Geschichte der Wolgadeutschen
FRIEDENSBOTE
Monatsblatt für’s christliche Haus
1905 Nr. 6

Emanuel Borell,
geboren den 5. August 1837 in Goloi-Karamysch, gestorben den 23. Januar 1905 in Saratof.

Unter großer Beteiligung von Deutschen und Russen ist am 26. Januar dieses Jahres die sterbliche Hülle des Saratofer Kaufmanns Emanuel Borell zur letzten Ruhestätte begleitet worden. Nach einem arbeits- und mühereichen Leben hat ihn Gott der Herr aus diesem irdischen Leben abgerufen.

Es sei uns gegönnt in folgendem ein kurzes Lebensbild des Verstorbenen zu zeichnen, da derselbe auch unter den Lesern des Friedensboten viele Freunde gehabt hat. Mit ihm ist ein Stück alten Wolgadeutschtums hingegangen. Emanuel Borell wurde geboren zu Goloi-Karamysch, Gouv. Saratof, am 5. August 1837. Bei seiner Taufe standen 5 Pastore als Paten, die zum Bibelfeste in den Ort gekommen und im Hause seiner Großvaters eingekehrt waren. Dessen gedachte der Verstorbene immer mit großer Freude, und daraus möge sich auch seine große Verehrung und Anhänglichkeit für den Predigerstand erklären. In Goloi-Karamysch empfing er den Jugendunterricht und wurde auch daselbst konfirmiert. Schon früh zeigten sich in ihm Gaben und Fähigkeiten für seinen späteren Beruf. Bereits als 14-jähriger Knabe begleitete er die Diener seines Vaters auf ihren weiten Geschäftsfahrten. Als 18-jähriger junger Mann verehelichte er sich und hat mit seiner lieben Ehegattin, die ihm bei allen seinen Arbeiten, Mühen und Sorgen wacker in Liebe und Leid zur Seite gestanden hat, fast 50 Jahre in überaus glücklicher Ehe gelebt. In diesem Jahre hätte er seine goldene Hochzeit feiern können. Gott segnete seine Ehe mit 12 Kindern, von denen 5 in frühester Jugend verstorben und 7 am Leben sind, welche letzteren alle erwachsen sind und sich in selbständiger Stellung befinden. Enkel erlebte der Verstorbene 41, von denen 7 verstorben und 34 noch am Leben sind. — 21 Jahre war er alt, als er das Geschäft von seinem Vater übernahm und hat dasselbe allmählich ans kleinen Anfängen durch Fleiß und Tatkraft zur großen Blüte gebracht. Er unternahm weite Geschäftsreisen, knüpfte weitverzweigte Beziehungen an und hob auf diese Weise nicht nur sein Geschäft, sondern auch die heimatliche Sarpinka-Industrie, so daß seine Bemühungen vielfach auch seinen Landsleuten zugute kamen, und hat so zur Förderung der Kulturaufgabe an der Wolga einen namhaften Beitrag geliefert. 1874 hat er die erste Mühle erworben und da widmete er seine Kraft einem neuen Zweige seiner Berufsarbeit. Für die Landwirtschaft hatte er besonderes Interesse und hat sich im Laufe der Zeit manchen stattlichen Besitz erworben.

Im Jahre 1892 gab er seinem großen Geschäfte ein festes Gefüge: er gründete das bekannte Handelshaus in Saratof mit seinen Söhnen und seinem Neffen, welch’ letzteren der Verstorbene wie sein eignes Kind erzogen hat, und der in ihm einen Vater verloren hat.

Er war ein überaus fleißiger und unermüdlich tätiger Mann, der sich durch große Energie auszeichnete. Er war ein offener und gerader Charakter, der den Mut besaß, die Wahrheit jedem in das Gesicht zu sagen und auch für die Wahrheit entschieden einzutreten. Freilich hat er sich auch dadurch manche Feindschaft zugezogen.

Für seine Heimat behielt der Verstorbene immer ein besonderes Interesse, und es bereitete ihm besondere Freude, wenn er seinen Landsleuten mit Rat und Tat aushelfen konnte. Deshalb hat er auch seine Heimatsgemeinde mit einer namhaften Summe testamentarisch bedacht.

Er besaß in reichem Maße das Vertrauen der örtlichen Kaufmannschaft, so daß ihm manches Ehrenamt übertragen wurde. Als der hochselige Kaiser Alexander II. die Wolgagegend bereiste, so gehörte der Verstorbene zu der Zahl der Deputierten, die dem Kaiser den Dank der Kolonisten für die verliehenen Privilegien übermitteln sollten. Der Kamischinschen Kreis-Landschaftsversammlung gehörte er als Mitglied an.

Obgleich der Verstorbene durch sein eigenes großes Geschäft schon ohnehin sehr in Anspruch genommen war, so machte er es doch möglich, auch der Saratofer evaugelisch-luther. St. Mariengemeinde warmes Interesse entgegenzubringen. 19 Jahre hindurch war er Mitglied des Kirchenrats genannter Gemeinde und zuletzt auch Präsident desselben. Mit unermüdlichem Eifer, großer Treue und Gewissenhaftigkeit hat er die von ihm übernommenen Pflichten erfüllt und zu jeder Zeit die Interessen der Kirche mit unerschrockenem Mannesmute vertreten. Unserem Saratofschen Bezirkskomitee der Allerhöchst bestätigten Unterstützungskasse gehörte er seit ihrem 10-jährigen Bestehen als Mitglied an und hatte die mit viel Mühe verbundene Kassenverwaltung übernommen.

Für seine vielen Bemühungen und Verdienste um Kirche und Gemeinde, ist ihm auch durch Kaiserliche Gnade eine Allerhöchste Auszeichnung zuteil geworden.

Dankend gedachte auch an seinem Sarge seiner vielen Verdienste Propst Thomson im Auftrage des höchsten Geistlichen der evangelischen Kirche Rußlands, Sr. Hochwürden des Herrn Bischofs Freifeldt.

Auch viel Trübsal hat der Heimgegangene auf seiner irdischen Wanderschaft erleben müssen. Zuerst verlor er seinen Vater, der im Geschäfte die Ordnung aufrecht erhielt, während er selbst mehr auf Fahrten und Reisen sich befand, und 2 Jahre später seinen einzigen lebenden Bruder, der mit ihm gemeinschaftlich das Geschäft betrieb und ihm Hilfe und Stütze in demselben sein sollte. Dann verlor er seine Mutter durch den Tod und 5 Kinder sind ihm in die Ewigkeit vorausgegangen. Auch in einem so großen Geschäfte, wie es der Verstorbene besaß, gab es trübe Stunden und viele Sorgen zu überwinden. Aber mit Mut und Geduld hat er alles getragen, und wo andere mutlos wurden, da behielt er den Gleichmut der Seele und konnte noch andere trösten und aufrichten. Besonders schwer und prüfungsreich war die letzte Zeit seines Lebens. Nach Gottes unerforschlichem Ratschluß wurde er von einer schweren Krankheit heimgesucht. Vergebens suchte er Hilfe im Auslande, vergebens war alle aufopfernde, sorgfältige Pflege der Seinigen. Aber gerade in dieser schweren Zeit bewährte sich sein Gottvertrauen und sein Glaube an den, der in die Welt gekommen ist, alles Leid zu stillen und seine Kraft und Gnade an dem Schwachen zu offenbaren. Im Vorgefühle seines bevorstehenden nahen Endes, hat er sich im heiligen Abendmahle erquickt und öfters aus Gottes Wort sich gestärkt zum letzten Kampf und Strauß. Der Herr hat ihm einen sanften Tod bescheret, und unter den Gebeten der Seinigen ist er heimgegangen, nach des Tages Last und Hitze in die himmlische Heimat, zu der Ruhe, die Gott seinem Volk verheißen hat.


Friedensbote, 1905, Nr. 6, Spp. 237-242.