Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1923 № 19-20

Zum erstenmal unser Schicksal in unseren Händen
(Впервые наша судьба в наших руках.)
Von S. Sorge.

Fünf Jahre sind verstrichen, seitdem die Sowjetregierung das Dekret herausgab, durch das sie speziell in Bezug auf die Wolgadeutschen das verwirklichte, was sie im Angesichte aller Welt auf dem 2. Rätekongreß deklarierte, der die kapitalistische Regierung für abgesetzt erklärte und den Kampf der Werktätigen aller Nationalitäten gegen die Unterdrücker aller Länder ansagte, einen Kampf auf Leben und Tod. Dieser Kongreß erklärte als Grundlage der Tätigkeit der neuen Regierung folgendes :

„1. Die Gleichheit und Souveränität der Völker Rußlands,

2. das Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung bis zur Abteilung und Bildung selbständiger Staaten,

3. die Abänderung aller und jeglicher national-religiöser Privilegien und Beschränkungen,

4. die freie Entwicklung der nationalen Minderheiten und ethnographischer Gruppen, die das Territorium Rußlands bewohnen.“

Auf den Schutz und die Unterstützung dieser Regierung konnte freilich nur ein solches Volk rechnen, das selbst, durch die Massen seiner Werktätigen, den Willen zur Ausnützung dieser Freiheiten an den Tag legte. Deswegen fanden auch solche „Wohltäter des Volkes“, die sich aus eigennützigen Bestrebungen erdreisteten, im Namen des von ihnen unterdrückten Volkes als Delegierte der Warenburger Versammlung der „Selbstbestimmer“ im Jahre 1918 aufzutreten, keinen Anklang für ihre Pläne bezüglich der Gründung einer national-bourgeoisen Vereinigung der Wolgadeutschen ohne die Räte. Deswegen wurde auch diese Selbstbestimmung dem Wächter der Interessen der armen Bevölkerung, dem „deutschen Kommissariat“ geschenkt, das sich damals in Saratow befand.

Ein Volk des alten Rußlands nach dem andern beeilte sich, das Joch der nationalen Versklavung und der doppelten (großherrlichen und vaterländischen) Exploitation von sich abzuwerfen. Und erst dann, als die von dem heiligen Zorn der Werktätigen beleidigten und von ihnen verjagten Unterdrücker aller Nationalitäten sich zum Kampf gegen die Sowete vereinigten und einen mörderischen Bürgerkrieg, eine Intervention und Blockade organisierten, als die Schmidts und Borelle an solchen Subjekten, wie Rjabuschinsky und Tereschtschenko Gefallen fanden, als die Rabbiner, Popen und Patres mit einem Pastor Schleuning gemeinsame Sachen machten, — erst dann wurde es Tatsache, daß alle Völker sich erhoben und eine einheitliche Front gegen die Internationale der Bourgeoisie bildeten, indem sie auf eine Zeitlang die Sorgen um eine unverzügliche, vollständige, praktische Verwirklichung der nationalen Freiheiten vergaßen. Der Feind mußte um jeden Preis zurückgeschlagen werden. Es mußte erst die Möglichkeit erkämpft werden, diese Freiheiten, wenn auch sogar durch eine Zwangsbesteuerung, die „Raswjorstka“, durch eine außerordentliche Kommission, die „Tscheka“ und andere Maßnahmen zu verwirklichen, die nunmehr der Geschichte des heldenmütigen Kampfes der Werktätigen angehören.

Und dennoch vergaß die Führerin in diesem Kampfe, die Führerin der geknechteten Völker, die RKP, niemals die Aufgaben der nationalen Politik und erhob und studierte mit aller Fürsorge einer Führerin die Frage ihrer Durchführung. Wir besitzen die Arbeiten des 8. Parteikongresses in dieser Frage, die noch weiter gehenden Beschlüsse des 10. Kongresses und endlich die Resolution des 12. Kongresses, der in diesem Jahre tagte.

Wir bedauern sehr, daß wir wegen Raummangels in dieser Ausgabe des Journals nur einen Teil dieser letzteren Resolution abdrucken können. Jedoch kann auch aus ihr jeder die Überzeugung gewinnen, daß die Sowjetmacht die einzige ist, die allen Ernstes und ein für allemal dazu geschritten ist, die Völker zu befreien und ihnen ihre kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung zu sichern. Und sie, nur sie allein kann das tun.

Arbeiten also wir im Gebiet der Wolgadeutschen ruhig an der Gestaltung unseres Schicksals mit eigenen Kräften unter der erprobten und in Kämpfen getauften Fahne der Sowete! Sehen wir ruhig auf die Verhöhnungen derer, die wir nach Berlin verjagt haben, die dort unter dem Deckmantel der Fürsorge für „ein untergehendes Deutschtum an der Wolga“ ihre Kapitalien in der Wolgabank vergrößern.

Wir Wolgadeutsche fangen an, aufzuatmen und zu erstarken nach den fünf Jahren des Kampfes und des Hungers. Wir werden schließlich noch voll und ganz aufatmen und erstarken Wir haben die Macht über unser Schicksal in unsern Händen, und diese Macht lassen wir nicht fahren. Wir haben zum ersten Mal und doch endgültig eine Heimat bekommen.

Ihnen aber, diesen Versagten, denen auch in Deutschland der Boden unter den Füßen schon zu heiß wird, ihnen sagen wir heute, am fünfjährigen Jubiläum des Sowjetgebiets der Wolgadeutschen, mit den Worten eines von jenen „Seelsorgern“, des Pastors Schleuning:

„Weh dem, der keine Heimat hat!“


Unsere Wirtschaft, 1923, Nr. 19-20, S. 548-549.