Geschichte der Wolgadeutschen

IGOR TRUTANOW

RUSSLANDS STIEFKINDER

EIN DEUTSCHES DORF IN KASACHSTAN


Trutanow, I.: Russlands Stiefkinder. Ein deutsches Dorf in Kasachstan. – Berlin: BASISDRUCK-Verlag, 1992. – 254 S.


VORWORT

Russlanddeutsche – ein Jahrhundertdrama

Die gemeinsame Geschichte der Deutschen und Russen umfaßt eine seit Jahrhunderten währende Entwicklung geistiger Beziehungen zweier Völker, zweier Nationalkulturen und auch die Wechsel- und ereignisreichen Chroniken der Beziehungen zwischen dem Staat Rußland und mehreren deutschen Staaten, die nach 1871 zu einem Reich wurden.

Die Verbindungen zwischen den Völkern gestalteten sich immer dann am besten, wenn Staatsgewalten und tagespolitische Ereignisse am wenigsten auf sie einwirkten. Dagegen verursachten rivalisierende, nationalistische Parteien und Regierungen blutige Auseinandersetzungen, tragische Mißverständnisse, aus denen Völkerhaß und Erbfeindschaft wuchsen. Im Zweiten Weltkrieg, in vernichtenden Kämpfen der verfeindeten Staaten litten die Völker am schwersten. Hitler ließ Juden, Zigeuner und Polen vernichten. Stalin verordnete brutale Vertreibungen von Inguschen, Krimtataren, Tschetschenen, Balkaren. 1941 wurden über Nacht Hunderttausende Deutsche aus der Wolgarepublik, aus der Ukraine und aus dem Nordkaukasus in entfernte asiatische Gebiete verschleppt und dorthin „für alle Zeit" verbannt, Zehntausende kamen in Straflager.

Die Geschichte der Deutschen in Rußland - der deutschen Handwerker, Kaufleute, Beamten, Gelehrten, Künstler, die am Aufbau vieler russischer Städte von Petersburg bis Wladiwostok mitgewirkt hatten, der ukrainisch-, kaukasisch- und Wolgadeutschen Bauern, die Neuland erschlossen und fruchtbare Landwirtschaft betrieben - muß noch erforscht und nachvollzogen werden.

„Rußlands Stiefkinder" ist ein bedeutender Beitrag dazu. Die wahrheitsgetreuen und künstlerisch genauen wie gestochen gezeichneten Menschengestalten, größere und kleinere Zusammenhänge im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben eines Dorfes lassen die wesentlichen Züge der „deutschen Schicksale" in Rußland erkennen.

Dieses Buch ist außerordentlich lesenswert, auch wenn ich persönlich einigen „historiosophischen Spekulationen" nicht folgen kann. Wichtig ist, daß eben ein Russe über die Deutschen in Rußland schreibt. Dabei ist er kein Außenseiter, kein leidenschaftslos distanzierter Beobachter, sondern lebt als Deutschlehrer in einem Dorf, inmitten seiner Kollegen und Freunde, seiner Schüler und Nachbarn. Er bleibt Russe im deutschen Dorf und sein hartnäckiger Einsatz für die Wiedergeburt eines deutschen nationalen Kulturbewußtseins ist unmittelbar von den humanistischen Traditionen der russischen Intelligenzija geprägt. Er handelt und schreibt im Geist von Lew Tolstoj, Maxim Gorkij, Wladimir Korolenko, in dem Geist, der auch in manchen sowjetischen Schulen der zwanziger und dreißiger Jahre immer noch einflußreich blieb. Die Ideen des Internationalismus, die Überzeugungen, daß alle Völker der Erde gleichberechtigt sein müssen, daß Rassismus und Völkerhaß verlogen und verbrecherisch sind, nahmen meine Altersgenossen und Freunde von frühester Kindheit auf. Das waren Grundsätze unserer Weltanschauung. In den letzten Vorkriegsjahren vermengten sich diese Ideen mit betont patriotischen Vorstellungen. Doch im Krieg und nach Beginn des Kalten Krieges wurden sie immer wieder von großmachtchauvinistischen Vorurteilen, Legenden und Parolen verzerrt und verdrängt.

Dagegen denkt und fühlt Trutanow eher so, wie meine Freunde und ich immer dachten. Es geht ihm nicht nur um die Sowjetdeutschen allein, „sondern ganz allgemein um nationale Unterdrückung und Erniedrigung der Menschenwürde und andere Widerwärtigkeiten. Unser Land würde nie frei sein, solange es solche Sklaverei gebe ... Ich bin mit den Sowjetdeutschen, Koreanern, Krimtataren, Meßchet-Türken, Juden, Griechen und anderen politisch und kulturell diskriminierten nationalen Minderheiten in der UdSSR genauso solidarisch wie mit den Türken in Westdeutschland, den Schwarzafrikanern in Südafrika, Ungarn in Rumänien, Arabern in Palästina oder mit den afghanischen Aufständischen."

Igor Trutanows Buch ist das Werk eines herzensguten Menschen, eines zielbewußten Aufklärers und begabten Erzählers. Die Bedeutung dieses Zeitzeugnisses, dieses moralisches Bekenntnisses scheint mir jetzt besonders aktuell zu sein.

Lew Kopelew