Geschichte der Wolgadeutschen
DER WOLGADEUTSCHE
Unabhängige Zeitung für die kulturelle und wirtschaftliche Förderung des Wolgadeutschtums
1922 Nr. 2

Deutsche Sagen von der Wolga.

Nacherzählt von G. S. Löbsack.

Die Kirgisenschlacht.

In einer dunklen Herbstnacht, wenn der Sturm durch die Wälder bläst und auf den Steppen die Wölfe zu heulen beginnen, kehren sie wieder, die wilden Horden Nurali-Chans und die Reiter Pugatschows. Auf dem Roten Mann, dem Berg, der kahl und niemandes Besitz ist, fechten Kirgisen und Russen immer wieder den Streit aus, der zwar schon lange entschieden ist, die Nachkommen des großen Chans aber nicht ruhen läßt.

Vor vielen Jahren einmal sind die beiden dort oben zusammengestoßen, der russische Räuberhauptmann und der kirgisische Machthaber. Es hat sogleich einen grausamen Kampf gegeben und das Blut ist vom Berge geflossen, in großen Strömen, die den traurigen Fluß, die Medwediza, was zu deutsch das Gestirn des Bären heißt, rot gefärbt und die Gärten und Steppen um Frank her bedeckt hat.

Auf dem Roten Mann geht die Schlacht vor sich. Wilde Reiter jagen über den Berg. Glutrot wie glühendes Eisen. Sie jagen tollkühn, mit fliegendem Gewande, fliegendem Haar, und ihre Steppengäule schnaufen Feuer.

Es ist glutrotes Leben in tiefdunkler Nacht.

Je später die Stunde, desto größer die Reiterzahl.

Die Lanzen zucken, die Säbel sprühen Feuer, die Feuergewehre speien Glut.

Fanfaren glühen: Die Schlacht beginnt.

Fanfaren glühen: Die Schlacht fliegt, zuckt.

Fanfaren glühen: Stichflammen schießen empor. Die Schlacht stockt.

Keine Horden mehr, keine Reiter, keine Pfeile, keine Lanzen, nur noch glühende Masse, glühendes Blut.

Vom Bergrücken fließt es wie Lava, zerfließt, zerrinnt, gleitet dampfend über die Steppe.

Bis zum Morgen dampft die Glut, bis die Sonne rotgolden und weich im Osten aufsteht und die Dämpfe verschwimmen im Licht des tastenden Tages.

Das nächste Jahr wird eine reiche Ernte bringen, sagen die Bauern und blinzeln vergnügt dem Sonnengold zu.

Das Blut der immer wieder aufs neue um ihren verlorenen Besitz Kämpfenden befruchtet das Land, das nun anderen gehört.

Wem?

Den deutschen Wolgabauern.


Der „schwarze Pastor“.

Es war einmal einer, der hieß zu Lebzeiten ein frommer Mann, weil er als Seelsorger beamtet war, und hatte doch mit dem Teufel sein Geschäft gehabt. Er frönte dem Trunk und war somit keineswegs fromm, sondern war eher ein Teufelsknecht.

Vor nun bald hundert Jahren rief er eines Sonntags auf der Kanzel unseren Herrgott um den Erntesegen an und war doch weinselig wie der Landhofers Hannes, wenn er aus der Kawak[1]) kommt.

In derselben Sonntagsnacht starb er. Und weil just in jenem Jahr die Frucht im Garten und auf dem Feld verdorrte, so sagte man, er habe durch sein gottloses Benehmen die Erde entweiht und verkünde Trockenheit, wenn er erscheine. Denn seine Seele könne nicht zur Ruhe kommen.

Heute ist es so damit:

Kennst du das Staubgäßchen in Frank, nahe beim Pastorat? Dort geht er hin und wieder um, in der gleichen Sommernacht, in der er starb.

Der Ilges Jorg hat ihn einmal gesehen. Zuerst kommt ein Rauschen. Dann kommt er selbst. Ist’s dunkel, so sieht man ihn schlecht, ist’s aber helle Mondnacht, so siehst du ihn so gut wie ich dich hier vor meinen Augen sehe.

Warum wird er der „schwarze“ Pastor genannt?

Weil er sich im Talar zeigt. Nur sein Gesicht ist weiß und sein Lätzchen. Sonst ist er schwarz.

Tut er den Menschen was, denen er begegnet?

Rein. Er kann seine Glieder nicht bewegen, er gleitet wie auf kleinen Rädern, ganz langsam, weil es im tiefen Sande schwer ist, vorwärts zu kommen.

Haben ihn auch andere gesehen?

Viele. Frag’ noch den Stoffels Peter, dessen Großvater hat ihn auch gesehen. Das kann ich dir aber nicht so genau erzählen. Ich glaube, er geht nicht mehr so oft um wie früher. Der „schwarze Pastor“ ist schon vor langen Jahren gestorben. Er wird das viele Umgehen wohl schon müde geworden sein. Auch grault sich niemand mehr vor ihm, sondern die Leute lachen nur noch über ihn und über ihre eigne Furcht, selbst die alten Weiber und die Kinder.

Kein Wunder, denn es hat oft gute Ernten gegeben, auch wenn er erschienen war, und schlechte Ernten, wenn keiner ihn gesehen hatte.


[1] Kawak — vom russischen Kabak — die Kneipe.


Der Wolgadeutsche, Berlin, 1922, Nr. 2, S. 5, 6.