Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Resolution des XII. Kongresses der RKP(B) bezüglich der nationalen Frage
(Резолюция XII съезда РКП(б) по национальному вопросу)

1. Die Entwicklung des Kapitalismus verriet schon im vorigen Jahrhundert die Tendenz zur Internationalisation der Produktions- und Austauschmittel, zur Beseitigung der nationalen Abgeschlossenheit, zur wirtschaftlichen Annäherung der Völker und allmählichen Vereinigung ungeheurer Territorien zu einem geschlossenen Ganzen. Die fernere Entwicklung des Kapitalismus, die Entwicklung des Weltmarktes, die Eröffnung der großen Seewege und Eisenbahnen, die Ausfuhr des Kapitals u. a. verstärkten diese Tendenz noch mehr, indem sie die verschiedensten Völker mit den Banden der internationalen Arbeitsteilung und der allseitigen Abhängigkeit von einander verknüpften. Insofern dieser Prozeß die kolossale Entwicklung der Produktionskräfte widerspiegelte, insofern er die Beseitigung der nationalen Abgeschlossenheit und des Gegensatzes der Interessen verschiedener Völker erleichterte, war und bleibt er ein progressiver Prozeß, denn er zeitigt die materiellen Vorbedingungen der künftigen sozialistischen Weltwirtschaft.

Karl Radek,
Mitglied des Präsidiums der 3. Internationale.


2. Diese Tendenz entwickelte sich jedoch in eigenartigen, ihrem inneren historischen Sinn durchaus nicht entsprechenden Formen. Die gegenseitige Abhängigkeit der Völker und die wirtschaftliche Vereinigung der Territorien wurde bei dem Werdegang des Kapitalismus nicht auf dem Wege des Zusammenarbeitens der Völker als gleichberechtigter Einheiten ins Werk gesetzt, sondern ans dem Wege der Unterwerfung der einen Völker durch die anderen, auf dem Wege der Unterdrückung und Exploitation minder entwickelter Völker. Die kolonialen Raubzüge und Annexionen, die nationale Unterdrückung und Ungleichheit, die imperialistische Willkür und Vergewaltigung, die koloniale Sklaverei und nationale Rechtlosigkeit, endlich der Kampf der „zivilisierten“ Völker unter einander um die Herrschaft über die „unzivilisierten“ Völker — das sind die Formen, in deren Rahmen der Prozeß der wirtschaftlichen Annäherung der Völker vor sich ging. Deswegen entstand neben der Tendenz der Vereinigung die Tendenz zur Vernichtung der Vergewaltigungsformen dieser Vereinigung, der Kampf um die Befreiung der unterdrückten Kolonien und der in imperialistischer Knechtschaft schmachtenden Nationalitäten. Insofern diese zweite Tendenz die Empörung der unterdrückten Massen gegen die imperialistischen Formen der Vereinigung ausdrückt, insofern sie die Vereinigung der Völker nach den Prinzipien des Zusammenarbeitens und des freiwilligen Zusammenschlusses forderte, war und bleibt sie eine progressive Tendenz, denn sie zeitigt die geistigen Vorbedingungen der künftigen sozialistischen Weltwirtschaft.

3. Der Kampf dieser beiden Haupttendenzen, ausgedrückt in Formen, die dem Kapitalismus eigen sind, füllt die Geschichte der bourgeoisen Staaten, die viele Nationen umfassen, in den letzten fünfzig Jahren voll und ganz aus. Der unversöhnliche Widerspruch zwischen diesen Tendenzen in den Rahmen der kapitalistischen Entwicklung wurde zur Grundlage der inneren Unhaltbarkeit und organischen Widerstandslosigkeit der bourgeoisen kolonialen Staaten. Die unvermeidlichen Konflikte innerhalb solcher Staaten und die unvermeidlichen Kriege zwischen solchen Staaten, der Zerfall der alten kolonialen Staaten und die Bildung von neuen, eine neue Jagd nach Kolonien und ein neuer Zerfall der Staaten mit vielen Nationen, der zu einer neuen Umgestaltung der Politischen Karte der Welt führte — das sind die Resultate dieses hauptsächlichsten Widerspruches. Der Zerfall des alten Rußlands, Österreich-Ungarns und der Türkei einerseits, die Geschichte solcher kolonialen Staaten, wie Großbritannien und Altdeutschland andererseits, endlich der „große“ imperialistische Krieg und das Anwachsen der revolutionären Bewegung der kolonialen und rechtlich verkürzten Völker — alle diese und ähnliche Tatsachen zeigen augenscheinlich die Unhaltbarkeit und den Unbestand der bourgeoisen Staaten mit vielen Nationen.

Auf diese Weise hat der unversöhnliche Widerspruch zwischen dem Prozeß der wirtschaftlichen Vereinigung der Völker und den imperialistischen Mitteln zu dieser Vereinigung die Unfähigkeit, die Hilflosigkeit und die Ohnmacht der Bourgeoisie, den richtigen Weg zur Lösung der nationalen Frage zu finden, klar bewiesen.

4. Unsere Partei hat diese Umstände berücksichtigt, indem sie zur Grundlage ihrer Politik in Bezug auf die nationale Frage das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung, das Recht der Völker auf selbständige Staatsexistenz nahm. Schon in den ersten Tagen ihrer Existenz, auf ihrem ersten Kongreß (im Jahre 1898), als die Widersprüche des Kapitalismus in Bezug auf die nationale Frage noch nicht mit erschöpfender Klarheit zu Tage getreten waren, erkannte die Partei den Nationalitäten dieses unverbrüchliche Recht zu. Im weiteren bestätigte sie unentwegt ihr nationales Programm in speziellen Bestimmungen und Beschlüssen auf ihren Kongressen und Konferenzen bis zur Oktoberrevolution. Der imperialistische Krieg und die mit ihm verbundene gewaltige revolutionäre Bewegung in den Kolonien brachten eine neue Bestätigung der Beschlüsse der Partei in Bezug auf die nationale Frage. Der Sinn dieser Beschlüsse besteht: a) in der entschiedenen Absage von allen und jeglichen Formen des Zwanges in Bezug auf die Nationalitäten, b) in der Anerkennung der Gleichheit und Souveränität der Völker in der Gestattung ihres Schicksals, c) in der Anerkennung des Grundsatzes, daß eine feste Vereinigung der Völker nur nach den Prinzipien des Zusammenarbeitens und der Freiwilligkeit durchgeführt werden kann, d) in der Deklaration der Wahrheit, daß die Verwirklichung einer solchen Bereinigung nur nach dem Sturz der Macht des Kapitals möglich ist.

Unsere Partei hörte nicht auf, dieses befreiende nationale Programm bei ihrer Arbeit sowohl der offenbar knechtenden Politik des Zarismus, als auch der rückständigen, halbimperialistischen Politik der Menschewiken und Sozialrevolutionäre gegenüberzustellen. Wenn die russifizierende Politik des Zarismus einen Abgrund zwischen dem Zarismus und den Nationalitäten des alten Rußlands schuf und die halbimperialistische Politik der Menschewiken und Sozialrevolutionäre zur Loslösung der besten Elemente dieser Nationalitäten von dem Kerensky-Regime führte, so erwarb die befreiende Politik unserer Partei ihr die Sympathie und Unterstützung der breiten Massen dieser Nationalitäten in ihrem Kampf gegen den Zarismus und die imperialistische russische Bourgeoisie. Es ist kaum zweifelhaft, daß diese Sympathie und diese Unterstützung einen der entscheidendsten Momente bildeten, die den Sieg unserer Partei in den Oktobertagen bestimmten.

5. Die Oktoberrevolution brachte das praktische Endresultat der Beschlüsse der Partei in Bezug auf die nationale Frage. Nachdem sie die Macht der Gutsbesitzer und Kapitalisten, der Hauptträger der nationalen Unterdrückung, gestürzt und die Macht dem Proletariat übergeben hatte, zersprengte sie mit einem Schlag die Ketten der nationalen Unterdrückung, veränderte sie von Grund aus die alten Beziehungen zwischen den Völkern, untergrub sie den alten Nationalhaß, vereinigte sie den Boden für das Zusammenarbeiten der Völker und erkämpfte dem russischen Proletariat das Zutrauen seiner andersnationalen Brüder nicht nur in Rußland, sondern auch in dem übrigen Europa und Asien. Es braucht kaum bewiesen zu werden, daß ohne ein solches Zutrauen das russische Proletariat einen Koltschak, Denikin, Judenitsch und Wrangel nicht hätte besiegen können. Andererseits ist es unzweifelhaft, daß die unterdrückten Nationalitäten ihre Befreiung ohne die Aufrichtung der Diktatur des Proletariats im Zentrum von Rußland nicht hätten erringen können. Der Nationalhaß und die nationalen Zusammenstöße sind unvermeidlich, unabwendbar, so lange das Kapital die Macht besitzt, so lange die Kleinbourgeoisie und vor allein die Bauernschaft der früheren „Staatsnation“ noch voll nationalistischer Vorurteile sind und den Kapitalisten nachfolgen; und umgekehrt, der nationale Frieden und die nationale Freiheit können als gesichert betrachtet werden, wenn die Bauernschaft und die kleinbourgeoisen Schichten dem Proletariat folgen, d. h. wenn die Diktatur des Proletariats gesichert ist. Deswegen ist der Sieg der Sowete und die Befestigung der Diktatur des Proletariats die Basis, das Fundament, auf dem das brüderliche Zusammenarbeiten der Völker meinem einigen Staatsverband gegründet werden kann.

Volkskommissar für nationale Angelegenheiten
J. W. Dschugaschwili-Stalin.


6. Die Resultate der Oktoberrevolution werden jedoch nicht allein durch die Beseitigung der nationalen Unterdrückung und durch die Schaffung einer Grundlage für die Vereinigung der Völker erschöpft. Auf' dem Wege ihrer Entwicklung schuf die Oktoberrevolution auch die Formen dieser Vereinigung, zeichnete sie die Hauptlinien vor, nach denen die Vereinigung der Völker zu einem verbündeten Staat gestaltet werden soll. In der ersten Periode der Revolution, als die werktätigen Massen der Nationalitäten sich zum ersten Mal als selbständige nationale Einheiten fühlten, während die Bedrohung durch eine ausländische Intervention noch keine reale Gefahr darstellte, hatte das Zusammenarbeiten der Völker noch keine ganz bestimmten, streng ausgeprägten Formen. In der Periode des Bürgerkriegs und der Intervention, als die Interessen des Kriegsselbstschutzes der nationalen Republiken in den Vordergrund traten, während die Fragen d.es wirtschaftlichen Aufbaues noch nicht an der Reihe waren, — nahm das Zusammenarbeiten die Form eines Kriegsverbandes an. In der auf den Krieg folgenden Periode, als die Fragen der Wiederherstellung der durch den Krieg zerrütteten produktiven Kräfte an die erste Stelle traten, wurde endlich der Kriegsverband durch den wirtschaftlichen Verband ergänzt. Die Vereinigung der nationalen Republiken in einen Verband der Sowjetrepubliken erscheint als letzte Etappe der Entwicklung der Formen des Zusammenarbeitens, indem er nunmehr den Charakter einer Kriegswirtschaftlichen und politischen Vereinigung der Völker zu einem einigen vielnationalen Sowjetstaat annahm.

Aus diese Weise fand das Proletariat in der Sowjetverfassung den Schlüssel zur richtigen Lösung der nationalen Frage, erschloß es darin den Weg zur Organisation eines widerstandsfähigen vielnationalen Staates nach den Prinzipien der nationalen Gleichberechtigung und Freiwilligkeit.

7. Den Schlüssel zur richtigen Lösung der nationalen Frage zu finden, heißt jedoch noch nicht, sie vollständig zu entscheiden und sie endgültig in ihrer konkret-praktischen Verwirklichung zu erschöpfen. Zur richtigen Durchführung des nationalen Programms, das von der Oktober-revolution ausgestellt wurde, ist es noch notwendig, jene Hindernisse zu überwinden, die uns von der verflossenen Periode der nationalen Unterdrückung als Erbe übergeben wurden und die nicht in kurzer Zeit und mit einem Schlag überwältigt werden können.

Dieses Erbe besteht erstens in den Überbleibseln des großherrlichen Chauvinismus, der als das Spiegelbild der früheren privilegierten Stellung der Großrussen erscheint. Diese Überbleibsel leben noch in den Köpfen unserer zentralen und örtlichen Sowjetarbeiter, sie nisten noch in unseren zentralen und örtlichen Sowjetanstalten, sie erhalten Verstärkung in der Form von „neuen“ farbenwechselnden großrussisch-chauvinistischen Strömungen, die sich im Zusammenhang mit der n. ö. P. immer mehr verstärken. Praktisch wirken sie sich aus in einem aufgeblasen-wegwerfenden und ungemütlich-bürokratischen Verhalten der russischen Sowjetbeamten zu den Nöten und Bedürfnissen der nationalen Republiken. Der vielnationale Sowjetstaat kann erst dann wirklich erstarken, und das Zusammenarbeiten der Völker in ihm kann erst dann zu einem wirklich brüderlichen werden, wenn diese Überbleibsel in der Praxis unserer Staatsanstalten entschieden und unwiederbringlich ausgemerzt werden. Die Lage in einer Reihe von Republiken (Ukraine, Weißrußland, Aserbeidshan, Turkestan) wird dadurch kompliziert, daß ein bedeutender Teil der Arbeiterklasse, die als die Hauptstütze der Sowjetmacht erscheint, zu der großrussischen Nationalität gehört. In diesen Rayons stößt der Zusammenschluß zwischen Stadt und Dorf, zwischen der Arbeiterklasse und der Bauernschaft auf das stärkste Hindernis in Form von Überbleibseln des großrussischen Chauvinismus sowohl in den Partei-, als auch in den Sowjetorganen. Unter diesen Bedingungen sind die Reden von den Vorzügen der russischen Kultur und das Hervorheben des Grundsatzes von der Unvermeidlichkeit des Sieges der höher stehenden russischen Kultur über die Kulturen mehr rückständiger Völker (des ukrainischen, aserbeidshanschen, usbekschen, kirgisischen u. a.) nichts anderes als der Versuch, die Herrschaft der großrussischen Nationalität zu befestigen. Deshalb erscheint ein entschiedener Kampf mit den Überbleibseln des großrussischen Chauvinismus als die allernächste Aufgabe unserer Partei.

Dieses Erbe besteht zweitens in der faktischen, d. h. wirtschaftlichen und kulturellen Ungleichheit der Nationalitäten des Verbandes der Republiken. Die rechtliche nationale Gleichheit, von der Oktoberrevolution gewonnen, erscheint als eine große Errungenschaft der Völker, aber sie löst an und für sich noch nicht die ganze nationale Frage. Eine Reihe von Republiken und Völkern, die den Kapitalismus noch nicht oder fast noch nicht durchlebt haben, die fast gar kein eigenes Proletariat besitzen, die infolgedessen in wirtschaftlicher und kultureller Beziehung zurückgeblieben sind, sind nicht imstande, die Rechte und Möglichkeiten vollständig auszunützen, die ihnen durch die nationale Gleichberechtigung anheimgestellt wurden, sie sind nicht imstande, sich aus eine höhere Entwicklungsstufe zu erheben und auf solche Weise die vorangeschrittenen Nationalitäten ohne wirkliche und andauernde Hilfe von außen einzuholen. Die Ursachen dieser faktischen Ungleichheit wurzeln nicht nur in der Geschichte dieser Völker, sondern auch in der Politik des Zarismus und der russischen Bourgeoisie, die danach strebten, die Grenzgebiete in ausschließliche Rohstoffrayons zu verwandeln, um sie von den industriell entwickelten zentralen Rayons exploitieren zu lassen. Diese Ungleichheit in kurzer Frist zu überwältigen, dieses Erbe in einem — zwei Jahren zu liquidieren, ist unmöglich. Schon der X. Kongreß unserer Partei hat vermerkt, daß „die Beseitigung der faktischen nationalen Ungleichheit ein andauernder Prozeß ist, der einen hartnäckigen und nachdrücklichen Kampf mit allen Überbleibseln der nationalen Unterdrückung und kolonialen Knechtschaft erfordert“. Aber sie zu überwältigen, ist unbedingt notwendig. Und überwältigt kann sie nur werden, wenn das russische Proletariat den rück-ständigen Völkern des Verbands in Sachen ihres wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritts wirkliche und andauernde Hilfe erweist. Diese Hilfe muß an erster Stelle in der Weise zum Ausdruck kommen, daß eine Reihe praktischer Maßnahmen getroffen werden, um in den Republiken der früher unterdrückten Nationalitäten Industrieherde mit maximaler Heranziehung der örtlichen Bevölkerung zu bilden. Endlich muß diese Hilfe laut der Resolutionen des X. Kongresses parallel gehen mit dem Kampf der Werktätigen Massen gegen die im Zusammenhang mit der n. ö. P. sich verstärkenden örtlichen und eingewanderten ausbeutenden Spitzen um die Befestigung der sozialen Positionen. Insofern diese Republiken vorzugsweise als landwirtschaftliche Rayons erscheinen, müssen die inneren sozialen Maßnahmen vor allem dadurch Anwendung finden, daß die werktätigen Massen auf Kosten des freien Staatsfonds mit Land bedacht werden. Ohne diese Maßnahmen kann man nicht auf die Anbahnung eines richtigen und dauerhaften Zusammenarbeitens der Völker in dem Nahmen des einheitlichen Bundesstaates rechnen. Deswegen ist der Kampf um die Liquidierung der faktischen Ungleichheit der Nationalitäten, der Kampf um die Hebung des kulturellen und wirtschaftlichen Niveaus der rück-ständigen Völker die zweite der gegenwärtig bevorstehenden Aufgaben unserer Partei.

Gustav Klinger,
Stellvertreter des Kommissars für nationale Angelegenheiten.


Dieses Erbe besteht endlich in den Überbleibseln des Nationalismus in der Mitte einer ganzen Reihe von Völkern, die das schwer? Joch der nationalen Unterdrückung getragen haben und sich noch nicht von dem Gefühl der alten Beleidigung ihrer Nation befreien konnten. Als praktischer Ausdruck dieser Überbleibsel erscheint eine gewisse nationale Abgeschlossenheit und der Mangel eines vollen Zutrauens bei den früher unterdrückten Völkern zu den Maßnahmen, die von Russen ausgehen. Allein in einigen Republiken, die in ihrem Bestand einige Nationalitäten haben, geht dieser sich verteidigende Nationalismus nicht selten in einen angreifenden Nationalismus über, in einen verbissenen Chauvinismus der stärkeren Nationalität, der gegen die schwachen Nationalitäten dieser Republiken gerichtet ist. Der Chauvinismus der Grusier (in Grusien), der gegen die Armenier, Osetiner, Adsharer und Abchaser gerichtet ist; der Chauvinismus der Usbeker (in Buchara u. Choresma), der gegen die Turkmenen und Kirgisen gerichtet ist; der Chauvinismus der Armenier usw. — alle diese Arten von Chauvinismus, die noch durch die Bedingungen der n. ö. P. und Konkurrenz geschürt werden, sind ein sehr großes Übel, das einige nationale Republiken in eine Arena des Zankes und Streits zu verwandeln droht. Es brauchte eigentlich nicht erwähnt zu werden, daß alle diese Erscheinungen die faktische Vereinigung der Völker meinen einheitlichen Staatsbund hemmen. Insofern die Überbleibsel des Nationalismus als eigenartige .Formen der Verteidigung gegen großrussischen Chauvinismus erscheinen, bildet ein entschiedener Kampf mit dem großrussischen Chauvinismus das sicherste Mittel zur Überwältigung der nationalistischen Überbleibsel. Insofern jedoch diese Überbleibsel in einen örtlichen Chauvinismus übergehen, der gegen die schwachen nationalen Gruppen in einzelnen Republiken gerichtet ist, erscheint der direkte Kampf mit ihnen als eine Pflicht der Parteimitglieder. Deswegen ist der Kampf mit den nationalistischen Überbleibseln und vor allem mit den chauvinistischen Formen dieser Überbleibsel die dritte der gegenwärtig bevorstehenden Aufgaben unserer Partei.

8. Als einer der krassesten Auswüchse des alten Erbteils muß die Tatsache erachtet werden, daß der Bund der Republiken von einem bedeutenden Teil der Sowjetbeamten im Zentrum und an Ort und Stelle nicht als ein Bund von gleichen staatlichen Einheiten, der die freie Entwicklung der nationalen Republiken zu garantieren berufen ist, betrachtet wird, sondern als ein Schritt zur Liquidation dieser Republiken, als der Anfang der Bildung eines sogenannten „unzertrennlichen Ganzen“.

Als ein ebensolches Resultat des alten Erbteils muß das Streben einiger Ressorts der RSFSR angesehen werden, sich die selbständigen Kommissariate der autonomen Republiken unterzuordnen und den Weg zu deren Liquidation anzubahnen.

Eine solche Anschauung als eine antiproletarische und reaktionäre verurteilend und die absolute Notwendigkeit der Existenz und ferneren Entwicklung der nationalen Republiken Proklamierend, fordert der Kongreß die Parteimitglieder auf, aufmerksam darauf zu achten, daß die Vereinigung der Republiken und die Verschmelzung der Kommissariate von den chauvinistisch gesinnten Sowjetbeamten nicht ausgenützt werde als ein Deckmantel für ihre Versuche, die wirtschaftlichen und kulturellen Nöte der nationalen Republiken zu ignorieren. Die Verschmelzung der Kommissariate ist ein Examen des Sowjetapparats: wenn dieser Versuch in der Praxis eine großherrliche Richtung erhielte, so wäre die Partei genötigt, gegen ein solches Zerrbild die entschiedensten Maßnahmen zu treffen, und zwar bis zur Aufstellung der Frage der nochmaligen Durchsicht der Verschmelzung einiger Kommissariate auf die Dauer der gehörigen Umbildung des Sowjetapparats im Geiste des wirklichen Proletarischen und wirklichen brüderlichen Aufmerkens auf die Nöte und Bedürfnisse der kleinen und rückständigen Nationalitäten.

9. Der Bund der Republiken, der nach den Prinzipien der Gleichheit und Freiwilligkeit der Arbeiter und Bauern einzelner Republiken geschaffen ist, erscheint als der erste Versuch des Proletariats zur Regulierung der internationalen Wechselbeziehungen unabhängiger Länder und als der erste Schritt zur Bildung der Sowjets-Weltrepublik der Arbeit. Insofern der Bund, der Republiken als neue Form des Zusammenlebens der Völker erscheint, als neue Form ihres Zusammenarbeitens in einem Bundesstaat, in dessen Rahmen die oben geschilderten Überbleibsel im Prozeß der gemeinsamen Arbeit der Völker ausgemerzt werden müssen, — müssen tue oberen Organe so aufgebaut sein, daß sie nicht nur die allgemeinen Nöte und Bedürfnisse aller Nationalitäten des Bundes vollständig widerspiegeln, sondern auch die speziellen Nöte und Bedürfnisse der einzelnen Nationalitäten. Deswegen muß nebst den bestehenden Zentralorganen des Bundes als Vertretung der werktätigen Massen des ganzen Bundes unabhängig von der Nationalität — noch ein spezielles Organ der Vertretung der Nationalitäten nach den Prinzipien der Gleichheit geschaffen werden. Eine solche Gestaltung der Zentralorgane des Bundes würde die volle Möglichkeit geben, die Nöte und Bedürfnisse der Völker genau zu erfahre«, ihnen rechtzeitig die nötige Hilfe zu erweisen, eine Umgebung für das vollständige gegenseitige Vertrauen zu schaffen und auf solche Weise möglichst schmerzlos das obenerwähnte Erbe zu liquidieren.

10. Von dem Gesagten ausgehend, empfiehlt der Kongreß den Parteimitgliedern als Praktische Maßnahmen, zu erstreben: daß

a) bei der Gestaltung der Zentralorgane des Bundes die Gleichheit der Rechte und der Pflichten der einzelnen Republiken gesichert werde, sowohl in den gegenseitigen Beziehungen zwischen ihnen als auch in den Beziehungen der zentralen Macht des Bundes;

b) in dem System der obersten Organe des Bundes ein spezielles Organ der Vertretung aller nationalen Republiken und aller nationalen Gebiete ohne Ausnahme gegründet werde nach den Prinzipien der Gleichheit und mit möglicher Berechnung der Vertretung aller Nationalitäten, die in den Bestand dieser Republiken eingehen;

c) die Vollzugsorgane des Bundes nach Prinzipien konstruiert werden, die die reale Teilnahme der Vertreter der Republiken und die Befriedigung der Nöte und Bedürfnisse der Völker des Bundes sichern;

d) den Republiken hinreichend Finanz- und im besonderen Budgetrechte an heim gestellt werden, die ihnen die Möglichkeit sichern, ihre eigenen staatlich administrativen, kulturellen und wirtschaftlichen Initiativen an den Tag zu legen;

e) die Organe der nationalen Republiken und Gebiete vorzugsweise aus örtlichen Personen gebildet werden, die die Sprache, die Lebensweise, die Sitten und Gebräuche der betreffenden Völker kennen;

f) spezielle Gesetze herausgegeben werden zur Sicherung des Gebrauchs der Muttersprache in allen Staatsorganen und in allen Anstalten, die die örtliche andersnationale Bevölkerung und die nationalen Minderheiten bedienen — Gesetze, die mit aller revolutionären Strenge alle diejenigen verfolgen und strafen, die die nationalen Rechte und im besondern die Rechte der rationalen Minderheiten verletzen;

g) die erzieherische Arbeit in der Roten Arm e verstärkt werde im Geiste der Einpflanzung der Ideen der Brüderlichkeit und Solidarität der Völker des Bundes und praktische Maßnahmen getroffen werden zur Organisation von nationalen Truppenteilen mit Beachtung aller Maßnahmen, die zur Sicherung einer vollständigen Verteidigungsmöglichkeit der Republik nötig sind.


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 549-555.