Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1923 Nr. 11

Das Wolgadeutschtum in der Neuen Welt.

Von P. Sinner, Saratow.

Die starke Vermehrung unserer Wolgadeutschen, sowie auch ungünstige wirtschaftliche Verhältnisse, im Besonderen die jedes Jahrzehnt hier ziemlich regelmäßig eintretenden totalen Mißernten, drückten seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts den von der Not am härtsten mitgenommenen Elementen in den deutschen Wolgakolonien den Wanderstab in die Hand. Man siedelte aus nach dem Kaukasus („an die Linje“), später nach Sibirien, noch später nach Mittelasien. Seit 1848 wurden außerdem weiter im Innern der Wolgasteppe, auf Berg- und Wiesenseite, zahlreiche Tochterkolonien angelegt, im ganzen 9 auf der Bergseite und 46 auf der Wiesenseite, also zusammen 55 Ansiedlungen. Aber auch diese Möglichkeiten, den Volksüberschuß oder Zuwachs unterzubringen, genügten nicht. Seit den 70er Jahren eröffnete sich den zur Auswanderung gezwungenen Wolgakolonisten ein neues Reiseziel: Brasilien, Argentinien, die Union, Kanada, kurzum, die Neue Welt war jetzt das gelobte Land. Die ersten Siedlungen jenseits des Ozeans hatten zum Teil, namentlich in Nordamerika, glänzenden Erfolg und bekamen von Jahr zu Jahr immer mehr Verstärkung aus der alten Heimat. Besonders stark wurde aber die Auswanderungsbewegung während und nach dem schrecklichen Hungerjahr 1891. Seitdem wuchs die Zahl der Auswanderer, die nach Amerika gingen, von Jahr zu Jahr. Die Fahrt nach Amerika wurde mit der Zeit z. B. für unsere Karamaner eine ganz gewöhnliche, alltägliche Sache. Man fuhr fast mit ebenso leichtem Herzen auf die Arbeit nach Amerika, wie an die Metschett (das vom Dorf am weitesten entfernte Feld). Dort war man 5—10 Jahre, verdiente und ersparte sich eine Summe Geld und kam wieder zurück, um hier dann seine Wirtschaft zu verbessern und in alter Weise weiter zu „baurieren“. So war’s, bis 1914 der Weltkrieg ausbrach, der der Auswanderung von hier nach Amerika einen Riegel vorschob.

Wie erging es aber unsern Leuten in der neuen Heimat? Wirtschaftlich im allgemeinen besser als in der alten. Aber in kirchlicher und völkisch-kultureller durchweg schlechter, als daheim. Man litt großen Schaden an seiner Seele.

Die Auswanderung ging unorganisiert, elementarisch vor sich. Die Leute zogen blind in die Welt hinein, ganz sich selbst überlassen, ohne Führung, ohne eigene geistliche Bedienung. Es war nicht etwa so, wie bei den Mennoniten, wo das Mutterdorf für Grund und Boden, Kirche und Schule und jegliche Organisation gesorgt hätte.

Hierfür müßte man der alten Wolgaheimat einen harten Vorwurf machen, wenn sie nicht selbst bis daher ohne Mittelstand, ohne Intelligenz, ohne geistige Führer geblieben wäre und nicht selbst in Unwissenheit und Unkultur geschmachtet hätte.

Was ist nun in sittlich religiöser Hinsicht aus unsern Leuten geworden, was in völkisch-geistiger? Sie sind vielfach zunächst unter den Einfluß schwärmerischer Sektierer-Strömungen geraten. So haben wir denn drüben unter unsern Brüdern die verschiedensten Religionsgemeinschaften vertreten. Diese religiöse Zersplitterung beschleunigte das Aufgehen im herrschenden Volkstum. Das eigene Volkstum kann nämlich in den verschiedenen Ländern Amerikas nur dann mit Erfolg erhalten und gefördert werden, wenn die betreffende völkische und konfessionelle Gruppe in eine gut organisierte numerisch starke kirchliche Gemeinschaft vereinigt ist. Das dürste allmänniglich bekannt und auch einleuchtend sein, daß drüben die Pflege nicht nur Religion, sondern zumal auch des Volkstums nur innerhalb der nationalen Kirche und Kirchenschule möglich ist. Gehört aber eine kleine Gruppe unserer Leute zu einer gemischten Gemeinde, oder eine kleinere wolgadeutsche Gemeinde zu einer verschiedensprachigen Religionsgemeinschaft, so ist es um das Volkstum einer solchen kleinen Minderheit rasch getan. Das ist auch der Hauptgrund, neben der niedrigen Kulturstufe unserer Leute, weshalb drüben die heranwachsenden Geschlechter gleich im ersten Jahrzehnt ziemlich regelmäßig und fast restlos in fremdem Volkstum ausgehen, zumal die drüben Geborenen.

So war’s im Lauf der Zeiten. Die ernsteren und fernsichtigeren Elemente des drübigen Wolgadeutschtums sahen mit Trauer ihr Ende nahen und schauten nach einem Ausweg aus.

Da kam das Jahr 1921—22. Die alte Heimat wurde durch einen beispiellosen Mißwachs heimgesucht. Was taten nun unsere Leute drüben? Was taten die, welche die alte Heimat längst vergessen zu haben schienen und sich selbst bereits auch wirklich als waschechte Dankees fühlten? Gerade mit diesen letzteren, als den Gebildeten, den Vormännern, an der Spitze, gingen unsere drübigen Wolgadeutschen ans Werk und stifteten Hilfsaktionen für ihre darbenden Brüder in der alten Heimat. Und sie leisteten Unglaubliches, Beispielloses in der Geschichte der Menschheit. Sie wirkten einfach Wunder. Gute drei Viertel unseres nachbleibenden Volkes hier an der Wolga haben gerade sie vom sichern Hungertode gerettet. Und wie wurde das bewerkstelligt? Überall, wo Wolgadeutsche in größerer Zahl zusammen wohnten, taten sie sich zusammen in Wolga-Hilfswerke (Volga Relief Societies). Es wurde nicht nur den Verwandten und Freunden persönlich, durch Food Drafts, sondern auch dorfweise, kreisweise, sogar bezirk- und gebietweise tatkräftig durch Lebensmittel- und Kleidersendungen unter die Arme gegriffen.

Als sich nun jene Organisationen, namentlich die von Nebraska und Oregon, die ihre Vertreter hier hielten, im vorigen Jahr so gut bewährten, kam man auf den schönen und richtigen Gedanken, alle Wolgadeutschen Nordamerikas in eine allgemeine Wolga-Hilfsorganisation zu vereinigen, um den Brüdern in der alten Heimat aufs beste weiter helfen zu können, namentlich beim Wiederaufbau der zerstörten Wirtschaft, durch schenk- und leihweise Vorstreckung von Mitteln zur Anschaffung von landwirtschaftlichen Maschinen und Zugkraft (Traktoren, Pferden). Am 3., 4. und 5. November fand in Lincoln der große Wolgakolonistentag statt. Als wir davon hörten, von diesem Vorhaben, waren wir im Voraus voll Freude und Hoffnung, alle wolgadeutschen Organisationen Canadas und der Union würden sich an dem großen Tag, wie ein Mann, beteiligen und die Gründung der Vereinigung mit eitel Jubel begrüßen. Die American Volga Relief Society kam dann auch glücklich zustande. Aber eine Enttäuschung brachten uns die Berichte über den großen Kolonistentag doch. Wie wir zu unserem Befremden erfahren, hatten einige Organisationen, z. B. Californien, Canada, den Kongreß nicht beschickt. Gründe?

Wie wir in der „California Post“ lesen, wollen die Californier sich voll und ganz Berliner Organisationen anschließen. Es ist mir ja sehr erfreulich, daß man den Organisationen das ihnen gebührende volle Vertrauen entgegenbringt. Aber ich halte doch dafür, daß es das richtigere gewesen wäre, wenn alle nordamerikanischen wolgadeutschen Hilfswerke und Gemeinden auch den Kongreß beschickt und sich auch der American Volga Relief Society sogleich angeschlossen hätten. Erstens wäre dem Wolgadeutschtum in Amerika selbst durch einen engen Zusammenschluß aller Landsleute unstrittig in völkisch-kultureller und politischer Hinsicht sehr gedient: sie würden durch ihre Stärke gleich an Ansehen und Einfluß gewinnen. Und auch der Hilfsaktion in der alten Heimat wäre dadurch die höchste Förderung erwiesen. Die einzelnen Societies sind ja doch in gewissen Grenzen selbständig und können gewisse Arten von Hilfe vorteilhafter durch Berliner Organisationen, z. B. das Hilfswerk der Wolgadeutschen, durchführen, etwa Wiederaufbauaktionen; dagegen solche Aktionen, die die A. R. A., dank ihrem günstigen Vertrag mit der Räteregierung, vorteilhafter bewerkstelligen könnte, wären durch die letztere durchzuführen. Ich will dabei weder für die, noch für jene Partei ergreifen, da ich genau weiß, daß fragliche Organisationen ihr Mögliches tun und großen Nutzen bringen, jede auf ihre Art und in ihrer Eigenschaft.

Was nun die Vorwürfe betrifft, die unter anderem auch mein verehrter Landsmann, H. Heinz, in der „Calif. Post“ gegen die Herren Rapp, J. Wagner und G. Volz erhoben hat, diese hätten nur die Interessen der Bergseite vertreten, so muß ich hierzu auch einiges sagen. Die genannten Herren waren und sind im vollem Sinne des Wortes Vertreter und Beschützer der Interessen aller Wolgadeutschen auf Berg und Wiese. Ich freue mich, dieses der Wahrheit gemäß bestätigen zu können. Selbstredend war ihr direktes Arbeitsfeld der Balzerer Bezirk. Aber daß Br. Repp dies durchsetzte, dafür sind wir ihm besonderen Dank schuldig. Anders hätte die Bergseite unter der Nansenhilfe bleiben müssen. Dann hatte die A. R. A. keinen Apparat auf der Bergseite gehabt, und die Hilfe von den Verwandten aus Amerika wäre schwer auf die Bergseite zu bringen gewesen und es waren noch viel mehr Menschen verhungert. Daß aber die Wolga Hilfswerke von Nebraska und Oregon nur einen Bezirk übernahmen, ist auch verständlich: jeder darf nur so viel Pflichten übernehmen, wie er erfüllen kann. So haben die Herren als offizielle A. R. A.-Vertreter ihren Distrikt verwaltet und sind dabei doch auch ihrer ideellen Ausgabe, als Wolgadeutsche dem ganzen Gebiet zu helfen, nie untreu geworden. Daß jeder von den Herren nach Maßgabe auch die Wiesenseite bereiste, ist auch in Amerika bekannt. Wie sie aber für alle, auch die Wiesenseiter, gesorgt haben, dafür hier nur ein paar Beispiele. Die Bangertor bekamen eine Sendung aus Fresm. Als man ihnen in der Geschäftsstelle der A. R. A. formelle Schwierigkeiten machte, ging der Bevollmächtigte, Schulmeister Joh. Kromm, zu Herrn Repp. Dieser sprach für ihn und ebnete ihm alle Wege. So kamen eines Tages auch Enderser Bevollmächtigte. Auch von ihnen wollte man im Voraus unterschriebene Empfangslisten, die sie nicht hatten, und dgl. mehr. Wir gingen zu Pastor Wegner. Er trat für sie ein, daß sie ihre Sachen bekamen, erwirkte ihnen ein Lastauto zur kostenfreien Beförderung der Lebensmittel ans User. Und da sie keine Mittel zur Überführung des Transports über die Wolga hatten, streckte er ihnen 50.000.000 Rbl., damals eine große Summe, vor, wovon er der Gemeinde gar 10 Mill. Rbl. schenkte. Überhaupt kann ich frei behaupten, daß so ziemlich alle Gemeinden der Berg- und Wiesenseite Gelegenheit hatten, die Fürsprache und Hilfe der Herren Repp, Wagner und Volz anzurufen, und jeder fand stets bei ihnen Gehör und auch tatkräftige Hilfe. Freilich wurde oft auch Unmögliches verlangt, und da bekamen die Bergseiter öfter Absagen als die Wiesenseiter, weil sie — öfter unbescheiden waren. Wenn unsere Leute z. B. verlangten, man möge ihnen von Amerika Dollars übermitteln, was oft der Fall war, so bekamen sie Absagen. Denn das war gesetzlich verboten. Aus dem Gesagten erhellt zur Genüge, daß wir den Männern samt und sonders zu großem Dank verpflichtet sind. Von ihrer angeblichen Pflichtvergessenheit die Notwendigkeit zur Gründung einer neuen — wiesenseiter —  Vereinigung herzuleiten, bedeutet eine Kränkung für diese Herren, die sie an uns nun schon gar nicht verdient haben. Abgesehen davon, daß mir eine solche — besondere, wiesenseiter — Vereinigung auch aus praktischen Erwägungen heraus überflüssig, ja schädlich erscheint.

Ich gebe mich, im Gegenteil, der Hoffnung hin, daß das oben Besprochene nur ein rasch vorübergehendes Mißverständnis ist und daß sich nicht nur alle unsere Nordamerikaner, sondern auch alle Wolgadeutschen Südamerikas recht eng zusammenschließen, um ferner, im Anschluß an die alte Heimat, zu wahren, zu hegen und zu pflegen, was wir ererbt von unsern Vätern haben: unser Volkstum, unsere Eigenart. Das vereinigende Band ist, gottlob, da. Das ist die Halbmonatsschrift „Der Wolgadeutsche“.

Die Kinder- und Brudertreue habt Ihr dort drüben an den Eurigen und an Eurem alten Heimatland in höchstem Maße bewiesen. Nun gebt uns die Möglichkeit, durch geistigen und kulturellen Dienst recht bald einen kleinen Teil dieser Schuld abtragen zu können, und gönnt uns die Freude, beobachten zu dürfen, wie Ihr in Eintracht und Frieden Euer Volkstum wieder stärkt und fördert und den Segen in vollem Maße genießt, den Euch der Himmel für Euer edles Bruderwerk an uns sicher nicht versagen wird.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1923, Nr. 11, 2. Beilage, S. 1.