Geschichte der Wolgadeutschen
NACHRICHTEN
Rußlanddeutsche Wochenzeitung (Uljanowsk)
Den 13. März 1996 № 11 (148)

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MEIN VATER

In dieser Ausgabe erzählt Leo Loos aus Uljanowsk über das Leben seines Vaters Alexander, der vor 62 Jahren der Chefredakteur der damals im Wolgagebiet erscheinenden Zeitung "Nachrichten" war. Leo Loos ist ein aktives Mitglied der deutschen Gemeinde von Uljanowsk. Der ehemalige Radiotechniker hört regelmäßig die Sendungen der Deutschen Welle und ist ein eifriger Leser der "Nachrichten". Hier folgt die Geschichte von Alexander Loos in den Worten seines Sohnes.

Mein Vater gehörte zu jener Generation, deren Jugend mit der Zeit der Oktoberrevolution zusammenfiel. Mit ihrer ganzen Seele halten die jungen Menschen die Ideale der Revolution in sich aufgenommen. Sie glaubten damals aufrichtig, daß ihre Tätigkeit zum Glück des Volkes sei, und stellten alle ihre jungen Kräfte der Sache der Revolution zu Verfügung. Ihre Schicksale waren tragisch: fast alle von ihnen fielen den stalinistischen Repressalien zum Opfer, viele wurden erschossen, die übrigen verbrachten 18-20 Jahre im Gefängnis oder in der Verbannung, wo viele von ihnen umkamen.

Mein Vater Alexander Loos wurde am 21. Dezember 1902 in der Katharinenstadt (heute Marx) als Sohn des Volksschullehrers geboren. Er hatte auch eine um 3 Jahre jüngere Schwester Irma. Die Geschwister wurden früh Waisen: Als mein Vater erst 6 Jahre alt war, starb seine Mutter im Alter von 27 Jahren an Tuberkulose. 1921, bei der Begleitung einer deutschen Kindergruppe aus dem hungernden Wolgagebiet in die USA starb vom Typhus auch sein Vater. Mein Vater wollte eigentlich auch Lehrer werden. Sein Traum ging aber nicht in Erfüllung. Stattdessen mußte er das Gymnasium aufgeben und sich sein Brot selbst verdienen. Er vervollkommnete seine Kenntnisse durch Selbstbildung.

Die Revolution erreichte ihn in der Stadt Pokrowsk (heute Engels). Dort wurde er zum Sekretär des Komsomolkomitees gewählt. Ende des Jahres wurde er nach Katharinenstadt berufen und arbeitete dort in der Gebietstscheka. Im nächsten Jahr trat er der Kommunistischen Partei bei und wurde zum Sekretär des Gebiets-Komsomolkomitees gewählt. Auf diesem Posten arbeitete er ununterbrochen bis 1928. Er war Delegierter des IV., V., VI., VII. und VIII. Komsomolkongresses und nahm auch am IV. Kongreß der Jugendinternationale in Moskau teil.


Im Jahre 1923 machte die bekannte deutsche Sozialdemokratin 
Clara Zetkin eine Wolgafahrt. In der Marxstadt hatte sie ein Treffen
mit den deutschen Komsomolzen und jungen Kommunisten.
Clara Zetkin in 2. Reihe, 3. von r. Vorne v.l.: Alexander Loos, Reinhard Köln.*)

*) In der Zeitungspublikation wurde einen Fehler begangen. Tatsächlich besuchte Gen. Klara Zetkin
die Republik der Wolgadeutschen am 28. Juli 1925, dabei war sie nur in Pokrowsk. – Anm. von A. Spack.


1925 heiratete mein Vater Emilia Fischer. Ich wurde am 16.01.1926 geboren. Zu jener Zeit wurde die Hauptstadt der Wolgadeutschen Republik aus Marxstadt nach Pokrowsk verlegen. Bald nach meiner Geburt wurde die Stadt in Engels umbenannt. Die Ehe meiner Eltern dauerte nicht lange, 1930 haben sie sich scheidenlassen. Bis 1933 lebte ich beim Vater. Mich erzog eine Kinderfrau, Lydia, eine Deutsche aus einem Dorf unweit von Marxstadt. Lydia kannte kein einziges russisches Wort. Seit 1933 lebte ich dann bei Mutter. Mein Vater heiratete 1935, eine Ukrainerin aus Engels. Aus dieser Ehe stammt meine Halbschwester Irma geboren, die zur Zeit in Saratow wohnt.

1928 wurde mein Vater zum Leiter der Agitations- und Propagandaabteilung des Gebietsparteikomitees berufen.

Im Jahre 1934 arbeitete er als Chefredakteur der Wolgadeutschen Zeitung "Nachrichten". In dieser Funktion leistete er der ersten Konferenz der Wolgadeutschen Schriftsteller Beistand.


Teilnehmer der ersten Konferenz der Wolgadeutschen Schriftsteller:
Zweite Reihe, 4. v.l. Alexander Loos, 1. Reihe v.l. die bekannten
Schriftsteller Andreas Sachs, Gerhard Sawatzki.


Am 21.-26. März 1934 leitete mein Vater eine Delegation, die in Moskau an der 1. Unionskonferenz sowjetischer Schriftsteller teilnahm.

Nach der Arbeit in der Zeitung "Nachrichten" kehrte er zum Amt des Leiters der Agitation- und Propaganda Abteilung des Gebietsparteikomitees zurück und wurde Anfang 1936 zum Direktor des Deutschen Staatsverlages in Engels ernannt.

Im Mai 1936 wurde er jedoch von der NKWD verhaftet. Lange wußte ich nichts über sein weiteres Schicksal. Erst 1956, nach dem XX. Kongreß der KPdSU, erfuhr ich, daß er damals unbegründet als kontrarevolutionärer Trotzkist und Diversant angeklagt und zu 5 Jahren Haft verurteilt wurde. 1956 wurde er rehabilitiert. Gleichzeitig mit ihm wurden 11 weitere Männer verhaftet, die meisten Deutschen, die auch wie mein Vater unbegründet beschuldigt und zu 5 Jahren Haft verurteilt wurden. Einige von ihnen konnten am Leben bleiben und nach 18-20 Jahren Gefängnis zu ihren Verwandten zurückkehren. Der Jugendfreund meines Vaters, Reinhard Köln verbrachte mehr als 20 Jahre an der Kolyma. Seine Familie wußte über 10 Jahre lang nichts über ihn, da ihm jeglicher Briefwechsel verboten wurde. Erst 1956 wurde er rehabilitiert und freigelassen.

Das Schicksal meines Vaters jedoch war anders:

Vor zwei Jahren teilte die Saratower FSB Gebietsverwaltung mir mit, daß er am 25. August 1937 in Moskau zum Tode verurteilt wurde und am gleichen Tag erschossen wurde. Der Ort seines Grabes ist unbekannt. Er war damals nur 34 Jahre alt.

So tragisch war das Schicksal eines jungen Menschen, der alle seine Kräfte der Sache der Revolution widmete. Wir sollten ihm seinen Irrtum verzeihen.