Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1923 Nr. 3, 4

Die deutsche Schule in Saratow.

Von Universitätsdozent P. Sinner. Saratow.

Solange deutsche Kolonisten an der Wolga leben, war die Verbesserung der Schulen eine ihrer größten Sorgen. Wenn sie ein Dorf anlegten, bestimmten sie vor allem die Plätze für Schule und Kirche. In der ersten Zeit verwalteten sie ihre Schulen selbst, die Lehrer wählten sie aus eigener Mitte, und sollen, wie die Geschichte besagt, lange Zeit keinen Mangel an Leuten gehabt haben, die für diesen wichtigen Beruf geeignet waren. Anders wurde es, als die erste Generation, die ihre Bildung noch in Westen bekommen hatte, ausgestorben war und die Lehrer aus den Zöglingen der hiesigen Schulen gewählt werden mußten; bald war es unmöglich, geeignete Lehrer zu bekommen. Auch war die Verwaltung der Schulen an Personen übergegangen, die selbst keine Kolonisten und nichts weniger als Pädagogen waren. Daher sank die Schule so weit, daß sie der in den russischen Nachbardörfern nachstand. Mit einer solchen Sachlage konnten die einsichtigsten und tatkräftigsten Elemente unseres Volkes nicht zufrieden sein, und deshalb wurde die Frage nach der Gründung eines Lehrerseminars und höherer Bildungsanstalten erhoben. Aber aus der guten und so notwendigen Sache konnte nichts werden, obgleich es an Kapitalien hierfür bis zur Revolution nicht mangelte. Die kulturelle Entwicklung der Bürger gehörte eben nicht in das Programm ihrer zaristischen Regierung, und wie sie mit Juden, Polen, asiatischen Völkern im Kaukasus und hauptsächlich mit uns Deutschen während des Weltkrieges verfahren, ist allenthalben bekannt.

Die Revolution hob vieles auf, u. a. auch unsere veralteten Schulgesetze und schuf neue, die der nationalen Schule völlige nationale Freiheit und Gleichberechtigung gaben. Man hätte schon 1918 deutsche Lehranstalten gründen können, aber es waren nicht gleich Leute mit Initiative da. Auch soll die neuerstandene Verwaltung des deutschen Wolgagebiets, die damals noch in Saratow ihren Sitz hatte, der Meinung gewesen sein, die Kulturarbeit an der 10‒12 tausendköpfigen deutschen Einwohnerschaft Saratows sei nicht ihre Aufgabe, da Saratow außerhalb der Deutschen Kommune liege.

Zwei Jahre vergingen. Da wurde 1920 in einem engen Kreise deutscher Männer schüchtern die Frage ausgeworfen, ob man nicht jetzt an die Gründung einer deutschen Mittelschule in Saratow denken könne. Man beschloß, den Boden in der russischen Schulverwaltung zu sondieren und siehe, hier fand man Gehör.

„Beweisen Sie mir“, sagte der Leiter der Schulverwaltung, „daß die deutsche Bevölkerung Saratows eine Mittelschule nötig hat, und sogleich wird sie eröffnet“. Das war keine schwere Ausgabe; in einem kurzen Schreiben war sie gelöst. Aber je idealer eine Bestrebung ist, desto größere Hindernisse stemmen sich ihr entgegen. Es dauerte 3 ½ Monate, bis die Urkunde über die Gründung der deutschen Schule in Saratow gegeben wurde. Die Behörde stellte Staatsmittel zum Unterhalt, zweier Schulen I. Stufe (Volksschulen), einer Schule II. Stufe (Mittelschule) und einer Schule für Erwachsene zur Verfügung. Als Unterrichtssprache wurde ohne weiteres die deutsche bewilligt; ja, der deutschen Gesellschaft wurde das Recht zugesprochen, Kandidaten für die Lehrerposten zu empfehlen (dieses Recht hat die russische Gesellschaft nicht), leider kann sie noch bis heute davon keinen Gebrauch machen, da es in Saratow keine organisierte deutsche Gesellschaft gibt. Doch wurde noch kein Lehrer angestellt, der nicht vom Lehrerverein oder von der Schulleitung vorgeschlagen worden wäre.

Es galt nun Hand anzulegen, um einen 150 jährigen Traum zu verwirklichen. Das war keine leichte Aufgabe. Erstens war es schon Oktober, die Schüler, die sich in Saratow befanden (viele waren aus Furcht vor Hunger und Kälte in die Dörfer geflohen), hatten schon in russischen Schulen Unterkunft gefunden, die Lehrer waren mit Arbeit überhäuft und mußten bis zu 90 Stunden in der Woche geben, und schließlich fehlte es an einem Lokal. In jener Zeit standen der Schulverwaltung für 120 städtische Schulen nur etwa 20 kleine mitunter baufällige Häuser zur Verfügung, die übrigen Schulgebäude waren vom Militär besetzt. Die Lehrerfrage wurde bald gelöst, und schon am 27. Oktober 1920 begann der Unterricht mit 10 Schülern der II. Stufe in einer Privatwohnung, in der anderen Schule begann die Arbeit etwas später in einem Schulhause am Institutsplatz; der Unterricht in der Erwachsenenschule begann Ende Oktober in derselben Privatwohnung, mußte jedoch nach einem Jahr wegen Schülermangels eingestellt werden.

Im September 1921 wurde der Vorschlag gemacht, die Schulen der II. und I. Stufe zu vereinigen und aus diese Weise eine einheitliche deutsche Schule (etwa ein Realgymnasium) zu bilden. Solche Schulen sind im Gesetz ja nicht vorgesehen, aber die Schulverwaltung nahm diesen Vorschlag an und stellte der vereinigten Schule ein Lokal und ein Schulinventar (sonst sind die Schulen I. und II. Stufe räumlich getrennt) zur Verfügung, diejenigen der ehem. Luth. Kirchenschule. Mit der Absicht, in die zwei oberen Klassen deutschstämmische Schüler aus russischen Schulen aufzunehmen, wurden zugleich die Klassen 3 und 4 eröffnet. Da die deutschstämmigen Zöglinge aus den russischen Schulen nur schlecht Deutsch verstanden, mußten wir uns zu einem gemischt sprachlichen Unterricht entschließen. Eine dieser Kompromißklassen hat im vorigen Juni den Kursus beendet, die andere wird ihn nächstes Jahr beenden und dann wird die russische Sprache lediglich obligatorisches Sprachfach sein, in, übrigen aber wird das Deutsche vorherrschen.

Im vorigen Jahre hatte unsere Schule mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Zahl der Räume war so gering, daß sie von verschiedenen Klassen nacheinander von 8 Uhr morgens bis 10 und 11 Uhr abends benutzt werden mußten. Die Temperatur in den Klassenzimmern war fast nie über 10 Grad R. Lehrer und Schüler litten am Hunger. Es fehlte an Kleidern und Schuhen. In der Stadt wüsteten ansteckende Krankheiten, so daß man beständig aus der Hut sein mußte, die Schule vor Einschleppung dieser Krankheiten zu schützen. Um die vor Hunger nach Saratow geflüchteten Kinder vor Bettelei, Dieberei oder sogar vor dem Tode zu retten, mußten bis zu 50 Schüler in die Klasse aufgenommen werden, außerdem wurden 3 Parallelklassen der I. Stufe und eine Kleinkinderklasse eröffnet. Zur Linderung der Hungersnot mußten Mittel zur Einrichtung einer Küche beigeschafft werden. Die Regierung gab aus ihren eigenen Vorräten Brot, Kartoffeln, Öl und Fleisch, bis ausländische Hilfe ankam. Zur Herstellung der Speisen mußten die Kinder oft Holz aus den geringen Vorräten von zu Hause mitbringen usw. Außerdem fehlte und fehlt es an Lehrmitteln und Büchern. Trotzdem ist es gelungen, einiges zu erreichen: 16 Knaben und Mädchen haben die Schule beendet und einige haben die Universität bezogen.

Heute ist manches anders geworden. Vor allen Dingen kann gesagt werden, daß sich die Hungersnot unter den Zöglingen bedeutend vermindert hat, doch müssen bis jetzt immer noch über 100 Kinder in der Schulküche gespeist werden, der Mangel an Kleidern ist trotz der Ballen, die die Amerikaner unter unseren Kindern verteilen ließen, fast der gleiche geblieben. Die Lage der Lehrer, namentlich unserer Saratower Lehrer ist noch schlimmer geworden, als sie im vorigen Jahr War. Die Hilfe der Regierung fehlt. Das Gehalt ist der Preissteigerung auf Lebensmittel, Kleider und Holz nicht angepaßt.

Die Raumfrage ist bedeutend günstiger als im vorigen Jahr. Die Schulbehörde hat uns im ehem. I. Knabengymnasium Zimmer zur Verfügung gestellt, da unser eigenes Haus für unsere Schule zu klein ist. Außerdem hat man uns die Wohnungen des früheren Direktors und Inspektors zu einem Internat für auswärtige Schüler und zu Lehrerwohnungen gegeben. Diese Räumlichkeiten waren sehr beschädigt und wir mußten sie remontieren. Wie groß unsere Unkosten waren, ist daraus ersichtlich, daß wir über 12 Pud Kitt und über 150 Tafeln Glas verbraucht haben. Das Schulhaus neben der luth. Kirche, in dem sich 5 Normalklassen und ein Kindergarten mit zwei Abteilungen befinden, ist auch remontiert worden. Die Epidemien haben nachgelassen, gegenwärtig werden wir aber von Scharlachfieber und von der Diphtheritis bedroht. Die Hungerflüchtlinge sind zum größten Teil wieder in ihre Heimatdörfer gezogen, dagegen haben uns aber viele Kolonisten, die kaum den Hunger überstanden haben, ihre Kinder nach Saratow gebracht; die Zahl unserer Schüler hat nicht ab-, sondern zugenommen.

Wegen Mangels an Geldmitteln sah sich die Regierung schon im vorigen Jahre genötigt, zur Verminderung der Etats zu greifen. Solcher Verminderungen gab es bis jetzt drei. Bei der ersten verloren wir die unter jetzigen Umständen durchaus entbehrlichen Instrukteure für Handarbeiten; bei der zweiten die Lehrerin der französischen Sprache aus der I. Stufe, außerdem wurde die Stundenzahl in allen Klassen etwas vermindert. Das war nun so schlimm noch nicht; anders war es bei der dritten Verminderung, die im Juni stattfand. Der Staat konnte von da an nur 20 Schulen I. Stufe und 5 Schulen II. Stufe unterhalten, die anderen mußten entweder örtlichen Organisationen übergeben oder auf ihre eigenen Mittel angewiesen werden, oder, wenn sie auf dem Wege der Besteuerung ihrer Schüler keine Existenzmittel auftreiben tonnten, einfach geschlossen werden. Auch uns sollte da das Schicksal hart treffen: wir sollten die Schule an der Peripherie, drei Parallelklassen der 54. Schule und die ganze II. Stufe verlieren. Das war doch zu hart und kam so unverhofft, daß man gar keine Zeit hatte, vor der Bestätigung des Verminderungsplanes irgendwelche Versammlung einzuberufen, die gehörigen Ortes um Abänderung dieses Planes hätte einkommen können. Ich lief zum Leiter der Gouv.-Schulverwaltung, der diesen Plan bestätigen mußte, und bat ihn doch wenigstens 2‒3 Stunden zu warten, bis ich ein Schriftstück gebracht hätte, in dem die schreiende Notwendigkeit einer deutschen Mittelschule in Saratow bewiesen wäre. Diese Beweise lieferte ich noch rechtzeitig, wobei ich von dem Leiter der Gouv.-Abt. für diese Angelegenheiten unterstützt wurde. Es fielen aber doch eine Judenschule, eine Tatarenschule, die 27. deutsche Schule und 3 Klassen unserer 54. Schule unter die Rubrik „Verminderung“. Zum Beginn des Schuljahres hat die Schulbehörde doch Mittel für den Unterhalt der meisten „verminderten“ Schulen aufgetrieben. Einige davon wurden der örtlichen Kommunalverwaltung, andere professionellen Verbänden übergeben, und in den dritten müssen nun die Schüler so viel zahlen, wie für den Unterhalt der Schule nötig ist. Zur Zeit werden in den Schulen I. Stufe 60 und in denen der II. Stufe 80 Mill. Rubel Schulgeld von jedem Schüler erhoben. Auch in unserer Schule müssen diejenigen Schüler, die keine zahlungsfreien Plätze bekommen haben, so viel zahlen. Der Staat besoldet nämlich nur die Lehrer der Stammklassen der I. Stufe und der 4 Klassen der II. Stufe; die Lehrer der Parallelklassen müssen auf Kosten des Schulgeldes besoldet werden. Was nun die wirtschaftlichen Ausgaben anbelangt, so mußten zu diesem Zweck die Schüler mit je 4 Mill. Rubel besteuert werden. Wir hätten aber damit nicht auskommen können und wären in eine noch viel schwierige Lage geraten, wenn uns nicht auswärtige Hilfe zugeflossen wäre. Geholfen haben ausländische philanthropische Organisationen schon sehr viel. Erstens bekamen wir im November vorigen Jahres ganz außer der Reihe durch den Vertreter der Nansenhilfe, Mr. Webster, aus dem Fonds von Neuseeland eine Küche für über 400 unserer ärmsten Schulkinder; dann bekamen wir von der „ARA“ Medikamente, Kleider und Schuhe (über 100 Komplette), indirekt half auch die amerikanische Geistlichkeit unseren Schülern, dann bekamen wir durch den hiesigen Vertreter des Deutschen Roten Kreuzes, Dr. Fischer, wieder Medikamente, ferner wurden uns 60.000 Mark und 24 Mill. Rubel aus verschiedenen Quellen zugestellt und zuletzt brachte zu unserer größten Freude Dr. Fischer die Nachricht, daß man in Deutschland auch Lehrbücher für uns gesammelt habe. Wären sie nur schon da! Denn wie schwer es ist, stark verrußte Kinder ohne Lehrbücher zu unterrichten und wie schwer es diesen Kindern ist, ohne Lehrbücher dem deutschen Unterricht zu folgen, kann sich nur der vorstellen, der sich entweder in unserer oder in der Lage unserer Schüler befand. Wir wissen daher nicht, wie wir allen freundlichen Gebern und Helfern für die Bücher, wie für all die große Hilfe, die man uns erwies und noch erweist, danken sollen.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1923, Nr. 3, S. 1-2, Nr. 4, S. 2.