Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1922 Nr. 10

Der Brief von August Lonsinger aus Saratow
vom 18. Juli 1922 an den Wochenschrift „Der Wolgadeutsche“.

Saratow, 18. Juli 1922.

Es freut mich, zu erfahren, daß unsere Landsleute in Berlin so eifrig bestrebt sind, für den Wiederausbau unserer Kolonien ihr Möglichstes zu tun. Ich muß offen gestehen, daß ich in die Leitung des Schulwesens des Gouvernements Saratow und in die Hilfe für die Kinder (deren ich über eine Million aus dem Herzen habe) so sehr vertieft war, daß ich nicht die Möglichkeit hatte, mich genügend und ausgiebig über die Lage der Wolgadeutschen zu unterrichten. Doch kann ich manches von Interesse mitteilen.

An Hunger sterben gegenwärtig keine Menschen mehr. Die Kinder erhalten fast ausnahmslos gekochte Speise, während den Erwachsenen täglich 1 Pfund Welschkorn ausgehändigt wird. Die Ernteaussichten sind zumeist gut. Nur am oberen Karaman hat es wenig geregnet, und der Weizen läßt zu wünschen übrig. Die Roggenernte hat schon begonnen. Unsere Bauern erhalten viel Viehfutter, trotzdem die Spitzen der Ähren von der Julihitze benachteiligt worden sind. Die allgemeine Ernte dürste knapp Mittel ausfallen, etwa 30 bis 40 Pud pro Deßjatin im Durchschnitt.

Diejenigen der aus ihren Dörfern geflüchteten Kolonisten, die sich in den Wolgastädten unweit ihrer Dörfer aushalten, bemühen sich, zur Ernte nach Hause zurückzukehren. Auch holen viele Eltern ihre Kinder aus den Kinderheimen nach Hause. Wieviel Tränen gibt es da, wenn sie erfahren, daß ihre Kinder in entlegene Gegenden evakuiert worden sind. Wohl so mancher möchte seine Kinderchen von dort wieder zurück holen, es fehlt ihm aber an Geld dazu, denn die Bahn ist eine teure Sache.

Die Abrundung der Gebiete, über die Sie schon Näheres wissen, hat begonnen. Die Verwaltung der Kolonien wird nach Pokrowsk überführt. Die Abrundung hat aus jeden Fall viele Vorteile für sich.

Die in Saratow studierenden Wolgadeutschen haben sich zu einem Studentenzirkel zusammengetan, um ihre deutsche Muttersprache zu pflegen und sich in ihren freien Stunden mit dem Studium der geistigen und materiellen Kultur unseres Volkes zu befassen. Es gibt auch Gegner des Zirkels, doch glauben wir, daß er auch weiterhin bestehen wird. Leider können die Arbeiten nicht sehr umfangreich sein, da es an einer guten wissenschaftlichen Bibliothek fehlt. Bisher war es doch so: der „studierte Mann“ kehrte nicht in die Kolonien zurück, da ihm die Volkssprache nicht gut genug erschien, die hochdeutsche er aber nicht beherrschte. In den Jahren seines Studiums war er seinem Volke fremd geworden. Das soll anders werden. Wir sind überzeugt, daß die Sowjetregierung den Zirkel unterstützen wird. Wir bedauern sehr, daß wir unser eigenes Presseorgan in Saratow nicht besitzen, es fehlt uns an Mitteln und an Papier. Von der im Gebiet der Wolgadeutschen periodisch erscheinenden Literatur seien die sowjetamtlichen „Nachrichten“ genannt, sowie die Wochenschrift „Unsere Wirtschaft“, die verhältnismäßig gut herausgegeben werden. Ich habe meine Mitarbeit zugesagt.

A. Lonsinger.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1922, Nr. 10, S. 3.