Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

5 Jahre proletarischer Volksaufklärung im Gebiet der Wolgadeutschen
(5 лет пролетарского народного образования в Области Немцев Поволжья.)
Von Joh. Müller.

Die Schule ist seit alter Zeit der Ort, wo die Menschen erzogen werden, wo sie die Befähigung erlangen, ihre Lebensaufgaben besser zu lösen. Ihr werden unsere Kinder gerade in demjenigen Lebensalter vertrauensvoll übergeben, in dem jegliche Beeinflussung von außen am nachhaltigsten wirkt.

Unsere alte Despotenregierung blieb anderen Ländern im Sinne der Ausnützung der Schule für eigene Zwecke nicht nach. Sie gestaltete sich daher solch eine Schule, die, statt tüchtige Bürger vorzubereiten, ihr nur gehorsame Diener ohne jedwede Initiative und Widerstandsfähigkeit gab. Die von ihr geschaffene Schule war eine Lern- oder vielleicht besser gesagt eine Dressierschule, wobei zu bemerken ist, daß die Klassenprivilegien immer und überall zur Geltung kamen.

Die Schule des gemeinen Volkes wurde ganz besonders vernachlässigt, ja sogar durch künstlich geschaffene schädliche Einflüsse gehemmt und geschädigt, damit nichts mehr aus ihr werde als ein Mittel, das Volksbewußtsein im Banne der fanatischgläubigen, unwürdig-sklavischen Untertänigkeit zu halten.

Erinnern wir uns ein wenig unserer alten Kolonistenschule. Zum Moment der Oktoberrevolution existierten in unseren Kolonien 236 Schulen verschiedenen Typus, davon 1 Knaben- und 1 Mädchengymnasium, 2 Progymnasien, 4 höhere Elementarschulen, 1 Lehrerseminar, 8 zweiklassige Ministerialschulen, 165 Landamtsschulen und 52 einklassige Ministerialschulen, auch noch Gemeindeschulen genannt.

Alle diese vielfarbigen Schulen waren unseren Kolonisten fremde und wenig befriedigende Anstalten, da sie wenig oder überhaupt keine praktischen Kenntnisse für das Leben gaben und die Unterrichtssprache eine unseren Kolonisten ganz fremde Sprache war, nämlich die russische. Selbstverständlich konnte der Kolonist auf solch eine Schule nicht als auf etwas ihm Nahes und Teures schauen, und wenn er seine Kinder dorthin schickte, so tat er es nur deswegen, weil kein anderer Ausweg vorhanden war.

Was die Aufklärung der Erwachsenen anbelangt, so stand es auf diesem Gebiete noch weniger befriedigend, weil auch hier die Arbeit meistenteils in russischer Sprache geführt wurde.

Durch die Anstrengungen der Arbeiter und Militärtruppen wurden im Oktober 1917 in Petrograd und Moskau die Ketten des Zarismus gesprengt und dessen Vertreter von ihren Plätzen gejagt. Die großen Wogen dieser Revolution brachten auch den deutschen Kolonisten an der Wolga die von ihnen langersehnte Freiheit; sie beseitigte mit einem Schlage die vielseitige schwere Bedrückung und gab ihnen viele, große. Rechte, gleiche Rechte mit dem russischen Volke und sogar ihre eigene Autonomie.

Eine der ersten Reformen, die von der Verwaltung der Autonomie, und zwar von der Abteilung für Volksbildung, durchgeführt wurde, war die Schulreform. Die Oktoberrevolution stellte vor die Abt. für Volksbildung die Aufgabe, sämtliches Bildungswesen dem Arbeiter und Bauer dienstbar zu machen, unsere Volksschule in eine wirkliche volkstümliche zu verwandeln.

Um dem gemeinen Volke die Schule wirklich dienstbar zu machen, mußte ihr System, ihre Form aufgelöst und neu geschaffen werden. Die Einteilung der Schule in Anfangsschulen, höhere Elementarschulen, Gymnasien, Real-, Gewerb-, technische und Handelsschulen und alle andere Arten von niederen und Mittelschulen wird aufgehoben und eine Einheitliche Arbeitsschule mit 2 Stufen hergestellt. Die 1. Stufe ist für Kinder von 8 bis 13 Jahren mit 5-jährigem Kursus und die 2. Stufe für Kinder von 13 bis 17 Jahren mit vierjährigem Kursus bestimmt.

An die einheitliche Schule schließt sich der Kindergarten für Kinder von 4 bis 8 Jahren an. Das Gesamtsystem der Schulen, von Kindergärten angefangen bis zur Universität, stellt eine ununterbrochene Leiter dar und bedeutet, daß alle Kinder eine und dieselbe Schulart besuchen und ihre Bildung unterschiedslos beginnen müssen, daß alle Kinder das Recht haben, von den untersten bis zu den höchsten Stufen zu gelangen.

Als wichtigste Grundlagen dieser Einheitlichen Arbeitsschule sind folgende aufzuzeichnen:

1. daß der Besuch der Schule der ersten und zweiten Stufe für alle Kinder schulpflichtigen Alters obligatorisch ist;

2. daß in den Schulen erster und zweiter Stufe gemeinsamer Unterricht für Kinder beiderlei Geschlechts erteilt wird;

3. daß der Unterricht irgend einer Glaubenslehre oder die Verrichtung von religiösen Handlungen oder Kultuszeremonien in den Räumen der Schule nicht zulässig ist;

4. daß die Einteilung der Lehrer in Kategorien aufgehoben wird.

Von den Grundprinzipien an bis zu den kleinsten Kleinigkeiten mußte alles aufgestellt und geordnet werden, ohne jedwede Mittel, ohne Erfahrungen; denn die Schule des Arbeiters und Bauers hatte noch nirgends und niemals in der Welt existiert.

Die Neugestaltung der Schule war daher eine titanische Aufgabe. Bei jedem Schritt vorwärts eröffneten sich immer neue und wieder neue Horizonte, neue Aufgaben. Nicht nur die Prinzipien, sondern auch selbst der Begriff Volksbildung änderte und erweiterte sich.

Auch das, was früher gar nicht zur Volksbildung gehörte, was nur den herrschenden Klassen zum Vergnügen da war, mußte gesammelt und der Abteilung für Aufklärung einverleibt werden, wie z. B. Theater, Kunst.

Diese kolossale Arbeit, die Aufstellung eines neuen Systems, neuer Anstalten, das Beschreiten neuer Bahnen, mußte bei den ungünstigen Verhältnissen des Bürgerkrieges, der Zerrüttung und des Hungers verrichtet werden. Sämtliche Kräfte des Landes hatte der Kampf um das politische und ökonomische Bestehen und die Selbsterhaltung in Anspruch genommen, so daß selbstverständlich in Bezug auf Volksbildung in dieser Zeitspanne des fünfjährigen Bestehens noch nicht das geleistet werden konnte, was unter anderen Umständen hätte geleistet werden können. Diese Periode ist mehr als eine Organisationsperiode, als eine Zeit der Vorarbeit für die Herbeiführung eines neuen Bildungswesens zu betrachten. Es war ein Bahnbrechen für die proletarische Volksaufklärung. Diese Periode geht zu Ende. Das Feld ist frei. Das Abbrechen ist zu Ende. Jede Anstalt hat ihren bestimmten Platz. Die Grundprinzipien der Einheitlichen Arbeitsschule sind klar und haben sich als unerschütterlich bewiesen. Eine Periode der geordneten schöpferischen Arbeit ist angebrochen, um die Prinzipien ins Leben zu rufen.

Bevor das deutsche Kommissariat an die Schulreform trat, fand es für notwendig, die Lehrermasse mit der bevorstehenden Umgestaltung sämtlicher Schulen und mit den Grundlagen der neuen Einheitlichen Arbeitsschule gründlich bekannt zu machen. Es veranstaltete daher im August und September 1918 Lehrerkurse in Seelmann (Rownoje).

Die Zahl der Zuhörer belief sich auf etwa 500 Personen, was klar und deutlich zeigt, wie groß die Wissensbegier und das heiße Verlangen seitens der Lehrer war, sich mit den Prinzipien der neuen Einheitlichen Arbeitsschule bekannt zu machen. Die Zuhörermasse war eine sehr bunte; es waren anwesend greise Lehrer und ganz junge Leute von der Schulbank, Studenten, die das Lernen auf der Universität einstellten, um unter das Volk zu gehen und es aufzuklären.

Ungeachtet der großen Arbeit und der vielen Hindernisse, die den Lehrern bei der Umgestaltung der alten Schule im Wege standen, traten dennoch alle mit Freuden an den Aufbau dieser neuen Schule, die den Bedürfnissen der deutschen Kolonisten völlig entsprechen sollte. Selbst der deutsche Bauer, der bisher jeglicher Kulturanstalt feindlich gegenüberstand, kam jetzt opferwillig und freudig diesem Unternehmen entgegen, nahm regen Anteil an den Arbeiten und ließ keine Forderung unerfüllt. Der Wunsch, so schnell wie möglich eine wirklich ihren Bedürfnissen entsprechende Schule zu bekommen, war so groß, daß viele Gemeinden sich selbst auf die Lehrersuche machten, nicht abwartend, bis man ihnen die Lehrer nach früherem Gebrauche zuschickte.

1. Soziale Erziehung.

a) Schulwesen.

Eine der Hauptaufgaben in der Schulfrage war und ist die Durchführung des allgemeinen Unterrichts.

Vor der Revolution war die Zahl der vorhandenen Schulen schon lange nicht genügend (es konnten nur 60 Prozent aller Schulkinder von 8 bis 15 Jahren in die Schule ausgenommen werden; qualitativ war wenig Wertvolles an ihnen. Die allgemeine Zahl der Lehrer (1275) zu dieser Zeit war weit nicht genügend aus die vorhandenen Schulkinder (etwa 100.000). Die Zahl derjenigen Lehrer aber, die in der Einheitlichen Arbeitsschule haben arbeiten können, war viel geringer. Schulmeister, religiös-gesinnte, konterrevolutionär-gesinnte, noch die Zahl derjenigen, die die deutsche Sprache nicht verstanden, alle diese mußten das Feld räumen.

Nachstehende Tabelle gibt uns einige Notizen über die Zahl der Schullehrer während der Zeit des Bestehens unseres Gebiets.

Diese Tabelle zeigt uns eine fortwährende Abnahme der Lehrer. Als Hauptursachen sind hervorzuheben: Die von der Schulabteilung einigemal durchgeführte Reinigung von untauglichen.

Die Geschichte der Elementarschule im Laufe dieser 5 Jahre stellt einen hartnäckigen Kampf ums Dasein dar, einen Kampf der Organe der Volksbildung mit der Armut, dem Mangel an allem. Die Verhältnisse der Schulen in den halbzerfallenen, unbeheizten Gebäuden, ohne Lehrbücher und Hilfsmittel, mit den schlecht besoldeten Lehrern waren unerträglich, und natürlich ist die Zahl der Schulen immer kleiner geworden. Gezwungen und notgedrungen hat sich die Zahl der Schulen so weit vermindert, daß sie gegenwärtig kleiner ist, als sie vor der Oktoberrevolution war.

b) Vorschulwesen.

Was das Vorschulwesen anbelangt, so ist es eine ganz neue Erscheinung auf der Aufklärungsfront in unseren Kolonien. Früher, vor der Oktoberrevolution waren nirgends in den deutschen Dörfern Anstalten für Kleinkinder vorhanden, und nur die Sowjetmacht schenkte diesen Kleinen die nötige Aufmerksamkeit. Nach Verlauf eines Jahres war unser deutsches Gebiet schon mit einer großen Anzahl Kindergärten bedeckt, deren Zahl immer größer wurde und zum 1. Januar 1922 bis zu 49 Heranwuchs. Unter dem Einflüsse der Hungerjahre und Übergabe des Volksbildungswesens an das örtliche Budget begann die Arbeit auf diesem Gebiete nach Januar 1922 in demselben Tempo einzugehen. Sieh untenstehende Tabelle.

Zeitperiode

Zahl der Kindergärten

Zahl d. Zöglinge beiderlei Geschl.

Zahl der Erzieher

Im Schuljahre 1918—1919

1

2

Zum 1. Januar 1921

34

1211

71

   „    „       „     1922

49

2296

84

   „    „       „     1923

6

250

9

   „ 1. April 1923

2

127

6

 

c) Kinderschutz.

Dein Kinderschutz schenkte unsere Gebietsabteilung für Volksbildung nicht gleich genügend Aufmerksamkeit. Erst in dem Jahre des furchtbaren, noch nie dagewesenen Hungers, der wie eine schwarze Wolke über das Wolgagebiet zog und eine große Armee von Vollwaisen, Halbwaisen und Kindern schuf, die auf die eine oder andere Weise die Verbindung mit ihren Eltern verloren hatten, — erst da begann die Gebietsabteilung ihre Arbeit auf diesem Gebiete schnellstens zu entwickeln. Hier war nicht Zeit zu zögern. Die große Schar sich selbst überlassener, herumirrender, in Lumpen gekleideter und hungernder Kinder mußte schnellstens aus den Klauen des Hungers gerissen werden.

In aller Eile entstand eine ganze Reihe von Kinderheimen und Kollektoren (letztere Anstalten hatten die Aufgabe, die herumlaufenden aufsichts- losen Kinder einzusammeln, zu vereinigen und dann entweder in die Kinderheime zu verteilen oder in erntereiche Gouvernements zu senden).

26 Kinderheime waren in kurzer Zeit eröffnet. Es kostete die Abteilung ungeheure Anstrengungen, die vielen obdachlosen Kinder nur einigermaßen unter-zubringen. Eine kolossale Arbeit war in zwei, drei Monaten von der Abteilung getan. Etwa 3000 Kinder waren untergebracht, davon etwa 2000 in erntereiche Gouvernements, hauptsächlich in das Odessaer, geschickt, andere gruppenweise, bis 50 Kinder in einer Gruppe, bei einem Leiter, gewöhnlich einem Lehrer, und 2‒3 Personen technischer Arbeiter untergebracht.

Damit aber war die Arbeit der Volksbildungsabteilung auf dem Gebiete für Kinderschutz noch lange nicht erschöpft. Noch groß war die Zahl der Kinder, die auf Schutz warteten, darum mußte das Arbeitstempo der Abteilung unermüdlich weitergehen, immerzu mußte man neue Kinderheime eröffnen und neue Gruppen von Kindern bilden zum Abschicken in brotreiche Gouvernements.

Aus der untenstehenden Tabelle läßt sich ersehen, wie getreu die Abteilung für Kinderschutz bis heute ihre Arbeit führt, wie sorgsam sie sich bis heute jedem bei ihr Schutz suchenden Kinde annimmt.

Zahl der Kinderheime, der Zöglinge und Erzieher

Zeitperioden

Zahl der Kinderheime

Zahl der Kollektoren

Zahl der Zöglinge

Zahl der Erzieher

Anmerkung

Im Jahre 1919

2

 

Zum 1. Januar 1921

10

287

25

 

    „   „      „      1922

38

5

2121

89

 

    „   „      „      1923

69

6

3643

170

Im heutigen Gebiet.

    „   „      „      1923

54

4

2936

141

Im alten Gebiet.

 

Angabe der Zeitperioden

Allgemeine Zahl der Lehrer

Darunter

Anmerkungen

männliche

weibliche

Zum Anfang des Schuljahres 1918‒1919

1275

829

446

Notizen d. alten Gebietes.

Zum 1. Januar 1921

858

529

329

    „   „      „      1922

638

407

231

    „   „      „      1923

765

415

350

Im heutigen Gebiet.

    „   „      „      1923

472

321

151

Im alten Gebiet.

 

Elementen, die Mobilisierung der Lehrer in die Rote Armee und in verschiedene Zivilabteilungen, das Auswandern vieler Lehrer während der Hungerjahre.

Um die Lehrer noch mehr mit den Prinzipien der Arbeitsschule vertraut zu machen, organisierte die Abteilung im Sommer 1 919 in Marxstadt zweimonatige Kurse, die zu besuchen die ganze Lehrerschaft des Gebiets verpflichtet war. Bei den Kursen waren verschiedene Werkstellen veranstaltet, wo jeder Lehrende in einer Arbeit Fertigkeit zu erlangen verpflichtet war. Im Sommer 1920 hatte die Gebietsabteilung zweimonatige wissenschaftlich-pädagogische Kurse in Warenburg (Priwalnoje) und in Hussenbach (Linewo-Osero) veranstaltet. Nach diesem Sommer tritt in der Errichtung von Lehrerkursen eine Pause ein, und erst im Sommer 1923 werden von der Gebietsabteilung einmonatliche Kurse in Pokrowsk veranstaltet, die das Ziel verfolgten, die Lehrer mit den neuesten Strömungen der Pädagogik bekannt zu machen und einiges Wissen aus der politischen Ökonomie beizubringen. Eine ganze Reihe ähnlicher Kurse waren auch in den Kantonen organisiert.

Die Einführung der neuen ökonomischen Politik, d. h. die Entlastung der Staatskasse vom Unterhalt der Schule, die mit dem schrecklichen Hunger im Gebiet zusammengefallen war, hat den Schulen des Gebiets besonders hart zugesetzt.

Indem wir im Gebiet alle Mittel gegen den unerhörten Hunger verwendeten, wurden wir der Staatsunterstützung benommen, und die Schule konnte nur ein jämmerliches Dasein fristen.

Folgende Tabellen schildern den Zustand der Schulen des Gebiets, seit seiner Gründung.

Die Zahl der Schulen verschiedener Zeitperioden.

Angabe der Zeitperioden

Allgemeine Zahl der Schulen

Darunter

Anmerkungen

1. Stufe

2. Stufe

Semiletka

Zum Anfang des Schuljahres 1918‒1919

236

236

Im alten Gebiet.

Zum 1. Januar 1921

340

306

24

    „   „      „      1922

325

312

13

    „   „      „      1923

335

309

8

8

Im heutigen Gebiet.

    „   „      „      1923

220

209

5

6

Im alten Gebiet.

 

Die Zahl der schulpflichtigen Kinder und der Schüler im Gebiete.

Angabe der Zeitperioden

Die Zahl d. schulpflichtigen Kinder von 8-11 Jahren

Zahl der Schüler

Anmerkungen

Zum Anfang des Schuljahres 1918‒1919

61.694

Im alten Gebiet.

Zum 1. Januar 1921

53.394

55.699

    „   „      „      1922

40.125

31.796

    „   „      „      1923

63.279

38.653

Des jetzigen Gebietes.

    „   „      „      1923

40.125

26.921

Des alten Gebietes.

 

Die Abteilung aber war nicht nur bestrebt, die armen Kinder unter Dach zu bringen, sondern ihnen auch solche Heime herzustellen, wo sie ohne Sorgen in Freuden sich geistig und physisch entwickeln können.

Nicht nur im Lernen, Spielen, Singen und Spazieren verbringen die Kinder in den Kinderheimen ihre Zeit, sondern die älteren von ihnen müssen auch schon diese oder jene Arbeit in der Wirtschaft tun, so z. B. in denjenigen Kinderheimen, die Landwirtschaft treiben, werden die Kinder nach Möglichkeit bei den Feldarbeiten ausgenutzt.

Gegenwärtig verrichtet die Abteilung für Kinderschutz wieder eine kolossale Arbeit, nämlich die Reevakuierung der Kinder aus den brotreichen Gouvernements. Die Zurückwanderung nahm im Oktober 1922 ihren Anfang, und bis zum 1. September sind 1466 Kinder zurückgekommen, von denen ihren Eltern oder Freunden 1246 zugestellt worden sind.

2. Fachbildung.

Das Gebiet in seinen alten Grenzen hatte nur eine Fachschule aufzuzeigen, nämlich das Lehrerseminar zu Seelmann, das gleich am ersten Tag der Aufhissung des roten Sternes als Russifizierungsanstalt still den Weg alles Irdischen gegangen ist.

Eine vorhergesehene Umgestaltung dieser Schule in ein deutsches pädagogisches Institut ist nicht gelungen, da die entsprechenden Lehrkräfte nicht vorhanden waren und unsere Mittelschulen auch noch keine Schüler für eine deutsche Hochschule liefern kannten.

Die eröffneten niederen professionellen Schulen konnten sich nicht behaupten; sie gingen sehr bald ein. Nur eine Schule für Halbwüchsige existiert schon zwei Jahre. Nach den Hungerjahren zum Herbst 1922 sind die jungen Keime von Fachschulen wieder aufgeblüht, und gegenwärtig zählen wir 9 prof. Schulen, von denen 5 auf das alte Gebiet und 4 auf die eingeschlossenen russischen Teile kommen.

3. Politische Aufklärung

Dieser Zweig der Volksaufklärung in unserem Gebiet hat eine bunte Gestaltung. Der Teil des gew. Nowousensker Bezirks hatte eine ganze Reihe Bibliotheken und Lesehallen auszuweisen, während in den anderen Rayons keine Spur von solchen Anstalten vorhanden war.

Die vorhandene Literatur, meistens russische, war im besten Falle für Unterhaltung zu verwenden und konnte nicht als Mittel zur Aufklärung der erwachsenen Bevölkerung dienen, so daß hier eigentlich Neues geschaffen werden mußte. Noch im Winter 1918‒1919 begann auf dem Gebiete der politischen Aufklärung ein reges Leben. Während dieses Winters entstanden in den Dörfern eine große Anzahl Klubs, Volkshäuser, Theater, Orchester, Bibliotheken, Lesehallen usw. Lehrer und mehr entwickelte Bauernjugend — alle nahmen regen Anteil an der Aufklärungsarbeit.

Am meisten jedoch entwickelte das Volkstheater seine Tätigkeit. Fast in jeder Dorfschule war eine kleine Szene errichtet. Ihren Höhepunkt erreichten die Arbeiten in den obenangeführten Anstalten im Winter 1919‒1920. Nach diesem Winter beginnt die Arbeit allmählich zu ersticken.

Das Dekret über Liquidation des Analphabetentums (1919) stellte neue riesige Aufgaben. Jeder Bürger des Staates soll bewußt an der Staatsarbeit teilnehmen, und dies kann er erst voll und ganz, wenn er des Lesens und Schreibens kundig ist. Und das sollte mit allen Mitteln erstrebt werden. Laut des Dekrets über die Liquidation des Analphabetentums sollte letzteres unter der Bevölkerung im Alter von 14‒50 Jahren beseitigt sein.

Des Lesens und Schreibens Unkundige zählte unser Gebiet nach den Daten der Volkszählung von 1920 75.159 Personen.

Am 15. November 1919 gründete man bei der Gebietsabteilung für Volksbildung eine beständige Kommission, der die Leitung der Liquidationsarbeit im Gebiet übertragen wurde.

Den Winter 1919‒1920 hindurch war die Kommission hauptsächlich mit verschiedenen Vorarbeiten beschäftigt. Sie organisierte Kurse zur Vorbereitung von Liquidatoren, gab ein Lehrbuch „Wie ich schnell lesen lerne“ und eine „A-B-C-Zeitschrift“ heraus. Außerdem gründete sie in allen Ortschaften Liquidationskommissionen, durch die sie starke Agitation führte.

Im Winter 1920‒21 entwickelte die Gebietskommission ihre maximalste Arbeit.

Im nächsten Winter, 1921‒22, geriet diese Arbeit hier und da ins Stocken, wozu die Verpflegungskrisis und der Banditismus viel beitrugen.

Über die Liquidationsarbeit im Gebiete können wir folgende Ziffern bringen:

Zeitperioden

Zahl der Schulen

Zahl der Schüler

Zahl der Lehrenden

Zum 1. Januar 1921

141

7754

434

    „   „      „      1922

135

5142

246

    „   „      „      1923

3

59

8

 

Heute, wo der Hunger überlebt ist, regt sich wieder die Arbeit im ganzen Gebiet. Der Mangel an Mitteln, an deutscher Literatur läßt diese Arbeit nur langsam aufsteigen; doch wir haben Aussicht, daß die Bibliotheken und Lesehallen wieder bald mit nötiger Literatur versorgt sein werden, worauf die Arbeit selbstverständlich wieder erfolgreicher vonstattengehen wird.

Die Kunst hat im Gebiet erst nach der Revolution ihren Einzug in die Schulen gehalten. Es wurde eine Reihe von Schulen der bildenden und Tonkunst eröffnet. Diese jungen Keime wurden jedoch während der Hungerperiode stark mitgenommen, und nur eine Musikschule in Marxstadt hat sich erhalten, drei Kunstschulen und eine Reihe Musikschulen, sowie einige Studien kämpfen noch mit den Folgen des Hungers.

Das Verlagswesen hatte ebenfalls kleine Versuche gemacht, sich zu entwickeln. Vor der Oktoberrevolution konnten nur einzelne streng zensurierte Bücher aus Riga oder Deutschland bezogen werden. Die Folgen davon sind bekannt.

Nur die Oktoberrevolution hat die ersten hier gedruckten Broschüren und Zeitschriften gebracht. Selbstverständlich konnte dies nur langsam und mit großer Mühe geschehen, da eine materielle und geistige Basis dazu geschaffen werden mußte.

Der Bürgerkrieg hat sehr viel gehemmt, der Hunger hat diese Arbeit ganz lahmgelegt, und erst nach der Erholung fängt wieder neues Leben an. Heute haben wir Aussicht, daß die deutsche Presse im Gebiete nicht nur Zeitungen, Zeitschriften und Lehrbücher, sondern auch wissenschaftliche und unterhaltende Literatur verschaffen wird; die ersten Schritte dazu sind bereits getan.


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 571-576.