Geschichte der Wolgadeutschen

DAHEIM

EIN DEUTSCHES FAMILIENBLATT MIT ILLUSTRATIONEN


Deutsches Leben an der Wolga.

Von Ferdinand Mühlbaum.

Es gibt viele wunderliche Gedanken auf der Welt, aber der Gedanke, ein paar Tausend Deutsche zum Schutz des Wolgastromes herbeizuschaffen, gehört wohl zu den wenigen in dieser Art. Fern von ihrer Heimat, von einer großen slawischen Welt getrennt, leben diese Deutschen und bilden ein kleines Reich für sich, ein Büschelchen Gras, das von einem fremden Samen aufgegangen ist. Sie haben schon längst ihre Bedeutung als Pioniere verloren und leben nun wie ein Fremdkörper unter den Russen, die sich halb wundern, halb über das „wuchernde Unkraut" ärgern. Mit allen Mitteln suchen sie diese Leute an sich zu ziehen und in sich aufzulösen, aber es hilft nichts. Wie ein fernes Getöse geht das slawische Leben an ihnen vorüber, sie begreifen es nicht, sie reden eine andere Sprache. Aber der Boden und die Luft haben allmählich eingewirkt und manchen ihrer Gesichtszüge ein slawisches Gepräge gegeben — etwa die breite Sorglosigkeit oder die große Sinnlichkeit.

Wenn in Deutschland sorglos die ersten Veilchen blühen, hebt sich die Sonne nur mühsam über die kalten Schneefelder und weiten Ebenen Rußlands und entblößt ein halb kultiviertes, sich selbst überlassenes Land, mit vielen Rissen und Furchen, wie das Gesicht eines Abenteurers. Nur allmählich tauen die Schneefelder auf und ordnen sich zum Zuge in die großen Ströme, die ganze Wälder überfluten und breit und gewaltig daliegen, als wären sie ewig ruhende Seen.

Man muß viele russische Städte und Dörfer durchwandern, bevor man zu dem Flüsse kommt, der der größte und wunderlichste von allen ist und an dem die 650000 Deutschen leben, für die man sich jetzt in Deutschland zu interessieren beginnt. Zu beiden Seiten der Wolga haben sie sich niedergelassen, ziemlich dicht beieinander, so daß man, wenn man die Stadt Saratow zum Mittelpunkt wählt, eine horizontal liegende Ellipse um sie beschreiben kann. Ganz besonders ist das auf der rechten Seite der Wolga der Fall, wo man ganze Tage lang reisen kann, ohne durch ein einziges russisches Dorf zu komme».

Einerlei, wie sie sich den Eigentümlichkeiten des russischen Bodens angepaßt haben, sie leben dort in schönen großen Dörfern, sei es in der weiten Ebene auf der Wiesenseite oder zwischen den malerischen Hügeln der Bergseite des großen Stromes. Der große Strom, der eine Berg- und Wiesenseite aufweist, hat auch zwei Arten von deutschen Kolonisten — die Berg- und Wiesenseiter. Das sind so gut wie zwei Gegensätze, denn die Wiesenseiter halten nichts von den Bergseitern, und die Bergseiter glauben auch nicht, daß ihre Nachbarn von drüben das Pulver erfunden haben. Wenn draußen in der Welt was passiert, so kann das nur auf der Berg- oder Wiesenseite geschehen sein, denn der große Strom redet allen, die um ihn leben, ein, daß er die ganze Welt in zwei Teile teile. Und so ist es denn auch. Wenn Fremde ins Land kommen, so fragen sie die Kolonisten, von welcher Seite sie gekommen sind. Deutschland liegt auf der Bergseite.

Wenn man von Saratow stromaufwärts fährt, kommt man nach einigen Stunden an eine kleine, wunderschöne Stadt, die Wolsk heißt. Die goldenen Kuppeln und Spitzen der Kathedralen leuchten nirgends so wunderbar schön, wie an den Ufern der Wolga. Und was Wolsk davon bieten kann, ist wunderbar einladend und schön. Dazu die sanften Hügel und der freie, leuchtende Himmel — man muß bei Sonnenschein an Wolsk vorbeifahren.

Gegenüber dem Städtchen Wolsk auf der Wiesenseite liegen die ersten deutschen Kolonien. Sie sind wohl die nördlichsten von allen. Wenn man den breiten Strom nicht scheut, kann man auch im Boot hinüberfahren, sonst verkehrt ein kleiner Dampfer zwischen den beiden Ufern. Es ist ein eigentümliches Gefühl, das an einen heranschleicht, wenn man zum erstenmal aus dem Boot steigt und plötzlich von deutschen Leuten umdrängt wird. Man vergißt, daß es slawischer Boden ist und russische Birkenlandschaft einen umgibt, es ist einem zumute, als müsse es auch in Deutschland etwas in der Art geben. Und eigentümlich, man fühlt sich hier heimisch und wundert sich über die Gediegenheit der Häuser und den geschlossenen Eindruck, den man empfangen hat. Wie ein Märchen klingt es, was da in den Zeitungen geschrieben wird, von dem Auswandern der deutschen Kolonisten aus Rußland. So stolz und großartig sieht es bei ihnen aus! Aber es ist eine gewesene Pracht. Allmählich kommt man dahinter: fragt beim Pastor oder wandert durch die breiten Dorfstraßen, blickt hierhin und dorthin. Und dennoch, es erscheint einem komisch, daß das Deutschtum hier verloren sein kann, besonders, wenn man ein paar Tage auf der Landstraße gefahren ist und Kolonie an Kolonie hat emporsteigen sehen. Und man wundert sich, wie man den Blick über ein kleines Ländchen verliert, wenn man von der Karte in die Wirklichkeit schaut und mehr Dinge angehäuft findet, als man erwartet hat. Und man begreift, wie man so sehr der großen Kunst bedarf, die die allzugroßen wie die allzukleinen Dinge in einem Maßstab ausgleicht.

Die Kolonien auf der Wiesenseite machen einen schönen geschlossenen Eindruck. Sie liegen dicht an der Wolga, nur wenige Werst voneinander entfernt, und sehen aus, als wollten sie den großen Strom vor der weiten, endlosen Steppe beschützen. Es sind meistenteils Holzhäuser, verziert und bemalt, ganz wie bei den Russen. Je mehr man aber die Bergseite aus den Augen verliert und weiter in die Steppe hineinführt, verschwinden die Holzhäuser, und man bekommt nur Lehmkaten zu sehen, die gedrückt und zerbrechlich aussehen und einen ärmlichen Eindruck hinterlassen. Und je mehr man ins Land hineinfährt, desto mehr fühlt man die Willkür der Natur und daß dem Bauern nichts übrig bleibt, als für seine Ernte zu beten — so machtlos erscheint er in der gewaltigen Steppe.

Ja, es ist alles gewesene Pracht. — In vielen der ansehnlichen Häuser leben Menschen, die nichts zu essen haben, die hungern müssen. Es ist gewesene Pracht. Denn solche schönen Holzhäuser, mit einen: Blechdach und einer hohen Pforte, baut man schon längst nicht mehr auf den Kolonien. Das Holz ist teuer geworden und rar, und wenn welches da ist, so ist es so dünn, daß man es nur verbrennen oder als Zaungeflecht benutzen kann. Wenn man im Frühling durch die Kolonien fährt, so sieht man überall die Leute an einer schwarzen, weichen Masse beschäftigt, die auf einem freien Platz liegt und mit Pferden geknetet wird. Es ist Mistholz, das gewöhnliche Brennholz der Kolonisten. Wenn die Ernte ausgesät ist, machen sie aus dem Stallmist unter Hinzusetzung von Wasser und Stroh ihr Brennmaterial; das trocknet dann in der heißen Sommersonne zu festen Würfeln und reicht bis zum nächsten Frühling, wenn der Winter nicht allzu hart ist. Aber sie benutzen auch Disteln, die sie im Herbst aus dem Felde ausreißen und hinterm Stall zum Trocknen anhäufen. Diese Disteln liegen in: Frühling überall zerstreut auf der Steppe und kugeln, vom Winde getrieben, wie kleine Männchen über die Felder — kleine, vertrocknete Sträucher. Doch manchmal müssen die Leute trotzdem in der kalten Stube frieren. Es hat eben nicht gereicht. „Mer habe es nicht gewußt, daß der Winter so arg wird, mer habe ja gesammelt, aber es hat nicht gereicht.“

Die Wiesenseiter sind alle Ackerbauern und haben oft den Segen der Erde genossen. Das hat sie stolz gemacht, so daß sie mit Verachtung über die Bergseiter hinwegsehen, trotzdem diese einen höheren Standpunkt einnehmen. Sie säen hauptsächlich Weizen, aber es gab auch eine Zeit, wo sie viel mit Tabak verdienten. Bis zur Kolonie Katherinenstadt entfernen sich die Ansiedlungen nie weit vom Wolgaufer. Dann aber geht es ins Land, in die weite Steppe hinein. Oberhalb Katherinenstadt, die sich durch ihre stattlichen Kornspeicher auszeichnet und an der alle Wolgadampfer anlegen, beschäftigen sich die Kolonisten noch mit Strohflechterei, zum Teil auch mit Fischfang. Da flechtet denn jung und alt den Winter über Stroh — 30 Arschin (1 Arschin = 0,7112 m) zu 4 Kopeken. Man erzählt, daß auf einigen Stellen auch Versuche mit Weberei gemacht worden sind, aber nur mit schlechtem Erfolg. Der Tabakshandel, der früher in Katherinenstadt sein Zentrum hatte, ist durch das Tabaksgesetz von 1881 stark eingeschränkt worden. Zehn Fabriken, wenn nicht mehr, mußten in Katherinenstadt damals eingehen, weil sie keine besseren Tabaksorten, wie das neue Gesetz es verlangte, in der Menge verarbeiten konnten. Aber trotzdem wird noch jetzt unter der Hand Tabak verarbeitet, ja, man bekommt sogar Zigarren zu kaufen, die von Kolonisten gedreht worden sind.

Bald hinter Katherinenstadt beginnt schon die Steppe. Die blauen Berge verschwinden, und es bildet sich ein luftiger Kreis, über den man vergebens hinwegzukommen strebt. Man ist allein und muß sich an die Eintönigkeit der Felder gewöhnen und die verschiedenen Vögel zur Gesellschaft nehmen, an denen die Steppe verhältnismäßig so reich ist. Während man den weiten Himmel vor sich sieht und, von dem vielen Fahren müde, im Wagen träumt, überzieht sich die Steppe mit blauen Seen und ewig fließenden Wassern: blasse Kirchtürme steigen auf, Bäume, Zelte, Häuser — aber wie sehr auch der Kutscher die Pferde antreibt, es ändert sich nichts. Nur daß das Wasser noch lebhafter glitzert und fließt und die Sonne stärker den Durst erregt und große Wolken von braunem Staub unter den Rädern emporwirbeln.

Die Kolonisten hinter Katherinenstadt, Katholiken und Protestanten, leben nur von Ackerbau. Die Siedlungen liegen möglichst an einem Flüsse mit steil herabfallenden Ufern, daß es oft aussieht, als wäre durch ein Erdbeben ein Riß in der Steppe entstanden. Aber trotzdem ist der Wassermangel sehr groß. Denn nur im Frühling, wenn sie aufspringen, jagen die Flüsse schäumend hinaus in die Steppe und überfluten die Ufer. Aber dann legen sie sich tief in ihr Bett oder kehren ganz zurück zu der Wolga. Es gibt auch Brunnen, aber weiter in der Steppe werden auch sie durch den salpeterhaltigen Boden ungenießbar, und da bleibt denn allein das Regenwasser, das nicht allzu reichlich vorhanden ist. Südlich in der Steppe beschäftigen sich die Kolonisten auch mit Obstbau. Trotzdem sie gegen jede Neuerung sind, haben sie sich doch bewegen lassen, künstliche Dämme — Hafdämme — aufzuführen und den Gartenbau zu betreiben.

Hier in der Steppe ist das Leben der Kolonisten einfach. Im Frühling bestellen sie ihre Felder, dann machen sie Mistholz, und ist dies geschehen, so ziehen sie den Sonntagsrock an und sitzen „dischkurierend“ vor ihren Häusern auf den langen Bänken oder machen Nachmittagsbesuche. Und allmählich sorgt der Herrgott fürs Brot, die Ernte wird reif, und bevor ein paar Monate um sind, können sie schon mähen. Dann gibt es wieder Arbeit. Aber es sitzt sich ganz schön vor den Häusern oder am Rande der Steppe, wenn die Sonne mit lieblichem Wasser den Horizont überzieht oder bald diesen oder jenen Gegenstand hinstellt, der nie existiert. Und dann in der Steppe: kein Baum, kein Strauch. Alles ist Weg, alles ist Steppe. Man fährt, wie man will, bald so, bald so. Zieselmäuse sitzen vor ihrem Löchern, schwarze Lerchen picken am Wege, oder es fliegen Saatkrähen auf, oder Adler und Habichte ziehen langsam ihre Kreise. Und so weit man blicken kann, nichts als grüne Weizenfelder. Aber man ahnt, wie das rauschen mag, wenn es groß und stark geworden ist und die Steppenwege verschlingt und wie eine Mauer vor der kahlen, unbebauten Ebene steht, auf der „Dullepane“ (Tulpen) und ein buntes Blumendurcheinander aufziehen, den Frühling zu begrüßen.

Ein spitzer Turm und Windmühlen, die wie beredte Juden mit den Armen fuchteln — das ist eine deutsche Kolonie aus der Ferne. Und dann kommt man näher, muß durch einen halb ausgetrockneten Bach, und immer näher, bis man ganz nahe vor den Mühlen ist und an ihnen vorüber ins Dorf fährt. Die Dorfstraße ist breit, viel zu breit für die niedrigen Lehmkaten, auf denen die Schornsteine so elend klein aussehen, als hätten ihre Besitzer längst den Geist aufgegeben. Auffallend sind auch die Kirchhöfe. Die schwarzen, hölzernen Kreuze machen sich kläglich auf der endlosen Steppe. Kaum eine Blume, die wächst, kaum ein Grashalm, der grünt. Alles verbrannt von der Sonne. Sie sehen von weitem aus wie alte vergessene Nadelkissen, in denen die Nadeln noch drin stecken geblieben sind. Auf der Steppe kann man nur unter einem mächtigen Hügel liegen, den die Wolken streifen und an dem die Hirten ihre zahllosen Schafe weiden. — Die Zäune sind alle aus Weidenruten geflochten, ab und zu trifft man aber auch ein Holzhaus mit einem hohen Tor und einem Plankenzaun. Aber das Holz ist teuer geworden und auch für reiche Leute nicht mehr zu haben. Früher standen hier Urwälder, sagen die Leute, aber die heißgebrannte Steppe weiß längst nichts mehr davon. Verweht und versunken — wer weiß schon wann. Nur manchmal ragen am Horizont schlanke Stämme in die Luft und vermehren sich plötzlich — aber es ist weiter nichts wie wirbelnden Staub. Doch es gibt auch Wälder. Verkrüppelte Eichen und Schlehen, untermischt mit verschiedenem Gesträuch, wühlen ihre Wurzeln in den Staub der Steppe. Irgendwo klafft dann ein Spalt, und tief unten schlummert ein Fluß im leichten Sand. Und auf den Waldwiesen pfeifen die Bienenfresser oder segeln schwalbenartig über die Blumen dahin. Doch ist es nur manchmal, daß Blätterrauschen ertönt und Blütenzeige fächelnd durch die Luft fahren. Sonst ist die Steppe schweigsam — hart und schweigsam. Aber schweigsamer noch ist die Muttersteppe, die nie einen Samen gesehen noch empfangen hat. Halbwilde Nomaden leben auf ihr und düngen mit ihren Herden den fruchtbaren Boden, Zieselmäuse pfeifen vor ihren Löchern, und zahlreiche Habichte ziehen langsam ihre Kreise. Ab und zu finden sich Gerippe gefallener Tiere, Hünengräber erheben sich da und dort, und über alles fährt ein ewiger Wind, und die zarten Silbergräser wehen wie die Bärte erschlagener Hunnen. Und die Sonne kommt langsam von rechts nach links oder von links nach rechts, und es ist manchmal, als führe man Wange an Wange mit ihr. Unwillkürlich wird die Phantasie lebendig und schleppt eine Menge Bilder heran, und man brütet und starrt in die Ferne. Es ist nicht leicht, in der Steppe die Zeit zu vertreiben. Es gehört eine große Arbeit dazu, um sie los zu werden. Aber diese Kolonisten bewältigen sie spielend und ruhig. Sie können nicht denken.

Ich habe manchmal mit meinem Kutscher ein Gespräch anzuknüpfen versucht. „Was ist das für ein Vogel?“ — „Ein Spatz.“ Was grau ist, ist immer ein Spatz — wenn es auch eine Lerche sein mag. Alle anderen Vögel heißen „Ackervögle“, „Wegkätzche“, „Star“ oder „Rabe“. Manchmal zeigt sich auch ein Habicht, das ist ein „Spießer“. Aber es gibt auch Adler. Für sie türmt der Kolonist einige größere Klumpen Erde aufeinander, damit sie sich auf der baumlosen Steppe niederlassen können und lästigen Nagetiere wegfangen. Am besten kennt der Kolonist die Zieselmäuse. Mit ihnen hat er jeden Sommer zu tun. Wasserfässer, von Kamelen gezogen, schleppt er in die Steppe und gießt die Löcher der Mäuse voll, damit sie an die Oberfläche flüchten und weggefangen werden.

Häuser zeigen sich in der Ferne. „Was ist denn das für ein Dorf?“ — Der Kolonist lacht. „Das ist kein Dorf“, sagt er, „das ist ein Russennest. Die Russevieh haben keine Dörfer, die san viel zu dumm und faul. Wenn mer zwanzig Zieselmäus‘ wegfange, fange die nur drei“. Ja, ja, die Russemensche! Aber die ist der Kolonist bis zum Dünkel erhaben. Das ist bei ihm Tradition. Und wenn es noch so unrecht wäre! Wenn der Pastor den Kolonisten seines schlechten Lebenswandels und seiner Faulheit wegen tadelt, so tröstet er sich damit, daß die Russemensche doch noch viel schlechter seien. Wenn der Pastor nur die Russemensche sehen wollte, wie sie nicht arbeiten wollen und Faiertag halten. Aber nein, er tadelt die Kolonisten — und die sind doch wirklich nicht schlecht! Aber der Pastor, der aus der Fremde kommt und nichts von der Bauerei versteht, findet an ihnen immer zu tadeln. Er will sie sogar in der Bauerei belehren, wo sie darin aufgewachsen sind. Und mancher ist wirklich so dumm und geht zum Pastor in die Lehre!

So sind die Kolonisten. Harte Köpfe. Wenn man einen Russen irgendwo in der Steppe festkriegt und mit dem Finger auf die Kolonien weist: „Eta Germania“ (das ist Deutschland) sagt er: „Eta Germania“. Und sagt man weiter: wie sind denn die Leute, wie leben sie? „Ach friedlich, friedlich, bei ihnen ist alles rein und sauber.“ Aber wie lange sind sie schon hier? „Ach“, sagt er, „sie sind schon lange hier — schon vor uns hier gewesen. Eta Germania.“ Freilich sind nicht alle derselben Meinung. Zwischen den Kolonisten und Russen herrscht wenig Verkehr, trotzdem schon einige Kolonisten russisch können. Wenn der Kolonist durch ein russisches Dorf fährt, so fühlt er sich ein wenig ungemütlich. Er grüßt nach links und rechts, trotzdem er den Russen von oben herab betrachtet. Der Russe ist nun eben ein Mensch, der unglücklicherweise da ist und mit dem man sich abzufinden hat. Doch ab und zu kommt es auch vor, daß der eine oder der andere einen Snakometz (Bekannten) im Russendorf hat. Bei dem fährt er denn vor, trinkt ein Gläschen Tee und läßt keine Pferde füttern. Aber das ist selten. Gewöhnlich traut er dem Russen nicht. „Der Russe“, sagt der Kolonist, „hat noch einen Russen im Busen“.

Durchschnittlich ist die Armut in den Kolonien recht groß. Was ihnen die Steppe schenkt, das haben sie. Arbeit gibt es wenig. Aber wenn das Korn gedeicht, dann sind sie reich, unermeßlich reich — und haben alle Mißernten vergessen. Je weiter jedoch die Kolonien von dem segensreichen Strom liegen, desto öfter wiederholen sich die Mißernten — leider von Jahr zu Jahr!

Außer Protestanten und Katholiken sind noch verschiedene Sekten vertreten. Am ärmsten sind die Katholiken — sie sind auch die Zurückgebliebensten. Wenn die Feldarbeiten ausgehört haben, gibt es ganze Dörfer, die mit einemmal leer werden. Ihre Einwohner vernageln Türen und Fenster und ziehen in die Stadt oder in die abseits gelegenen Russendörfer. „Auf Verdienst“, wie sie sagen — das heißt um zu betteln. Die besteingerichteten Kolonien haben die Mennoniten. Sie werden dort vielfach die „Preußen“ genannt, sind nüchtern und arbeitsam und haben sich jeden Fortschritt zunutze gemacht. Zum größten Teil sind sie reich und leben auf eigenem Grund und Boden, sind allerdings auch später eingewandert als die übrigen Kolonisten. Eine Musterkolonie ist die Herrenhuter Kolonie „Sarepta“, die die Sarpinka-Industrie eingeführt hat und sonst noch durch ihren Senf und ihre Pfefferkuchen bekannt ist. Sie liegt außerhalb des großen Ringes mehr im Süden, bei der Stadt Zarizyn an der Wolga.

Wenn man sich an der großen Steppe satt gesehen hat, und wieder zur Wolga zurückfährt, muß man eine der vielen Haltestellen aufsuchen, an denen die großen Wolgadampfer anlegen. Eine halbstündige Fahrt und man ist auf der anderen Seite der Wolga.

Die Kolonien auf der Bergseite machen im allgemeinen einen weniger geschlossenen Eindruck. Sie sind mehr von Russen umgeben. Lehmkaten kommen so gut wie gar nicht vor; denn auf der Bergseite gibt es Wälder, wirkliche Wälder! Aber trotzdem wird auch hier mit Mistholz geheizt — es reicht eben nicht für alle. Nur der Pastor macht eine Ausnahme. „Was für einen schönen Wald hatte die Russe hier“, sagte mein Kutscher, als wir an einem größeren Dorf vorbei gefahren waren. „Früher konnte sie hacke, wieviel sie wollte — nun hat's die Regierung verböte, nun müsse sie's stehle.“

Auf der anderen Seite der Wolga! Schon die Luft tut wohl, die sich nicht so trocken auf die Brust legt, und die malerischen Hügel, an denen man vorüber fährt, bieten viel Abwechslung. Das Land ist fast ebenso wie in Hessen oder Westfalen, nur die Hügel reden eine andere Sprache. Sie bieten nicht einen so lieblichen Anblick, sie sind durchtränkt und zerwühlt von großen Leidenschaften — von den großen Leidenschaften der Natur. Hunderte von Rillen durchlaufen das Grün der Hügel, und man glaubt die Spuren eines großen Wolkenbruches zu sehen. Die Dörfer unterscheiden sich kaum von denen auf der Wiesenseite, nur daß sie malerischer aussehen und die Häuser gedrängter zusammenliegen. Man sieht hier viel Russen, zwischen denen sich die Deutschen sonderbar ausnehmen. Besonders, wenn man das bunte Volk von den hohen Ufern herab sich zu den Haltestellen der großen Dampfer drängen sieht, alle Farben durcheinander, nur die Deutschen in langen schwarzen Röcken und mit ehrbaren Gesichtern.

Manchmal sieht es freilich auch auf der Bergseite recht einsam aus. Aber wenn keine Bevölkerung da ist, so sind auch die Bäume eine Art Bevölkerung. Mit katzenartiger Zähigkeit schlagen verkrüppelte Eichen ihre Wurzeln in die Hügel und bilden einen eigentümlichen Wald, ein Grün, das sich in der Hitze des Tages ausnimmt wie ein Paradies. In manchen Gegenden gibt es viele Obstbäume. Eines Abends bin ich wohl eine ganze Stunde durch einen Blütenwald gefahren. Doch eigentümlich ist es, wenn die Sonne durch die grünen Blätter sieht, wie durch zitternde Daunen, und sich plötzlich alles verdunkelt, als hätte jemand eine Handvoll Staub in die Luft geworfen. Und es wird still und heiß, und die Sonne wird immer kleiner, als wäre sie ein Knäuel, der sich losgewickelt hat. Und dann sinkt eine Glut ins Gras, es wird schwül, und die Halme und Blumen vertrocknen zu Heu. Wenn man an solchen Tagen durch die Steppe fährt und sich einer deutschen Kolonie nähert, ist das erste Erkennungszeichen immer der Kirchturm. Und es macht einen sonderbaren Eindruck, dieses grüne Blechdach zu sehen, den überall gleichen Turm mit dem unvermeidlichen Glockenstuhl daneben. Fast sieht es aus, als hätten die Deutschen die Bauart von den Russen übernommen, aber in der Nähe von Salzbrunn in Schlesien gibt es gerade solch eine Kirche, mit gerade solch einem Turm.

Menschen, die länger in den Kolonien gelebt haben, können leicht einen Bergseiter von einem Wiesenseiter unterscheiden. Man merkt es nicht nur an der Sprache, sondern auch an der Kleidung und sehr oft am Schuhwerk. Einmal erzählte mir ein Pastor auf der Wiesenseite, daß seine Magd deshalb ihren Bräutigam nicht habe nehmen wollen, weil er ein Bergseiter war. Die Bergseiter genießen sogar Schwarzbrot, sagen die Wiesenseiter und schließen die Augen.

Die Hauptpersönlichkeiten in einem Dorf, das manchmal an 1000 Seelen hat, sind: der Pastor, der Obervorsteher, der Vorsteher, der Kolonieschreiber, der Küsterlehrer und der Lehrer — bisweilen ein Russe. Dazu gehören wohl noch die Kaufleute und die Großwirte. Einen großen Druck üben die sogenannten Kulaki (Fäuste) aus. Es sind zum Teil Großwirte, zum Teil Kaufleute, die die Armut ihrer Mitmenschen ausnutzen. Sie pachten von den Ärmeren das Land und lassen es für die Hälfte des Ertrages bearbeiten.

Haben die Kolonisten ihre Felder bestellt, so eilen sie schon zu ihren Sarpinkafabrikanten, um sich Arbeit geben zu lassen. Die Sarpinkafirmen haben ihre Zettelstuben fast in jedem Dorfe. Große Familien arbeiten an 3—4 Webstühlen. Damit verdienen sie soviel, daß sie ihren Unterhalt bezahlen können und nicht gezwungen sind, ihr Korn gleich im Herbst zu verkaufen. Sarpinka — der Name kommt von der Herrenhuter Kolonie Sarepta — ist ein leichter Baumwollstoff, ähnlich wie Seide und wird ausschließlich im Sommer getragen. Außer Sarpinka weben die Kolonisten noch Bumase (Bombasin). Die feinsten Stoffe werden in Balzer hergestellt, wo man mit Jacquardschen Maschinen arbeitet. Neben der Weberei verstehen sich die Kolonisten auch noch auf landwirtschaftliche Maschinen, unter denen sich eine Windigungsmaschine „Kolonistka“ allgemeiner Beliebtheit erfreut. Außerdem werden noch Spinnräder, Feuerspritzen, Messer, Gabeln geliefert. Die Kolonie Goloi Karamysch hat ansehnliche Färbereien und Gerbereien.

Es ist vielleicht bekannt, daß die Deutschrussen an der Wolga sich nur mit Not und Mühe seßhaft gemacht haben. Ein alter Schulmeister schreibt darüber: „Es ging damals sehr ärmlich in der Bauerei, fürs erste erhielten die Leude wilte Pferde, und fürs zweide war mancher kein Bauer in Deutschland und wußte nicht mit Pferden umzugehen. Und fürs dritte war im Betreute kein Preiß, ich kann mich noch erinnern, daß man das Maaß Haber zu zwey Kopeka und ein Denisch (halber Kopeken) verkaufte. Als derselbe auf 5 Copie kam, sah man sich etwas beglückt. — Im ersten Jahr wurden nur wenig Häußer erbaud, daher mußten sich die meisten im ersten Winter in Semalinken (Erdhütten) behelfen. Da nun die Minder in den ersten Jahren sehr kalt und mit vielem Schnee gesegnet waren, so läßt es sich leicht denken mit waß für einer Wehmuth mancher wird an sein liebes Vaterland zurückgetacht haben, wo es viel gelinder war.“ — Der größte Teil der damals, vor 150 Jahren, Ausgewanderten bestand aus einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft, die so gut wie gar keine Interessen für die Landwirtschaft hatte. Es waren entweder Handwerker oder fahrendes Volk, das sich nach Abenteuern und großen Reichtümern sehnte. Über den ersten Versuch, in der neuen Heimat zu säen, wird folgendes erzählt: Zwei Kolonisten hoben eine große Haustür aus den Angeln und trugen sie aufs Feld, und ein dritter ging hinterdrein und schleuderte die Körner dagegen, damit sie nach allen Seiten auseinander sprangen.

Sechzig Werst von Saratow, in lieblicher Hügellandschaft, liegt ein Dorf — ein Dorf mit 10000 Seelen. Auf einem Hügel, der jetzt mit Eichengestrüpp bewachsen ist, hatte Pugatscheff sein Lager aufgeschlagen und die Kolonie zum größten Teil zerstört. Was sich retten konnte, war in die damals noch dichten Wälder geflüchtet. Ich stand mit dem jungen Pastor auf diesem Hügel und sah auf das Dorf, das sich durch das ganze Tal hinzog. Es war wie eine kleine Stadt. Unten läutete das Glöckchen, und der Abend schob seinen grauen Flügel wie eine Fledermaus über den Horizont. Die Schatten verdichteten sich, wie Spinngewebe, die Staub gefangen hatten, und die Sonne lag wie eine zerdrückte Beere auf der Erde. Maikäfer kamen und fielen über die jungen Eichen her, und während sie wie ferne Flintenkugeln schwirrten, besprachen wir die Lage der Kolonien und stiegen langsam von diesem historischen Hügel hinunter ins Dorf. — So ist eins übers andere gekommen und hat das Wachstum der Kolonien gehindert, nicht zu vergessen die große Hungersnot von 1887—92.

Die Kolonisten auf der Bergseite sind die weniger Verwöhnten. Sie sind eher mit schlechter Kost zufrieden als die Wiesenseiter. Wenn man dem Wiesenseiter Roggenbrot gibt, so hat man ihn beleidigt. Neben Weizen und den üblichen Getreidearten werden auch Flachs, Hanf und Sonnenblumensamen gesät. Das Land gehört, wie überall im Innern Rußlands, der Gemeinde. Es wird je nach Abmachung in einem Jahr, in drei oder zwölf Jahren umgeteilt, und zwar in so viel Teile, als männliche Seelen im Dorf sind. Nur der Hausplatz und der Gemüsegarten bleibt derselbe. „Mer san so und so viel Dusch in der Kolonie“, sagen die Bauern. Darum ist es sehr wichtig, daß eine Familie möglichst viele männliche Seelen hat, und wenn sie noch so klein sind. Eine Familie, die nur Mädchen hervorbringt, nagt fast wie am Hungertuch. Die Mädchen erhalten erst, wenn sie arbeitsfähig sind, eine Bedeutung. Ein Knabe bedeutet schon bei seiner Geburt einen bestimmten Wert. Sobald er geboren ist, läuft der Vater zum Kolonieschreiber und holt ihm eine „Dusch“. Den Mädchen gibt der Herrgott eine Seele, und das ist alles. Der Knabe bekommt aber noch eine zweite „Seele“ — und das ist sein Land.

Unter sich leben die Kolonisten wie alle Deutsche nicht sonderlich friedlich. „Es lebt sich hier ganz schön und gut“, sagte mir ein alter Kolonist im Kaukasus, „aber mer san so uneinig, so furchtbar uneinig“. Dabei verzog sich sein Gesicht in hilflose Falten. Ebenso ist es auch hier. Wenn man einem Kolonisten etwas zu tun zumutet, so sagt er: „Die Gemaa, die Gemaa muß es machen!“ Soll eine wichtige Versammlung abgehalten werden, so stimmt gewiß einer aus Trotz dagegen. „Na, mi wolle nit. Dos war ach frieher nett. Das is unsern Herrgott fiergegriffe. Ich gew kaan Copie! Was mach ich mir dras, die kenn a seen, wie sie fittig werden.“ Auch mit den Schulen geht es drum langsam. Das Geld will nicht zusammenkommen. Da heißt es immer: „Mer san noch zu arm, mer kaan es nicht bezahle.“ Und so schiebt es die eine Generation auf die andere — und sie werden immer ärmer und ärmer, von Jahr zu Jahr.

In ihren Sitten sind die Kolonisten vollkommen deutsch geblieben, nur die Volkslieder sind verschwunden. Die Mädchen bekommen einen „Maibaum“ zu Pfingsten von ihrem Bräutigam, auch wohl einen „Butzemann“, einen Strohwisch auf das Dach, wenn sie einen abgewiesen haben. Die gewöhnlichsten Namen sind: Hann Peter, Marie Katherin. Die Namen Hann und Kathrin sind geradezu unvermeidlich, jeder trägt sie. Fragt man einen Kolonisten, wie er heißt, so sagt er gewiß: Hann Georg oder Hann Peter, niemals aber seinen Familiennamen. Er nennt ihn erst, wenn man ihn fragt, wie er sich schreibt. Auch ihren Aberglauben haben sie. Sie glauben noch an Hexen. Und es gibt auch welche. Man braucht nur am Karfreitag in die Kirche zu gehen und sich ein Ei von einem schwarzen Huhn in den Busen zu legen — dann kann man sie alle sehn. Den Rücken zum Pastor, sitzen sie da, eine jede einen Zaubergegenstand vor sich, Ofenplatte, Sieb, Kessel usw., — die häßlichen Gesichter furchtbar entstellt.

Die Stadt Saratow ist der Mittelpunkt des Lebens. Hier treffen sich nicht nur die Pastoren aus dem Lande zu den Synoden, sondern auch Kolonisten der verschiedensten Gegenden kommen hier mehr als  einmal im Jahr zusammen. Sie verkehren in den sogenannten Einkehrhöfen, von denen es ganze Straßen gibt, und bringen ihre Produkte zum Verkauf. Gewöhnlich werden solche Einkehrhöfe auch von Kolonisten unterhalten. Je nach dem Preis gibt es da gemeinsame Pritschen oder Zimmer, wie in einem richtigen Gasthaus. Die Stadt Saratow hat zwei deutsche Kirchen — eine protestantische und eine katholische — und die Hauptstraße heißt die „Deutsche Straße“. Auch das beste Hotel wird von einem Deutschen unterhalten. Weiter gibt es da reiche deutsche Kaufleute, ehemalige Kolonisten, deren Namen weit bekannt sind. Zum Teil sind es Mühlenbesitzer, zum Teil handeln sie mit Webstoffen. Das Ideal eines jeden reicheren Kolonisten ist eine Dampfmühle, und das Verlockendste für einen Mühlenbesitzer ist die Spekulation, das Aufkaufen von Getreide. Ein einziges Hungerjahr kann ihn zu einem reichen Mann machen.

Bei diesen Mühlenbesitzern verdingen sich nun die ärmeren Kolonisten und suchen sich als Schwarzarbeiter und Schlosser durchzuschlagen. So ist allmählich in Saratow der deutsche Arbeiterstand aufgekommen, der gegenwärtig kaum in der zweiten Generation steht. Die Löhne, die die Mühlenbesitzer zahlen, sind sehr gering und können sich mit den Löhnen in Deutschland nicht messen. Aber die Leute helfen sich durch, indem sie das Land auf der Kolonie in Pacht geben und so einen Zuschuß erhalten. Von den 16500 Deutschen, die die Stadt Saratow hat, gehört wohl der größte Teil zum Arbeiterstande. Ebenso gibt es in den Städten Wolsk und Kamyschen deutsche Arbeiter, wohl auch in Zarizyn, Ihrer politischen Gesinnung nach sind sie streng konservativ. Sie gehen oft in die Kirche und halten sogenannte Brüderversammlungen ab. Neuerdings wandern viele nach Deutschland. Das beängstigende Gefühl, daß es in absehbarer Zeit nicht besser wird, treibt sie fort. Die Unregelmäßigkeit der Arbeit richtet sie zugrunde. „Mer sind Rußland müd, mer wolle fort von hier“, sagen sie. Ab und zu gab es wohl auch früher einen, der sich nach Deutschland verirrte, aber es waren immer nur wenige. Jetzt kommen sie in größeren Partien und haben sich zum Teil ganz gut bewährt. Die brennendste Frage ist: „Werde mer unser Brot finde, werde mer was verdiene?“

Man hat viel darüber nachgedacht, wie man den deutschen Kolonien an der Wolga helfen soll. Es wurden sogar Stimmen laut, die behaupteten, daß sie unbedingt dem Russentum verfallen wären — man wollte sie wieder dem Deutschtum zuführen, sie stärken. Und gewiß, es gibt eine Möglichkeit, die Kolonien in ein besseres Fahrwasser zu bringen. Das ist eine normale Abwanderung nach Deutschland und Einführung von Privateigentum. Die Familien hocken jetzt solange wie möglich beieinander und lassen sich vom Großvater oder Vater ernähren. Einer schiebt die Arbeit auf den anderen, denn keiner will für den anderen schaffen. Man hat auch an Ort und Stelle eingesehen, daß das Land (bei dieser Kultur) nicht so viele Menschen trägt, und führt nun den Überschuß nach Sibirien ab. Das ist die große Müllgrube der Völker, dort gibt es noch Land, wo man sich dehnen und ausstrecken kann — aber wozu und zu welchem Ende? Wenn es möglich wäre, mit den Kolonisten die deutschen Ostmarken zu besiedeln oder sie regelmäßig zur Sommerarbeit heranzuziehen, vielleicht würde da ein Funken Unternehmungsgeist und etwas Regsamkeit in ihre erstarrten Anschauungen fallen. (Siehe auch die Veröffentlichungen des Evangelischen Hauptvereins für deutsche Ansiedler und Auswanderer in Witzenhausen a. W., sowie die Jahresberichte des Hilfsausschusses für die notleidenden Deutschen Rußlands, Berlin, Hafenplatz 10, und die Arbeit des Hilfskomitees für deutsche Rückwanderer aus Rußland in Ostrowo.)


Daheim. Ein deutsches Familienblatt mit Illustrationen. – Berlin; Leipzig: Daheim-Expedition (Velhagen & Klasing), 1909, Nr. 32, S. 20-21, Nr. 33, S. 8-9.