Geschichte der Wolgadeutschen
NACHRICHTEN
Organ ZVK der ASSR der Wolgadeutschen und des Gebiets-Komitees der RKP(B)
12. u. 13. April 1924 Nr. 83, 84

Volksbildung.
Die Unterrichtssprache in unseren Schulen.

Von Franz Schiller, stud. phil.

In den „Nachrichten“ Nr. 47 vom 27. Febr. wurde eine Frage aufgeworfen, die für unser Schulwesen in methodischer Hinsicht von der größten Bedeutung ist. Ich glaube, nicht allein an die Balzerer Lehrerschaft, sondern an jeden deutschen Lehrer trat die Frage heran, wie er sich beim Unterrichte dem örtlichen Dialekte gegenüber zu verhalten habe. Diese Frage bildete schon oft den Gegenstand lebhafter Debatten deutscher Lehrerkonferenzen nicht nur der Wolgakolonien, sondern auch in der Ukraine, Kaukasus etc. Und merkwürdig, überall, wie auch diesmal in Balzer, waren 2 Richtungen vertreten: 1. In der Schule ist nur die Literatursprache zulässig, da unser Dialekt ein verrußter Mischmasch ist, und 2. die Literatursprache ist in der Regel zu gebrauchen, doch soll auch der Dialekt als vortreffliches Hilfsmittel die größte Anwendung finden.

In ihren Grundzielen sind sich beide Richtungen einig, d. h. die Schule muß Leute heranbilden, die sich in der Literatursprache zurechtfinden. Dies ist umso wichtiger und einleuchtender, da unsere Anstalten schon auf die deutsche Amtssprache übergegangen sind und wir in der Zukunft eine größere Entwicklung des deutschen Presse- und Bibliothekenwesens zu erwarten haben. Aber die Art und Weise, um zum Ziele zu kommen, ist verschieden und hat ihren Grund in den prinzipiell verschiedenen Ansichten über unseren Kolonistendialekt, worüber wir uns vor allem klar werden müssen.

Warum geraten manche Leute so in Harnisch, wenn die Rede auf den Dialekt in der Schule kommt? Weil man der grundfalschen Ansicht ist, unser Dialekt habe sich unter russischem Einflusse so verändert, daß er überhaupt nicht mehr zu den deutschen Dialekten gerechnet werden dürfe. Leider traf ich diese Ansichten auch in Moskauer Gelehrten-Kreisen an. Doch ist es hier begreiflich, da die Leutchen keine Ahnung von der wahren Sachlage haben und nur das nachsagen, was ihnen baltische Pastoren vor Jahren vorgesungen haben.

Warum sollte unsere Kolonistensprache keinen Anspruch auf deutschen Dialekt haben? Sie sei verrußt? Aber wenn unsere Sprachforscher mit der hellsten Laterne kaum imstande waren, einige Hundert eingebürgerte russische Wörter aufzufinden – was ist das im Vergleich mit 70 Tausend Fremdwörtern, die die deutsche Sprache aufgenommen hat? Nein – eine solche Behauptung kann nur auf Unwissenheit oder Verachtung beruhen. Unsere Dialekte werden noch heutzutage mancherorts in Deutschland gesprochen, sie haben sich nur phonetisch verändert. Der Kampf mit dem rauhen Steppenklima und die sozialen Verhältnisse haben unserem Bauer nicht nur den Stempel eines Kolonistentypus aufgedrückt, sondern auch seine Sprache einem eigenartigen Entwicklungsprozeß unterworfen. Der Dialekt hat sich nicht nur erhalten und naturgemäß in den neuen Verhältnissen eigenartig entwickelt, wir haben auch eine reichhaltige Volkspoesie aufzuwerfen, die bis jetzt fast noch wenig beachtet, nicht gesammelt und verarbeitet ist.

(Schluß folgt)


Volksbildung.

(Schluß)

Kehren wir nun nach dieser Auseinandersetzung zur Schule zurück. Was unsere Schule höheren Typus (7jährige, 2. Stufe, Technikum) anbelangt, so unterliegt es hier keinem Zweifel, daß der Unterricht in der Literatursprache betrieben werden muß. Diese Anstalten haben die Aufgabe, Lehrer heranzubilden oder zu anderen Fachschulen vorzubereiten, aus denen wiederum Leute hervorgehen werden, die die deutsche Sprache beherrschen müssen. Die Hauptsache aber ist daß uns diese Schulen die neue werktätige deutsche Intelligenz geben sollen. Und die muß vor allem im Gegenteil zur alten die deutsche Sprache beherrschen. Sprach früher alles, was nur etwas Anspruch machen wollte auf Intelligenz, nur russisch und kehrte durch Verachtung seiner Kolonistensprache – dem Bauer den Rücken, so muß die neue Intelligenz andere Wege betreten. Hier, in diesen Schulen müssen der Kolonistendialekt, Volkssitten, Geschichte der Kolonien, Volkspoesie etc. das wichtigste Element der Heimatkunde bilden.

Anders steht es in dieser Hinsicht mit der Schule 1. Stufe. Die „wahren Vertreter des Deutschtums“, die Anhänger der ersten Richtung, weisen so gerne darauf hin, daß man in den Schulen Deutschlands keinen Dialekt gebrauchte. – Wir müssen immer mit der reellen Wirklichkeit rechnen. Das Kind kommt bei uns mit 8-9 Jahren zum erstenmale in die Schule. Es hat im Durchschnitte nicht wie in Deutschland einen Kindergarten besucht, eine jugendliche Pionierbewegung durchgemacht, nicht die kulturelle Umgebung wenn auch nur mit Kinderaugen, gesehen und auch nicht die Literatursprache gelehrt, wie das Kind in Deutschland auf Schritt und Tritt. Unsere Kinder kommen mit einem verhältnismäßig niederen geistigen Niveau in die Schule. Nun verlangt aber auch die primitivste Erziehungsmethode – darin sind sich alle zentralen pädagogischen Versuchsanstalten einig – daß das Kind die erste Schulzeit, die für seine weitere Entwicklung von unberechenbarer Bedeutung ist, nur nach und nach den übergang aus dem Elternhause in die neue Schulsphäre fühle. Und dazu gehört natürlich in einer Reihe auch die Sprache des Kindes. Wollte man da mit einer Literatursprache kommen, so würde das Kind nur kopfscheu werden. Erst nach und nach während des Jahres hat dann der Lehrer in eine leichte literarische Kindersprache überzugehen. Doch auch fernerhin schrecke man nicht vor Dialektausdrücken und dem Gebrauche des Dialekte zurück, um den Kindern einen Fachausdruck oder anderes klarer zu machen. Als Hilfsmittel dient der Dialekt nicht nur bei uns Deutschen, auch in russischen Schulen werden örtliche Ausdrücke (Provinzialismen) stets dazu gebraucht. Ich denke, auf diesem Wege werden wir her zum Ziele gelangen.

Die Schule und ihre Arbeiter sollen sich unserer Kolonistensprache nicht feindlich gegenüberstellen, sondern sie verstehen und achten lernen. Nicht um einem dummen Nationalismus zu huldigen, sondern weil wir Kolonisten durch die Sowjetregierung das Recht auf eine nationale Entwicklung bekommen haben.