Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Zur Geschichte der Gebietsorganisation der RKP(B)
(К истории областной организации РКП(б).)
Von Joh. Schmidt.

Die Ereignisse von 1905, die ganz Rußland in fieberhafte Aufregung versetzten, fanden in unsern Kolonien nur schwachen Widerhall. Nur eine dünne Schicht der Dorfintelligenz — Lehrer, Schreiber u. a. wurden in die Bewegung hereingezogen. Es wäre jedoch verfehlt, wenn wir bei ihnen Verständnis für die wahren Ziele der Revolution suchen wollten. Eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Erbitterung gegen den Zaren und seine Regierung und eine nebelhafte Vorstellung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mußten ein solches Verständnis ersetzen. Den breiten Schichten der Bauernbevölkerung fehlte meistens jegliche Vorstellung über diese Dinge, umso mehr, als alle Probleme für sie eine erschöpfende Lösung in der Bibel fanden. Die Uneinigkeiten, Zwistigkeiten, ja sogar Kämpfe, die in den Gemeinden auf Grund der alltäglichen Interessen der Bauern vorkamen und die meistens einen ausgeprägten Klassencharakter trugen, wurden nicht nur von den Bauern, sondern auch von den „Revolutionären" in keinerlei Beziehung zu ihren politischen Losungen gebracht; denn dieses waren praktische Alltagsfragen, die die hohen Ziele der Revolution nur profanieren können. Die wirklichen Gründe dieser Alltagsstreitigkeiten waren aber immer Klassengegensätze zwischen den armen und wohlhabenden Bauern in den verschiedensten Fragen des gesellschaftlichen Lebens im Dorf, hauptsächlich die Frage der Landbenutzung.

Heinrich König,
Verantw. Sekretär des Gebietskomitees der RKP(B) des Gebiets der Wolgadeutschen.


Schon in der Mitte des vorigen Jahrhunderts machte sich ein großer Landmangel in den Kolonien bemerkbar, sodaß Massenaussiedlungen vorgenommen und neue Dörfer gegründet werden mußten. Sobald jedoch diese Massenaussiedlungen aus den Mutterkolonien eingestellt waren, wurde auch der Landmangel wieder fühlbar. Die dadurch entstehende Armut und die Hungersnöte wurden von den Wucherern, Protzen usw. ausgenützt, um nicht nur einzelne Wirtschaften, sondern sogar ganze Gemeinden in feudale Abhängigkeit zu bringen, so daß viele Gemeinden ganze Felder nach den Namen dieser Wucherer benannten (Rauschenbachsland, Henningsland, Kraftsland usw.). Diese intensive Differenzierung brachte eine Masse Bauernfamilien, der Produktionsmittel beraubt, aus ihrem gewöhnlichen Geleise, so daß nun eine neue Form der Aussiedlung aus den Kolonien beginnt. Außer den Bauern, die meistens an die Linie (Kaukasus) und nach Sibirien zogen, um sich in der neuen Heimat ebenfalls mit Bauerei zu beschäftigen, macht sich nun, besonders nach dem Hunger von 1891 noch ein Zug der „gescheiterten Existenzen“ nach den naheliegenden Städten bemerkbar.

Bald wurden verschiedene Industriezentren, wie Samara, Saratow, Zarizyn, Baku u. a. Sammelpunkte eines Wolgadeutschen Proletariats, das durch seine Lage in der Industrie sich allmählich in Klasseninteressen des Proletariats einlebte und andererseits auch lebhafte Beziehungen zur alten Heimat unterhielt.

Die planmäßige Ausnutzung all dieser Möglichkeiten hätte auch in den Kolonien den Klassenkampf auf eine, gewisse Höhe bewußter Arbeit bringen können. Da jedoch die wirklichen Revolutionäre, die aus den Kolonisten hervorgingen, bei ihrer Arbeit nur die Gesamtinteressen des ganzen Proletariats, somit auch des deutschen berücksichtigen und der Arbeit in den Kolonien fast keine Aufmerksamkeit schenken konnten, so hatten die Kapitalisten und ihre Handlangerin — die Wolgadeutsche Geistlichkeit um so mehr freie Hand, ihr Wesen hier zu treiben. Durch die verschiedenen evangelischen und katholischen Jünglingsvereine usw. versuchte man denn auch die Klassengegensetze mit der leuchtenden Farbe der Deutschtumsidee zu überwischen.

Die sinnlose Deutschenhetze während des imperialistischen Krieges, die sogar so weit ging, daß spezielle Gendarmeriekommissionen in die Kolonien geschickt wurden, um die Gesinnung der Bevölkerung zu prüfen, und daß letztere endlich durch das Gesetz vom 5. Februar 1917 von Haus und Hos verjagt werden sollte, diese Hetze erleichterte die nationalistische Agitation erheblich und mußte natürlich die Kapitalisten als nationale Helden in den Augen der Bevölkerung erscheinen lassen. Ein Großkapitalist Schmidt, der sich früher um „seine Stammesbrüder“ nur kümmerte, soweit es ihre Ausbeutung galt, ward zusammen mit „dem Märtyrer für die nationale (nationalistische) Idee — Schleuning“ die Verkörperung der deutschen Einigkeitsidee. Auch nicht einen einzigen „Tropfen Galle“ des Klassenkampfes gelang es dem Vertreter der revolutionär gesinnten Wolgakolonisten auf dem ersten Kongreß der Wolgadeutschen, auf dem Kongreß der Gutsbesitzer, der Dorfhändler, der Pastoren und Schulmeister, der Saratower Großindustriellen und verschiedener anderer „Herren“, die über die Wolgadeutschen Bauerninteressen verhandelten, in den Freudenkelch der deutschen Einigkeit zu tröpfeln.

D. Bartel,
der von den Banden Wakulins ermordet wurde.


Nach und nach änderte sich jedoch die Stimmung in den Kolonien; denn ungeachtet des „Freudenkelches“ verschlechterte sich die ökonomische Lage der Dorfarmen zusehends. Die Drohung der Vertreibung hing ungeachtet der „großen deutschen Männer“ immer noch wie eine Bleiwolke über den Kolonien. Und was die Hauptsache war, der Krieg dauerte an, und die großen deutschen Männer verbreiteten die „Freiheitsanleihe“ in massenhaftem Umfange.

Auf dem 2. Kongreß der Wolgadeutschen in Schilling (August 1917) waren schon viel mehr Bauernvertreter erschienen, so daß der Sozialistenbund schon bedeutend bessere Positionen besaß als auf dem 1. Kongreß. In der Frage bezüglich der Kandidatenliste für die Gründerversammlung machte man ihm schon große Zugeständnisse. Und was dann die Wahlen in die Gründerversammlung bewiesen, war, daß der Sozialistenverband ungeachtet des buntschillernden Farbengeprägs von Programmgemischen beinahe die Hälfte aller Stimmen in den Wolgakolonien erhielt. Dem Einigkeitsdusel war dadurch ein jähes Ende bereitet.

Schon während dieser Zeit zeigten sich die Resultate einer anderen Erscheinung. Während des imperialistischen Krieges mußten bereits die Familien der Mobilisierten und die wegen der Deutschenhetze entlassenen Fabrikarbeiter — Landfremde nennt sie P. Schleuning — in die alte Heimat zurückkehren, da sie den Unterhalt ihrer Familien in den Städten ohne Erwerbsmöglichkeiten nicht bestreiten konnten. Außerdem kehrten nun von der Front die Soldaten zurück, die ihre einzigen Beschützer nur in den Bolschewiki sahen, für die es keine nationalen Unterschied gab und die gegen den Krieg waren.

Somit begann mit der Rückkehr der Soldaten von der Front eine rege bolschewistische Arbeit, wobei die Proletarier immer als bindendes Zement dieser neugeschaffenen Organisation dienten. So waren schon im Sommer und Herbst I9t7 die Lastträger und Walker in Katharinenstadt unter bolschewistischem Einfluß; in Boaro wurde von der dortigen Gruppe schon im Oktober oder November 1917 eine rote Garde gebildet, die später regen Anteil an der Einführung der Sowjetmacht im ganzen sogenannten Katharinenstädter Rayon nahm; im Rjasanowschen Kreise wurde von der dortigen Organisation schon im November 1917 eine große Kontribution auf die Dorfhändler und Protzen durchgeführt. Letztere Organisation zerfiel jedoch sehr bald, und bis fitzt ist daselbst keine Organisation vorhanden.

Als die Wellen des Klassenkampfes in den Kolonien immer höher schlugen, machten die kleinbürgerlichen Elemente noch einen Versuch, die Macht in den Kolonien durch Bi trug in ihren Händen zu erhalten. Man suchte nicht nur die Zentralregierung, sondern auch die örtliche arme Arbeiter- und Bauernbevölkerung zu täuschen. Zu diesem Zwecke wurde die sogenannte Warenburger Konferenz aus den deutschen Vertretern der Landschaften einberufen, die durch eine formelle Anerkennung und nominelle Einführung der Rätemacht eine weitgehende Selbstverwaltung zu bekommen hoffte, um hier dann um so ungestörter schalten und walten zu können. Es wurden nach althergebrachtem bourgeoisem Muster Steuern, und zwar Kopfsteuern eingeführt. Dann wurde ein zeitweiliger „Zentralrat“ gewählt. Es ist dies natürlich das einzige in der Geschichte Rußlands dastehende Beispiel, daß ein „Rat“ von den Landschaftsherren gewählt wurde. Zwischen diesem Zentralrat und dem Zentralbüro in Saratow bestand der einzige Unterschied, daß hier Kießner, J. Groß und Tießen, dort Schmidt und Schellhorn an der Spitze standen und an Stelle des Wörtchens „Büro“ das Wörtchen „Rat“ gesetzt wurde. Im übrigen lebten diese beiden Zentralinstitutionen in bester Eintracht und unterhielten einen brüderlichen Verkehr in Organisationsfragen. Dieser Versuch stieß aber auf den heftigsten Widerstand wie innerhalb, so auch außerhalb des Gebiets. Ganz besonders heftig war die Katharinenstädter Gruppe gegen die Versuche der Bourgeoisie, ihre Herrschaft durch einen solchen Betrug zu erhalten. In Katharinenstadt war man in dieser Zeit beschäftigt, die Rätemacht einzuführen, was dann auch mit Hilfe der Nikolajewsker Gruppe und der Boaroer Roten Garde nach einigen Wochen erfolgreich gelang.

Andererseits wurden vom Verbände der Sozialisten ebenfalls Schritte unternommen, um die nationale Frage, die im Zusammenhang mit den Bedrückungen während des Krieges eine wichtigere Bedeutung gewann, einer erschöpfenden Lösung näher zu bringen. Zur selben Zeit als die Warenburger Ratsherren nach Moskau fuhren, wurde auch der deutsche Sozialistenverband in ebenderselben Angelegenheit im Volkskommissariat für nationale Angelegenheiten vorstellig.

Das ganze Beginnen des „Zentralrats“ scheiterte, da dem Sozialistenverband die Autonomie des Wolgagebiets zugesichert wurde. In Saratow wurde das deutsche Kommissariat organisiert, dem ungeheuer schwere Aufgaben zuteil wurden. Für die Wolgadeutsche Bourgeoisie war es nun klar, daß nicht nur ihre Oberherrschaft, sondern auch ihr Vermögen in großer Gefahr schwebte. Deshalb stellten sie sich und ihr Vermögen in den Schutz des deutschen Imperialismus, der in der Ukraine große Streitkräfte stehen hatte, und versuchten nochmals, ihre Überredungskraft und die Sympathie der Kolonisten für ihre alte Heimat zu erobern. Ja allen Dörfern entwickelte sich eine solche Agitation für die Auswanderung, daß bei den wohlhabenderen Kolonisten nur über dieses Thema gesprochen wurde.

Die Gen. Peters, Leonhardt, Groß, Quiring und Sprenger.
Präsidium der parteilosen Bezirkskonferenz in der Stadt Seelmann im August 1921.


Teilnehmer der parteilosen Bezirkskonferenz in der Stadt Seelmann im August 1921.


Zu dieser Zeit schwebte die Sowjetmacht nicht nur in den deutschen Kolonien, sondern an der mittleren Wolga überhaupt in großer Gefahr. Der Aufstand der Tschechoslowaken, dem sich die Großbauern und natürlich alles weißgardistische Gesindel anschloß, machte große Fortschritte. Wolsk war schon in den Händen der Weißen, so daß sich mit Windeseile ein Knüppelaufstand verbreitete, der auch auf die oberen deutschen Kolonien Übergriff. Zur Liquidation dieses Aufstandes mußte die Katharinenstädter Gruppe eine große Aktivität und Selbstaufopferung beweisen. Die Uralischen Kosaken waren eine drohende Gefahr von der dritten Seite.[1]) Und zu all diesem kam noch hinzu, daß die Bevölkerung die Schnapsbrennerei gelernt hatte und die Not der Stadtbevölkerung zur eigenen Bereicherung ausnutzen wollte, so daß auch die Spekulation blühte. Es waren dieses noch Erbfehler aus der Phrasenzeit, die der Verpflegungspolitik der Regierung hindernd im Wege stand. Alle diese Hindernisse und Widerwärtigkeiten mußten beseitigt und überwunden werden.

Gleichzeitig mit der Organisation des deutschen Kommissariats wurden einige Genossen zur Festigung der Parteiarbeit nach Saratow geschickt. Bald darauf vereinigte sich der Sozialistenbund mit der Saratower deutschen Kommunistengruppe, indem er das Programm der Kommunistischen Partei annahm, so daß sich außer der Katharinenstädter eine zweite starke Parteigruppe bildete, die dann auch die zeitweilige Zentralleitung übernahm. Unter Beihilfe dieser Gruppe wurden noch einige andere Gruppen in großen Zentren des Gebiets, wie in Balzer, Seelmann, Frank, Warenburg und anderen gebildet. Wenn die Katharinenstädter Gruppe schon im Frühjahr und Sommer 1918 ihre Feuertaufe im Kampfe mit den Tschechoslowaken und den ausständischen Großbauern erhalten hatte, so sollten auch die anderen Organisationen eine solche Feuerprobe gleich im Anfang ihrer Existenz bestehen. Die Balzerer Organisation war schon 1918 im Herbst einem sehr starken Gegner gegenübergetreten: nämlich den Banden Krasnows. In Warenburg nutzte das stark vertretene Protzentum den Widerwillen der Bauern gegen die Verpflegungsarbeit des 1. Vollzugskomitees aus, die wegen des Hungers in den Großstädten, wegen der Getreidespekulation und der Schnapsbrennerei in den Dörfern, sehr energisch, ja rücksichtslos durchgeführt werden mußte, und organisierte einen Aufstand gegen die Regierung. An der Unterdrückung dieses Aufstandes, der mit der Hinrichtung einiger Anführer und mit der Erhebung einer großen Kontribution von dem Protzentum endigte, nahmen hauptsächlich die Ortsgruppen von Saratow, Balzer und Seelmann teil.

Teilnehmer der parteilosen Bezirkskonferenz in der Stadt Seelmann im August 1921.


In der ersten Zeit der Existenz der Rätemacht im Gebiet konnte der eigentlichen Parteiarbeit nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden, da alle Energie der noch geringen Parteikräfte von den riesigen Aufgaben, die vor der Sowjetmacht im allgemeinen standen, voll und ganz in Anspruch genommenen wurden. In manchen Fällen, hauptsächlich in der ersten Zeit, kann die praktische Sowjetarbeit als Parteiarbeit angesehen werden. So beseitigte z. B. die befriedigende Lösung einer der wichtigsten Fragen — der nationalen Frage — das während der Kriegs- und Revolutionszeit sich vertiefende gegenseitige Mißtrauen beinahe vollständig.

Deshalb war der Andrang in die Partei, ungeachtet der schwachen Parteiarbeit, sehr groß. Notwendigerweise mußte aber unter solchen Umständen in einem Gebiete mit einem ausgeprägten landwirtschaftlichen Charakter ohne Proletariat der Parteinachwuchs nur sehr verschwommene Vorstellungen über die wirklichen Ziele der Partei haben. Dazu kommt noch, daß bis zur 1. Konferenz alle Ortsgruppen fast gänzlich sich selbst überlassen warm. Ebenso stand es auch mit allen Gruppen des Gebiets (eine Gebietsorganisation gab es damals noch nicht); sie hatten keinen organisatorischen Anschluß an das Z. K. der Partei, so daß sie sich auch ohne jegliche organisatorische und ideelle Einwirkung von dessen Seite weiterentwickeln mußten.

Das wurde erst nach der 1. Gebietskonferenz der Partei anders, die im Januar 1919 tagte und aus der die Organisationsfragen dahin geregelt wurden, daß sich alle bisher existierenden Ortsgruppen zu einer Gebietsorganisation mit zentralisierter Parteileitung zusammenschlossen. Eine sehr wichtige Frage war die Taktik der Partei in den Kolonien. Viele Parteimitglieder glaubten, die äußeren Kampfesformen in einer wildbewegten Epoche des bis auf die Spitze getriebenen Klassenkampfes erschöpfen das ganze innere Wesen der Partei. Schon in der (ersten) Saratower Gruppe wurde noch vor der 1. Konferenz die Frage der Umregistrierung aufgeworfen, die dann auch nach der Konferenz faktisch durchgeführt wurde. Jedoch die Frage bezüglich der Taktik der Partei in den Kolonien, wie auch die formell durchgeführte Umregistrierung konnten keine Klarheit in dieser wichtigen Frage schaffen. Die praktische Sowjetarbeit blieb auch nach der Konferenz Hauptaufgabe der Parteiorganisation.

Der immer wütender um sich greifende Bürgerkrieg verlangte immer größere Opfer von proletarischer Seite. Auch das Wolgagebiet und seine Parteiorganisation nahmen großen Anteil an dem erbitterten Kampf. Schon vor der 1. Parteikonferenz wurde das 1. Katharinenstädter Kommunistische Freiwilligenregiment, sowie auch das Balzerer Freiwilligenregiment formiert und an die Ukrainische Front geführt.

In beiden Regimentern standen an leitenden politischen und Kommandostellen Mitglieder der Gebietsorganisation der R. K. P. Außerdem wurden verschiedene andere Parteimobilisationen durchgeführt. Die äußerste Anstrengung mußte in dieser Beziehung angewendet werden, als Denikin selbst im Gebiet einbrach. Der südliche Teil des Balzerer Bezirks war gänzlich in den Händen der Weißen, während auch im Seelmänner Bezirk die Arbeit lahmgelegt war. Als sich jedoch im Herbste des Jahres 1919 die 2. Parteikonferenz in Katharinenstadt, das mittlerweile in Marxstadt umbenannt war, versammelte, konnte die erfreuliche Tatsache konstatiert werden, daß Denikin nunmehr aus dem Gebiete vertrieben sei und bei Kamyschin und Zarizyn von der Roten Armee verfolgt werde.

Auf dieser Konferenz stand die Frage der Taktik wieder als eine der wichtigsten. Es kam zu einigen Meinungsverschiedenheiten, die sich allmählich Verlusten, jedoch auf der Konferenz noch ganz formlos zu Tage traten. Eine weitere wichtige Frage war die Organisation eines festen Parteiapparats, der in allen Einzelheiten regelrechte Arbeit leisten könne. Natürlich war die Konstruktion dieses Apparates vom heutigen eine ganz verschiedene; die heutige Struktur des Parteiapparats im Gebiete konnte erst Ende 1920 und anfangs 1921 und auch jetzt nur sehr mangelhaft hergestellt werden. Eine organisierte Hereinziehung von neuen Mitgliedern aus den Reihen der Arbeiter und Bauern war eine weitere wichtige Frage, mit der sich diese Konferenz zu befassen hatte. Zur speziellen Parteiarbeit unter der Bauernschaft wurde eine Abteilung für Arbeit im Dorfe organisiert.

In der Zeit von der 2. bis zur 3. Konferenz spitzten sich die Meinungsverschiedenheiten, die schon auf der 2. Konferenz zu Tage traten, immer mehr zu und gewannen klare Formen.

Auf der 3. Konferenz trat eine starke Opposition gegen das Gebietskomitee auf, die verschiedene Beschuldigungen gegen es vorbrachte. Die Hauptbeschuldigungen die gegen das Gebietskomitee vorgebracht wurden, fußten auf dessen Unfähigkeit, einen wirklich arbeitsfähigen und selbständigen Parteiapparat zu schaffen und wirkliche Parteiarbeit zu leisten, ferner auf dem Abhandensein einer klaren Linie in den taktischen Fragen während der ganzen Tätigkeit des Gebietskomitees, so wie auch auf dem unzulässigen Betragen einzelner Mitglieder des Komitees. Das Resultat dieses Ansturmes der Opposition war ein fast gänzlich erneuter Bestand des Gebietskomitees, in das aus dem alten Bestand nur einige Genossen ausgenommen wurden. Da sich aber während dieser Zeit klargeformte Gruppierungen gebildet hatten, die von der leitenden Gruppe des Gebietskomitees nicht vereinigt werden konnten, da sie selbst an leitender Stelle einer Gruppe stand, so mußte ein Bruch erfolgen, der dann auch mit der Verhaftung einer Gruppe aktiver Arbeiter einsetzte. Schon nach der Konferenz waren in den Sitzungen des Gebietsvollzugskomitees Meinungsverschiedenheiten in der Durchführung der Verpflegungsfrage vorgekommen, wobei hauptsächlich die planlose Arbeit des Verpflegungskommissariats und die Rohheiten der Verpflegungsarbeiter an Ort und Stelle kritisiert wurden. In dieser Frage spiegelten sich jedoch obengenannte Gruppierungen in keiner Weise wider.

Unter diesen Umständen mußten zur Rechtfertigung des Arrests starkwirkende Gründe vorgebracht werden. Da nun die ganze Streitfrage noch mit der Verpflegungsfrage verbunden war, so lag die Versuchung nahe, die Beschuldigung auf Verpflegungsverrat aufzustellen. Es war dies ein sehr unglücklich gewähltes Motiv, das nun zu größeren Versprechungen in der Verpflegungsfrage hinreißen mußte, als nach der ökonom. Lage des Gebiets garantiert werden konnte. Andererseits wurde durch diese Haftmotivierung bei der Bevölkerung Stimmung für die Verhafteten gemacht, was bei der wirklichen Zerfahrenheit der Verpflegungsarbeit das Gebietskomitee in ein schiefes Licht stellte. Daß ZK, das nach Versicherung von Ort und Stelle und nach einer sehr oberflächlichen Untersuchung große Hoffnungen auf die Verpflegungsressourcen des Gebiets setzte, formulierte die Beschuldigung der verhafteten Genossen nur etwas leichter und versetzte sie in andere Organisationen. Dadurch konnte sich die Sache nur noch verschlimmern.

Der fortwährende offene Kampf innerhalb der Parteiorganisation, das mißtrauische Verhalten der Bevölkerung den leitenden Instanzen gegenüber, wie auch die unerfüllten Versprechungen machten endlich die Lage auch dieser Gruppe der aktiven Arbeiter des Gebiets gänzlich unhaltbar. Deshalb wurden auch sie aus dem Gebiet überführt, und es kam eine Gruppe Genossen, die weder die Verhältnisse an Ort und Stelle, noch die Sprache der Bevölkerung kannten. Da diese Arbeiter eine ebensolche falsche Vorstellung von den Verpflegungsressourcen des Gebiets hatten als auch das Zentrum, so wurden Verpflegungstruppen ins Gebiet eingeführt, die ebenfalls die Vorräte des Gebiets nach den großen Wirtschaftsgebäuden der Kolonisten berechneten und die Mißernte des Jahres 1920 nicht in Rücksicht nahmen. Grobe Behandlungen füllten das Maß der Erbitterung bis zum Rand.

Alle diese Fragen erschöpften die Tätigkeit der 4. und 5. Konferenz der Partei. Und bei all den drohenden Anzeichen stellte die 6. Gebietskonferenz als Hauptfrage die Frage bezüglich der professionellen Verbände auf, die mit der Lage im Gebiet entschieden keinen Zusammenhang hatte. Der Versuch einiger örtlicher Parteiarbeiter, die Lösung der Frage bezüglich der Hebung der Landwirtschaft als Hauptaufgabe dieser Konferenz hervorzuheben, harte keinen Erfolg. Auch war es schon verspätet; denn die Frühjahrssaat stand vor der Tür, und Saatgetreide war weder bei den Bauern, noch in den Lagern des Verpflegungskommissariats vorhanden.

Unter diesen Umständen rückte das Frühjahr 1921 mit seinen Banditenaufständen heran. Die ersten Vorboten kamen von außen. Schon vor der Konferenz war der Bandit Wakulin durchs Gebiet gezogen, wobei ihm ein Truppenteil von dem treulosen Führer in die Arme geführt wurde, bei dem sich einige junge begabte Arbeiter (Bartel) befanden, die hur ihren Heldentod fanden. Obgleich sich die Bevölkerung in der Hoffnung auf Frühjahrssaat von der Bande vorderhand noch fern hielt, so stieg die Spannung doch bis aufs äußerste.

Endlich brach der Sturm der Konterrevolution im März 1921 mit elementarer Gewalt los. An erster Stelle sielen die kommunistischen Dorfzellen den aufständischen Ungeheuern zum Opfer. Seelmann wurde von dem Banditen Pjatakow eingenommen, wobei die Parteiorganisation buchstäblich ausgeschlachtet wurde. Ein entschiedener Feldzug der Marxstädter Organisation durch den Marxstädter Bezirk machte dem Treiben endlich ein Ende. Ebenso wurde auch Seelmann durch reguläre Truppenteile befreit.

Nach all diesen Vorgängen stand vor dem ZK. wieder die Frage: Wie kann die Wirtschaft des Gebiets gerettet und gehoben werden? Diesmal wurde eine Detailuntersuchung des Gebiets in allen seinen Teilen vorgenommen, worauf beschlossen wurde, die zuerst überführte Gruppe wieder ins Gebiet einzuführen. Da sich im Gebiet schon hin und wieder der Hunger zeigte, so wurden dem Gebiet 30tausend Pud Verpflegungsgetreide überwiesen.

Im Juli 1921 tagte nun eine neue Parteikonferenz, die 7., die die traurige Aufgabe hatte, die übriggebliebenen Parteigenossen zu sammeln und wieder eine Organisation zu schaffen, die den kommenden Ereignissen gewachsen wäre. Zweifelsohne mußte sie geschaffen werden; denn schon auf der Konferenz stellte sich die ganze Trostlosigkeit der Lage heraus: das Gebiet hatte noch keine solche Mißernte überlebt als die des Jahres 1921. Auf der Konferenz wurde der Kampfesplan mit diesem neuen gefährlichen Feind ausgearbeitet. Die Arbeit, die unter den denkbar schwierigsten Verhältnissen glänzend durchgeführt wurde, leider auch manchen Genossen dahinraffte, zeigte, daß noch ungeheure Kräfte in dieser Organisation vorhanden waren, die vorher nicht zu ihrer vollen Entfaltung kommen konnten. Diese uneigennützige Rieserarbeit söhnte die Bevölkerung wieder vollständig mit ihrer Parteiorganisation aus.

Mitglieder der 10. Gebietsparteikonferenz.


Unter dem Zeichen dieser Arbeit, die nunmehr schon an allen Fronten zum Wirtschaftsaufbau übergeht, verlief die 8. Parteikonferenz, die eine ungeheure Bedeutung für die Weiterentwicklung des Gebiets hatte. Unmittelbar vor der Konferenz wurde endlich eine wirkliche Reinigung der Reihen der Gebietsorganisation vorgenommen. Auf der Konferenz wurde auch die Praktische Verwirklichung der von der 2. Konferenz geplanten Rayonisierung des Gebiets beschlossen, was die wohltätigste Wirkung auf das Gebiet hatte, da es die Bevölkerung den Verwaltungsorganen und der Partei näher brachte. Eine andere wichtige Frage war die Abrundung des Gebiets, die für dessen Weiterentwicklung unbedingt nötig war, da die Lage des Gebiets nach dem Hunger und während des Wirtschaftsaufbaues eine derartige ist, daß nicht nur die nationalen Momente, sondern auch die ökonomischen in Betracht gezogen werden müssen. Von der 9. Konferenz, die schon in den neuen Grenzen des Gebiets abgehalten wurde, geht die Aufbauungsarbeit ungehindert vorwärts. Eine wichtige Arbeit wurde nun in Angriff genommen: nämlich die Aufklärung der Parteimitglieder- denn die Arbeit erfordert neue von einer einheitlichen Weltanschauung durchdrungene Arbeiter, die sich in allen möglichen Lebenslagen durch die marxistische Denkweise und Analyse der Verhältnisse selbstständig zurechtfinden können.

So nimmt unsere heutige Gebietsorganisation, die durch ihre eigenen Fehler große Erfahrungen gesammelt hat, am Staatsleben des Bundes der Soz. Sow.-Republiken teil, indem sie die Geschicke eines sehr wichtigen Teils davon leitet.

Karte des Gebietes der Wolgadeutschen in seiner jetzigen Gestalt.


[1] Außerdem bestand noch ein gewisser Verdacht nicht nur in den leitenden Parteikreisen der Stadt Saratow, sondern auch in den eigenen Reihen des Kommissariats, ob nicht auch wieder eine vermummte nationalistische Organisation bestehe.


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 555-563.