Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1923 Nr. 22

Die Deutschen Lehrerkurse in Saratow

Das Schulelend in den deutschen Wolgakolonien 1921/23. — Die Aufopferung der Lehrer und Schüler. — Die Notwendigkeit der Ausbildung neuer Lehrkräfte. — Eine Kulturspende des Hilfswerks der Wolgadeutschen in Berlin. — Warum die deutschen Lehrerkurse im russischen Saratow stattfanden. — Die Erfolge der Kurse unter Leitung der Pädagogen Lonsinger und Konstanz.

Als von Wolgadeutschen Lehrern und anderen Intellektuellen begründet und geleitet, hat das Hilfswerk der Wolgadeutschen die schwere Lage der Schulen in den deutschen Kolonien an der Wolga in den letzten Jahren besonders schmerzlich empfunden. Die alte und, ach, so bittere Wahrheit, daß in Zeiten wirtschaftlicher Nöte die Erziehungsanstalten vor allen anderen an die Beschneidung ihrer Mittel glauben müssen, hatte sich in der Zeit des Bürgerkriegs und der Hungersnot an der Wolga erneut und hart einschneidend geltend gemacht. Am schwersten und trostlosesten war die Lage unserer deutschen Schulen an der Wolga in den Wintern 1921/23. Wer von den Schulkindern zu essen hatte, konnte die Schule nicht besuchen, weil es an warmer Kleidung fehlte. Barfuß und zerlumpt, mit den bösen Merkmalen unbarmherzigsten Hungers im Gesicht, lungerten Tausende deutscher Kinder auf den Straßen. Von 88000 Kindern schulpflichtigen Alters konnten nur 23000 die Schule besuchen. Die Schulgebäude selbst erinnerten an zerfallene Ruinen: die Fensterscheiben eingeschlagen, mit Pappe oder Papier verklebt, die Räume vernachlässigt, weil alle Welt mit dem Hunger zu tun hatte, in den Öfen und Rauchfängen flackerte kein lustiges Feuerlein, sondern heulte der eisige Steppenwind eintönig und unheilvoll. Nur wenige Schulen hielten damals im Laufe einiger Winterwochen ihren Betrieb aufrecht, und der Heldenmut der Lehrer, die ihren Posten tagaus tagein mit hungrigem Magen, abgehärmt und vor Frost zitternd, treu blieben, leuchtet als hehres Licht aus den letzten beiden kalten Wintern zu uns herüber. Und die Seelchen der kleinen Schulkinder, die morgens ohne einen Bissen, ohne einen warmen Schluck im Magen ihr Elternhaus und spät nachmittags die kalte unwirtliche Schule verließen, die Seelchen jener tapferen Kinder in den geflickten Röckchen und Höschen sind heiligste Bilder in dunkelster Nacht.

Aber auch der damals gebotene wenige Unterricht hätte nicht sein können, wenn nicht die Kämpen der Volksbildung, die beherzten deutschen Volksschullehrer ihn, wenn auch mit aufeinander gepreßten Lippen, doch erteilt hätten. Um die Zahl der guten Lehrer ist es bei uns schwach bestellt. Seit 1914 unter härtestem Druck und wie in einer Korkzelle eingeschlossen, seit 1920 größte Entbehrung — konnten sich da ihre Kenntnisse erweitern? Die Zahl der brauchbaren Lehrer mußte erweitert werden, sollte nicht die ganze Schule in den Abgrund getrieben werden. Das Hilfswerk der Wolgadeutschen wollte mithelfen.

Von dem Schulelend aufs härteste ergriffen, beauftragte das Hilfswerk der Wolgadeutschen im vorigen Winter seinen gerade in den Kolonien befindlichen Vorsitzenden, den Mittelschullehrer Herrn Simon Stieglitz, mit den Wolgadeutschen Sowjet-Schulbehörden Fühlung zu nehmen wegen der Veranstaltung von deutschen Lehrerkursen. Die Finanzierung sollte durch das Hilfswerk erfolgen. Die Fühlungnahme zeitigte jedoch kein zufriedenstellendes Ergebnis und so wandte sich Herr Stieglitz an die russische Schulbehörde Saratows und stellte ihr im Auftrage des Hilfswerks folgendes für die geplanten Lehrerkurse zur Verfügung: 123 Pud Roggen, 150 Pud Weizen, 363 Pud Weizenmehl, 50 Dollar und anderes mehr. Die Saratower Schulbehörde, an der einige der sichtbarsten Wolgadeutschen Pädagogen wirken und deren tiefes Verständnis für deutsche Schulfragen und deren loyales Verhalten zu deutschen Schulkräften in den letzten Jahren hervorstechen, nahm sich des Vorschlags mit hohem Interesse an und veranstaltete die Kurse im verflossenen Sommer in Saratow. Das Hauptverdienst für das Zustandekommen der Kurse gebührt an erster Stelle dem bekannten Wolgadeutschen Pädagogen A. Lonsinger, dem Verfasser der verbreiteten Erzählungen „Nor net lopper g’gewa!“ und „Hüben und drüben“, ferner dem vortrefflichen Pädagogen Konstanz. Herr Lonsinger ist in Saratow schon seit Jahren tätig. Beide setzten sich für die Kurse mit Feuereifer ein. Über den großen Erfolg liegen uns begeisterte Äußerungen vor und wir beschränken uns auf die auszugsweise Veröffentlichung eines Briefes des Leiters Herrn Lonsinger vom 24. September d. Js. an das Hilfswerk der Wolgadeutschen. Herr Lonsinger schreibt u. a.:

„Die offizielle Abrechnung erhalten Sie umständehalber erst nach einigen Tagen. Sie werden sich durchaus freuen, denn die zur Finanzierung der Kurse gegebenen Mittel sind nicht verloren gewesen. Die Kurse waren sehr gelungen und haben die Lehrer und uns Lektoren sehr befriedigt. Es wurde innerhalb 6 Wochen Großes geleistet. 224 Vorträge! Wir haben einen für heutige Verhältnisse unerhörten Rekord geschlagen. Wir haben seit der Revolution übermenschlich arbeiten gelernt, wenn es das Interesse der Sache verlangt. Unsere Kurse waren die ersten in diesem Jahr und haben vielen zum Vorbild gedient. 50—60 Zuhörer waren stets anwesend und beteiligten sich rege an der Arbeit. Ich schloß die Kurse mit großer Befriedigung, waren es doch

die ersten wertvollen Kurse für deutsche
Lehrer an der Wolga.

Vor der Revolution konnte man an so etwas gar nicht denken, später waren die Zeiten zu bewegt. Heute war es mit Ihrer Hilfe gelungen, den längst gehegten Wunsch in Wirklichkeit umzusetzen. Unsere Schulverwaltung wird dem Hilfswerk den offiziellen Dank für Ihre Hilfe zukommen lassen, doch auch ich füge hier nochmals meinen wärmsten Dank hinzu.“

Herr Lonsinger gibt im weiteren an, wie die gespendeten Bargelder und die Gelder aus dem Erlös für das gespendete Mehl und Getreide verwandt worden sind. Der bedeutende Überschuß ist für die Gründung einer Schulkooperative nach dem Plan von Herrn Stieglitz, für Kindergärten und zum Ankauf von Schulbüchern verwandt worden.

Mit Freuden und herzlichster Dankbarkeit darf das Hilfswerk der Wolgadeutschen feststellen, daß die Herren Lonsinger und Konstanz und die Saratower russische Schulbehörde sich der Ausbildung wolgadeutscher Lehrer, wie Überhaupt des deutschen Schulwesens in so vorbildlicher Weise glühend angenommen haben. Möge die Saat, zu der das Hilfswerk nach bescheidenem Können beigetragen hat, reiche Früchte tragen!

G. S. L.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1923, Nr. 22, S. 1.