower Deutsche Volkszeitung“; denn es überbot sie noch in seinen fanatischen Ausfällen gegen die Sozialisten und deren Organ „Der Kolonist“ und zeichnete sich noch dadurch aus, daß es in seiner christlich-katholischen Liebe, die „Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ zu bringen vorgibt, offen Zwietracht und Feindschaft zwischen Arbeitern und Bauern säte, daß die niederträchtigste Absicht klar daraus zu ersehen war.

„Der Kolonist“ hatte, wie man bei uns zu sagen pflegt, für beide Zeitungen „Futter genug“; daran konnten sich die beiden „Schwesterzeitungen“ „die Zähne ausbeißen“. Außer den vielen Schlappen, die „Der Kolonist“ dem gegnerischen Lager beibrachte, machte er ihm auch noch einen gewaltigen Strich durch die Rechnung bei der Wahlkampagne um die Gründungsversammlung. Ihm ist es hauptsächlich zuzuschreiben, daß z. B. auf der Wiesenseite die Liste der deutschen Sozialisten (Nr. 1) gegen 42.000 Stimmen erhielt, also nur um etwa 3000 Stimmen weniger als die Liste der deutschen Kadeten (Nr. 16), die gegen 45.000 Stimmen zählte.

Da kam die Oktober-Revolution, und mit ihr ging die „Saratower Deutsche Volkszeitung“ ein. „Der Kolonist“ wurde von Ad. Emich weitergeführt als ein Organ, das auf der Plattform der Sowjetmacht stand. Er ging erst im Sommer 1918 ein, als Ad. Emich zur Sowjetarbeit nach Seelmann abberufen worden war.

Die „Deutsche Stimme“ vermochte unter den damaligen Verhältnissen sich auch noch bis zum Sommer 1918 durchzuhalten. Als sie nach der Oktoberrevolution ihre „hohen Ideale“ nicht verwirklichen konnte, begann sie fanatisch für die Rückkehr in „das alte Vaterland“ zu agitieren und richtete dadurch ungeheuren Schaden an. Auf die Vorschrift, ihre „Deutsche Stimme“ schweigen zu lassen, vermaß sie sich, unter dem Namen „Der Landwirt“ anfänglich recht zahm, dann aber wieder fanatischer und fanatischer die Agitation für die Rückwanderung nach Deutschland weiter zu betreiben, bis ihr endlich ihr sauberes Handwerk gelegt wurde.

Ende des Jahres 1917 erschien eine Nummer „Deutsches Volksblatt“, das den früheren „Morgenstern“, ein religiös verschrobenes Blatt, ersetzen sollte; doch blieb es nur bei dieser einzigen Nummer.

Im März 1918 begann in Saratow der „Vorwärts“, das Organ der Sozialisten des deutschen Wolgagebiets, zu erscheinen. Es trat voll und ganz für die Sowjetmacht ein und kämpfte im engsten Einvernehmen mit den Organen der Regierung gegen die Ausbeutung und Knechtung und ähnlicher Auswüchse des Protzentums.

Anfangs Juni 1918 wurde der „Vorwärts“ durch die „Nachrichten“ ersetzt. Letztere waren das Organ des damaligen Kommissariats für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet und nachher des Gebietsvollzugskomitees der Räte und des Gebiets-komitees der RKP des Gebiets der Wolgadeutschen. Als ein solches Organ vertreten die „Nachrichten“ unentwegt die Interessen der werktätigen Massen unseres Gebiets, unseres Staates und der ganzen Welt.

Im August 1918 fand „Der Kolonist“ einen Nachfolger in Katharinenstadt unter dem Namen „Kommunist“, der bis April 1919 existierte, worauf er den „Nachrichten“ einverleibt wurde, nachdem diese mit den Gebietsanstalten aus Saratow nach Katharinenstadt, nunmehr Marxstadt, übergegangen waren.

Unter anderen Organen, die noch in den ersten überaus schweren Zeiten der Revolution entstanden, sind noch zu nennen: „Die Arbeitsschule“ Nr. 1, „Volksbildung“ Nr. 1, „Arbeit und Kampf“ bis Nr. 16, „Bauernzeitung“, „Meldeblatt“, ferner Zeitungen und Zeitschriften für die Jugend: „Spiel und Arbeit“ bis Nr. 7, „Die Rote Jugend“, „Zum Kommunismus“ und „Die Zukunft“.

Alle diese letztgenannten Organe mußten unter den überaus schweren Verhältnissen des Hungers und anderer widerwärtiger Erscheinungen, wie man aus obigen Angaben ersieht, nach längerem oder kürzeren Bestehen eingehen oder, wie „Die Rote Jugend“, den jetzt noch bestehenden Organen einverleibt werden.

Seit dem 18. September 1922 erscheint nebst den jetzt noch bestehenden „Nachrichten“ und der seit Januar 1922 aus der „Bauernzeitung“ entstandenen Zeitschrift „Unsere Wirtschaft“ noch eine neue russische Tageszeitung, die „Trudowaja Prawda“ in dem jetzigen Gebiet der Wolgadeutschen, das nach seiner Abrundung im vorigen Jahr auch einen beträchtlichen Teil russische Bevölkerung enthält. Alle diese drei Organe sind bestrebt, alles zu tun, was in ihren Kräften steht, für die Werktätigen des Gebiets, des Sowjetlandes und der ganzen übrigen Welt.


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 581-583.