Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1923 Nr. 19

Die Ochrana des Zaren und die Saratower deutsche Volkszeitung

Gleich zu Beginn des großen Weltkrieges 1914 hatte die Zarenregierung die deutschen Kolonisten besonders aufs Korn genommen. Schon kurz nach Ausbruch des Krieges trafen in Saratow unzählige wolhynische Deutsche ein, die vom russischen Armeeoberkommando in der deutsch-russischen Front bemußt worden waren, ihre Dörfer binnen soundsoviel Stunden zu verlaßen. Ins Innere des Landes verschickt, kamen die Wolhynier an die Wolga zu den deutschen Kolonisten dort. Sie sind im großen und ganzen gut ausgenommen worden, obwohl ihre Lage auch in den Wolgakolonien keineswegs beneidenswert war. Es war für sie in ihrem Unglück aber ein Trost, ihr müdes und bespieenes Haupt wenigstens auf deutsche Kissen legen zu dürfen, aus deutschem Munde deutsche Trostesworte zu hören. Die Ungerechtigkeit der Zarenregierung und die brutale Rücksichtslosigkeit des Armeeoberkommandos legten sich aber mit blutiger Härte auch auf die deutschen Kolonisten im Schwarzmeergebiet. Die deutsche Loyalität und die kolonistische Treue zu Rußland, die ritterliche Innehaltung der Staatspflichten wurde mit Verfolgung, Enteignung und Vertreibung belohnt.

Man ist für gewöhnlich geneigt anzunehmen, daß die eigentliche Verfolgung der Wolgadeutschen während des Krieges erst unmittelbar vor dem Sturz des Zaren einsetzen sollte. Dem ist nicht so. Zwar sollte die eigentliche Vertreibung der Wolgakolonisten von ihrem Land und aus ihren Dörfern erst im Frühjahr 1917 verwirklicht werden. Bekannt ist der „Allerhöchste Wille“, den Nikolai II. kurz vor seinem Sturz unterschrieb, wonach wir nach Sibirien verschickt werden sollten. Aber die chauvinistische Drangsalierung des Wolgadeutschtums hatte gleich am ersten Kriegstag begonnen. Die Regierungsbeamten gingen hierbei mit der berüchtigten Ausgefeimtheit der zaristischen Ochrana vor. Mir ist ein Vorfall in der Redaktion der Saratower deutschen Volkszeitung aus dem Jahre 1915 (Frühjahr) in Erinnerung, der das Gesagte überzeugend illustriert.

Ich hatte damals die Stellung eines zweiten Redakteurs der Volkszeitung inne. Die Leitung des durch die drakonischen Pressegesetze politisch völlig farblos gewordenen Blattes lag in Händen des Mittelschullehrers Abels, eines Balten von Geburt. Eines Mittags — ich war gerade allein im Redaktionszimmer — trat nach kurzer Verhandlung im Vorzimmer, wo unser Buchhalter Mons saß, ein kurzer dicker Herr im russischen Ochrana-Schwarz zu mir herein. Man sah ihm auf den ersten Blick den Letten an. Er war wohl an die Dreißig alt. Ich bot ihm einen Stuhl an und fragte nach seinem Begehr. Im Gegensatz zu seiner Gangart und seinem Gesichtsausdruck begann er zitternd und schüchtern, dabei geradezu auffällig lettisch-deutsch sprechend, mit Umschreibungen folgendes zu erzählen:

— Ich komme direkt aus Odessa, wo ich meine Mission mit gutem Erfolg erledigt habe. Ich bin nämlich geheimer Mitarbeiter des Barons Neumann (?) in Riga, der wiederum geheimer Agent der Deutschen Regierung und ein Vertrauter Kaiser Wilhelms ist. Ich habe hier auch gleich den Text eines Aufrufs des Deutschen Kaisers an die Deutschen in Rußland zur Hand. Würden Sie den Aufruf drucken und unter den Wolgadeutschen verbreiten? Das muß aber alles sehr schlau angefangen und recht vorsichtig durchgeführt werden, sonst, kommt die russische Regierung dahinter, müssen wir alle nach Sibirien oder wir kommen an den Galgen. In Riga, überhaupt in den baltischen Provinzen haben Baron Neumann und ich ungefähr 600 000 Rbl. für diese Sache gesammelt, in den deutschen Schwarzmeerkolonien stehen uns an die 800 000 Rbl. zur Verfügung. Alles in allem brauchen wir aber 2 Millionen Rubel. Die jetzt noch fehlenden 600 000 Rbl. müßte ihre Redaktion unter den Wolgakolonisten aufbringen. Das geht doch wohl? Unser Plan ist so, und damit ist auch Kaiser Wilhelm einverstanden: Für das gesammelte Geld werden Waffen angekauft und an die zuverlässigsten Kolonisten verteilt. Auf ein bestimmtes Zeichen aus Berlin hin machen wir Aufstand und ziehen gegen die russische Armee in den Kampf. Deutschland muß siegen, deshalb muß Rußland im Innern vernichtet werden.

Bei den letzten Worten überreichte das Subjekt — es war das doch bestimmt ein Spitzel aus der Ochrana — mir ein schmutziges zerknülltes Stück Papier, auf dem in wiederum lettischem Deutsch mit Bleistift eine wahre Parodie auf einen Kaiserlichen deutschen Aufruf „an meine Söhne in Rußland“ niedergekritzelt war. In dem „Aufruf“ war von der deutschen Treue die Rede, von der Notwendigkeit, das deutsche Heer in seinem heldenhaften Kampf durch Aufstände im Rücken der feindlichen Armeen zu unterstützen, von der Dringlichkeit des Untergrabens des „russischen Erbfeindes“ usw., usw. Man solle Baron Neumann und seinen Gehilfen volles Vertrauen schenken und ihren Ratschlägen folgen.

Ich war damals noch nicht 22 Jahre alt und hatte besonders mit der Geheimpolizei nie etwas zu tun gehabt. Niemand wird es mir also verargen, daß ich ratlos war. Daß ich es mit einem Agenten der zaristischen Geheimpolizei und mit einem heimtückischen Menschen zu tun hatte, darüber war ich mir klar. Aber wie ihn anfassen?

Aus meiner Verlegenheit, die keine Sekunde hätte länger andauern dürfen, rettete mich Abels. Im Augenblick der Höchstspannung trat er ein, mein erstes war, ihm den „Aufruf“ zu geben, er überflog ihn, sah den Herrn in Schwarz an, sprang auf ihn zu — eine Ohrfeige links, eine rechts —, der Fremde greift nach seinem Hut, ist mit einem Satz zur Tür hinaus und als Abels — rot vor Erregung und Zorn — die Worte „Raus, Lump!“ ausstieß, war von dem verworfenen Menschen schon nichts mehr zu sehen. Alles das spielte sich mit einer Schnelligkeit ab, die den Augen kaum erlaubte, den einzelnen Szenen richtig zu folgen.

Soweit war die Angelegenheit ja „geregelt“. Was aber weiter? Vor uns standen zwei Gefahren: die eine war, daß der Geheimagent uns wegen Mißhandlung zur Verantwortung zieht, die andere, daß der Vorgesetzte des Spitzels, der Saratower Gendarmerieoberst, uns „in die Hand“ nimmt, weil wir den verdächtigen Besucher nicht durch einen Polizisten sofort verhaften ließen, also auch in wirklich gesetzwidrigen Fällen „nicht anders gehandelt hätten“. Die letzte Gefahr schien uns die größere. Wir überlegten also nicht lange, sondern eilten zu dem Polizisten an der nächsten Straßenecke und teilten ihm den Vorfall mit, um für jeden Fall wenigstens die Anzeige erstattet zu haben. Der Gorodowoi war aber anscheinend rechtzeitig von der Gendarmerie unterrichtet worden. Mit der gleichgültigsten Miene und Handbewegung meinte er, das habe nichts auf sich, so etwas verlohne sich nicht der Aufregung, er wolle es aber nach Dienstschluß sicherheitshalber seinem Pristaw melden. —

Es vergingen zwei Wochen banger Erwartung. Da, eines Tages, wird unser Buchhalter zum Gendarmerieoberst befohlen. Am nächsten Tag kam Abels an die Reihe, am dritten ich. Allen drei wurde eröffnet, daß wenn in den nächsten Monaten ein ähnlicher Aufruf, wie ihn der Fremde, „der Hundesohn“, zum Druck angeboten hatte, in den Kolonien aufgegriffen werden würde, wir kurzerhand nach Sibirien wandern müßten. Die Aussicht war nicht besonders verlockend, aber wir ließen uns keine grauen Haare wachsen, weil wir aus der „Eröffnung“ des Gendarmerieobersten deutlich ersehen hatten, daß jener Fremde ihm, dem Obersten, den Vorgang in der Redaktion haarklein wiedergegeben hatte. Denn durch den Gorodowoi hat er es aus dem einfachen Grunde nicht erfahren können, weil wir dem die Sache lange nicht bis ins einzelne geschildert hatten, ebensowenig dem Obersten während der „Eröffnungen“.

Natürlich wurden in den Kolonien keine Aufrufe gefunden und die Angelegenheit schlief ein.

Solche und ähnliche Dinge, aber auch weit niederträchtigere, bis zum Mord an Deutschen einschließlich, sind auch anderen passiert. Man könnte darüber Bücher schreiben.

G. S. Löbsack.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1923, Nr. 19, 1. Beilage, S. 1.