Draußen „uf die Steppe“
Von J. Zorn
Fürsorglich ausgerüstet kommen die Ackersleute, auf ihren hochbeladenen Fuhrwerken thronend, mit weit hinten angebundenen schleifenden Pflügen und rollenden Walzen auf der „Steppe" an.
Steppe! Auch heute noch heißt es bei uns „uf die Steppe fahren", aber wo ist sie — diese zauberische Naturschönheit? — Sie ist schon längst dahin, sie ist der Ländergier, der Boden — Raubwirtschaft, unserem extensiven Wirtschaftler, dem Großgrundbesitzer und Großbauern schon längst zum Opfer gefallen. Denn für diese Land-„Wirte" hieß es von jeher und heißet es wohl auch noch heute: neues Land, frisches Land, jungfräulichen Boden! Und das deshalb, weil sie von Düngen, Grasbau und sonstigen technischen Kulturerrungenschaften der „intensiven" Wirtschaftsweise nichts wissen wollten.
In meiner Kindheit und in meiner Jugend, also noch vor etwa 3—4 Jahrzehnten, war draußen im Felde noch hin und wieder Steppe, ja Ursteppe anzutreffen. Kaum im Felde angelangt, so hieß es ausspannen, die Pferde auf den jungen saftigen Rasen (oder dem Unkraut der brachliegenden Felder) weiden lassen, die Hütte aufschlagen und zum Kochen Vorbereitungen zu treffen.
Ja, zum Kochen! Denn die 2—3—4stündige Fahrt in der würzigen Frühjahrsluft machte die Leute hungrig, ehe sie nur ihr „erstes" (nächstes) Feld erreicht hatten.
Zum Kochen dienen sogenannte „Kochstangen" (bei unseren Nachbarn „Kochböcke" benannt). Es ist das ein Gestell aus 3—4 etwa 2 Meter langen dünnen Stangen, die an einem Ende durch einen Riemen oder auch Draht zusammengebunden sind. In der Mitte hängt ein Feuerhaken, an dem der Kochkessel befestigt wird. Da nun „Weibsleut" beim Ackern durchweg fehlen, so muss das Kochen von den „Mannsleuten" selbst besorgt werden. Das Kochen bereitet ihnen übrigens keine Mühe, denn erstens ist die Speisenauswahl eine höchst vereinfachte, in 2—3 Tage leicht zu erlernende, und dann ist es ja jedes mal ein Genuss, in der würzigen Luft kräftiges und schmackhaftes „Essen" zu bereiten.
Die Essvorräte liegen im „Esskasten" aufgespeichert. Mannigfaltigkeit ist da nicht vorhanden, dafür aber Kraft und Saft: ein Säckchen Weißmehl, eine Büchse (oder auch Fässchen) frischer Butter, ein paar Dutzend Eier, ein Schinken, mehrere Laib Brot (Weißbrot, bei uns leider nur unter dem russischen Namen „Kalatsch"[1] bekannt, und Schwarzbrot bei uns kurzweg „Brot" benannt), wozu dann noch Salz und Gewürz, sowie der eigenartigste „Tee" kam, den Europa kennt. Gemeint sind die gelben trockenen Wurzeln des Lakritzenbaums (Glycyrrhiza), hier kurzweg „Süßholz" genannt.
Die tägliche „Speisekarte" war während der Ackerzeit fast ausnahmslos folgende: Frühmorgens Süßholztee mit „Salz und Brot" („Salz und Brot macht die Backe rot" hieß es bei uns) oder auch Butterbrot, später ein tüchtiges Stück Brot oder „Kalatsch", belegt mit Schinken oder Butter, um Mittag „Kartoffel und Klump" und am Nachmittag oder Abend wiederum Süßholztee, vielleicht auch gebratener oder roher Schinken mit Schwarzbrot usw.
Der „Süßholz" — oder „Stepptee" wird so zubereitet: die zerkleinerte, zerschnittene oder zerstampfte Süßholzwurzel wird in frischem Wasser ein paar mal aufgekocht, und der bittersüße Geschmack des so erhaltenen „Tees" etwas gelindert, bzw. verbessert durch Hineinwerfen eines grünen Büschels sog. „Teegräschen" (Thymian, Thumus) in den Kochkessel, - oder wo es im Felde fehlen sollte — auch etwas frischen Rasens.
Deutsche Wolgakolonisten bei der Feldarbeit.
Die „Kartoffel un' Klump" (in anderen Kolonien Klöß') — die Leibkost des Wolgabauern — stellen gewöhnlich Klöße in der Größe eines Hühnereis dar, vermengt mit weichgekochten Kartoffeln und übergössen mit frischer, gebratener Butter. In den Klößeteig kommen gewöhnlich ein paar Eier.
Diese zwei Speisen, „Klöße" und „Süßholztee", sowie „Kraut und Brei mit Schweinefleisch", müssen wohl als die weitverbreitetsten, beliebtesten, „volkstümlichsten" Bauernspeisen in deutschen Kolonien betrachtet werden.
Tische, Bänke oder Stühle gibt's auf der Steppe natürlich nicht; es wird auf dem Erdboden — sei es auf grünem Rasenteppich oder aber in der Hütte auf dem harten „Banschul" — gegessen. Gegessen nach Nomadenart mit untergeschlagenen Beinen oder auf den Knien hockend! Teller, Gabeln und Messer für jeden, gibt es ebenfalls nicht: alle essen und trinken aus einem Gefäß: dem Kochkessel, wobei sie sich sowohl beim „Klumbessen" als auch beim „Süßholztee-Trinken" eines hölzernen Löffels (keinesfalls aber einer Gabel oder Tasse) bedienen! Diese Steppensitte hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Ja, nicht „draußen" allein! Existiert doch mehrerorts das festgewurzelte, fast an Aberglauben grenzende Vorurteil, dass „Steppenklumb", wenn auch zu Hause in der Küche gekocht, wo Tische und Bänke, sowie Teller und Gabeln doch jedem zur Verfügung stehen, immerhin auf dem Fußboden genossen werden müssten. Und zwar gemeinschaftlich und unmittelbar aus dem — Kochkessel! Dass dieser Anblick einer in allen möglichen unbequemen Stellungen um den verlockenden Kessel herumhockender kinderreichen Bauernfamilie ein höchst sonderbarer, wenn nicht komischer sein muss, ist ja selbstverständlich. Selbstverständlich aber auch, dass an diesem Vorurteil zu rütteln bisher verloren« Liebesmühe war und ist.
Das Heizmaterial (hier „Brand" genannt) zum Kochen wird nur zum Teil von zu Hause mitgebracht, hauptsächlich müssen für seine Herbeischaffung die Jugend draußen, an Ort und Stelle, sorgen. Ein so eigenartiges Heizmaterial, von dem der westeuropäische Bauernjunge auch keine Ahnung hat!
Das Herbeischaffen des „Brandes" verschaffte uns Jungen statt Mühe den größten körperlichen, und wie wir sehen werden, auch geistigen Genuss. Es bestand darin, dass wir, ich und meine Nachbarkameraden, ein jeder mit einem großen Sack in der Hand, täglich, wenn schönes Wetter war, ein- bis zweimal querfeldein in die umliegenden Steppen hineinliefen, dort auf dem grünen Rasenteppich Bocksprünge machten, hin und wieder aber stehen blieben und uns bückten, um den verlangten Brand aufzulesen.
Getrockneter Pferdemist vom vorhergegangenen Jahre, hier „Knittel" oder „Knottel" benannt, dies war der für jedermanns Gebrauch da zerstreut liegende und mühelos und unentgeltlich zu habende „Brand". Sobald die Säcke voll waren, ging es zurück zu den Unsrigen, zum Acker.
Dass es bei dieser, im wahrsten Sinne des Wortes „prosaischen" Beschäftigung — beim „Knittelsammeln" bei uns Bauernburschen zu fortwährenden sentimentalen Durchbrüchen kam, als deren Ausdruck die hellen Jubelrufe und die possierlichen Bocksprünge zu gelten haben, muss als Beweis dessen aufgefasst werden, dass der Zauber, den die Natur auf das menschliche Gemüt — auch auf das eines simplen Bauernjungen! — ausübt, ein gewaltiger ist.
Zwar ist der Bauer im allgemeinen nichts weniger denn sentimental veranlagt, wenn aber im Frühling irgendwo im Geäst des Bauerngarten verborgen die Nachtigall ihre frohlockenden und schluchzenden und lockenden Töne in der Abendstille weithin erschallen lässt, oder wenn nach dem monatelangen winterlichen „Am-Ofen-sitzen" in seiner dumpfen verpesteten Stube der Bauer auf einmal hinaustritt in den Hausgarten und dort die Blütenpracht erblickt und ihren zarten Duft einatmet, so ist es — für einen Augenblick wenigstens! — mit seiner Gelassenheit seinem Nützlichkeitssinn dahin; geradezu andächtig lauscht er den herzbewegenden Tönen der königlichen Sängerin; mit Wonne saugt er den köstlichen Blütenduft ein! Und nun gar der mächtige Zauber der Steppe! Was könnte auf Herz und Gemüt des Bauersmannes, der mit der Mutter Erde, mit Grund und Boden so eng verwachsen ist, wie kein anderer Beruf, eine tiefere Einwirkung üben, als die „Steppe", d. h. die Natur in ihrer von Menschenhand noch unberührten Schönheit und Jungfräulichkeit?
Ja, im Anblick der Natur, mit der er, der Ackersmann, körperlich und geistig und seelisch aufs engste verbunden ist, mit und in der er lebt und kämpft, solange er atmet, da kann dieser, scheinbar nur fürs unmittelbar Nützliche, Vorteilhafte, Praktische, Prosaische lebende Mensch mit einemmal warm, gefühlsvoll, ja begeistert werden.
Mit zu den schönsten, wirkungsvollsten, urkräftigsten Eindrücken meiner Kindheit und Jugend gehört die, möchte ich sagen, wahlverwandtschafliche Anziehungskraft auf uns Bauersleute des mühevoll umgewälzten frischen, noch dampfenden Ackers mit seinem würzigen, kräftigenden Erdgeruch und nun gar der herzerfreuende Anblick der hellgrünen jungen Saaten und der goldenen Wogen des erntereifen Getreidefeldes! Diese Momente der — wenn man will — Naturschwärmerei unseres Bauern waren naturgemäß nur selten; dazu waren die Feldarbeiten vor 3—4 Jahrzehnten zu hart, zu sauer, zu absorbierend! Es war das geradezu eine verteufelt harte Arbeit, — das damalige Ackern, von dem der „moderne" Landwirt sich gar keine Vorstellung mehr machen kann, der sich von seinen vervollkommneten Maschinen bedienen lässt.
Kelka, 1928.
Eine harte, fast unbezwingliche Arbeit sowohl für Mensch als auch Vieh!!
Die drei vorgespannten Pferde hatten große Müh, den zwar einscharigen, aber tief und breit greifenden hölzernen Pflug in stetem Schritt vorwärts zu bewegen, während der Ackersmann nicht (wie jetzt) frei neben dem Pflug herlief, sondern genötigt war, die beiden Pflugsterze fest zu umklammern, um mit voller Wucht seines Körpers und seiner Muskelkraft den schwankenden, rückenden, herabrutschenden Pflug niederzuhalten.
Und so ging es — die Frühstücks- und Mittagsruhepause abgerechnet — von frühmorgens bis spätabends, vom Morgengrau an, bis hinein in die Abenddämmerung; schweratmend, keuchend, „flexenkrachend". Und fertig gebracht werden konnte täglich doch nur höchstens 1 Deß. pro Pflug mit Dreigespann.
Etwas leichter hatte es damals der Säemann (gewöhnlich der Familienvater oder älteste Sohn). Den Samen hatte er in einem Sacke, der an einem Riemen oder starken Bindfaden so über die rechte Schulter gehängt wurde, dass das offene Sackende vorne griffbereit zu liegen kam. Indem nun der Sämann langsam, gemessenen — breiten Schrittes den Acker abschritt, holte er mit jedem Schritt eine Handvoll Getreide aus dem Sacke heraus und streute sie mit kunstvollem Schwünge in weitem Halbbogen vor sich aus. Natürlich noch kunstfertiger musste der Wurf bei windigem Wetter sein.
Bei Mittel- und Großbauern galt es als Regel, Ackern, Eggen und Walzen gleichzeitig zu bewerkstelligen. Bei zweipflügiger Wirtschaftsführung war also folgender Pferdebestand nötig: 6 Pferde für die Pflüge, 2 (gewöhnlich 2—2 1/2-jährige Fohlen) für die Eggen und 1 Pferd zum Walzen, Wasser- oder Proviantholen, insgesamt also 9 Pferdekräfte.
Dazu kam dann noch ein „Stallhengst" (für Zucht- und Paradezwecke) sowie mehrere Fohlen.
Der Pferdebestand eines mit zwei Pflügen (nur zwei Scharen!) ackernden Wolgabauern erreichte also damals durchweg die hohe Zahl 10—15. Diese übermäßige Zahl an Pferdekräften, die in den 6 — 7 Herbst und Wintermonaten eine Unmenge Futter verschlangen, dem Bauern aber fast gar nichts einbrachten, war übrigens bedingt durch die Riesenentfernungen der Felder von den Ortschaften. Diese großen Entfernungen waren übrigens gleichfalls schuld daran, dass bei schlechtem Boden, aber gutem Willen — was freilich selten vorkam — die Felder nicht gedrängt werden konnten. — Nur am Sonntage kam Ruhe und Erholung, ein gemütliches Ausruhen vom sechstägigen mühevollen und einförmigen Tagewerke.
Der Sonntag wurde schon dadurch gekennzeichnet, dass frühmorgens sofort nach Sonnenaufgang, gerade wenn hoch in den Lüften die Sängerin der Felder — die Lerche — der segenspendenden Sonne ihr schmetterndes Morgenlied entgegenbrachte, nicht nur, wie üblich, Süßholztee gekocht, sondern auch warmes Wasser bereitet wurde zum Waschen der Ackersleute.
Ja, nur am Sonntagmorgen reinigten wir Gesichte und Hände, während in den sechs Werktagen der Woche unsere unbedeckten Körperteile mit dem reinigenden und erfrischenden Nass nur selten in Berührung kamen! Zum Waschen war es beim Morgengrauen zu kalt, dazu fehlte vor allem die Zeit! (So entschuldigt man sich auch heute noch).
Kaum war das Morgengrauen vorüber, so kamen auch schon die nächsten Nachbarn zu Gast (hier mit dem Worte „spielegehn"). Die „Mannsleut" lagerten sich auf dem grünen Rasen, mit Behagen ihre vom Schlaf und Nachtfrost noch starren Glieder in der immer wärmer werdenden Sonne reckend.
Während so die „Großen" (so werden bei uns die Erwachsenen genannt) gemütlich plauderten und ihre Pfeife rauchten, liefen wir „Kleinen" in die Steppe hinein, um dort entweder zu spielen oder Blumen zu pflücken.
Unser beliebtestes, auf dem weichen Rasen wohl auch am besten angebrachte Spiel war „Huckebuck", wobei wir in einer gewissen Reihenfolge einer über den gekrümmten Rücken der Anderen zu springen hatten.
Einen noch größeren und immer voll und ganz befriedigenden Genuß bot uns jedoch das Blumenpflücken und das Reiten!
Wie — Blumen auf der Ursteppe? Ja, Blumen, Blumen und Blumen! Und zwar Tausende von blauen Glockenblumen (Campanula), vor allem aber Hunderttausende von Tulpen — gelben, roten, weißen, bunten!
Eine Tulpenpracht, die sich gegen das saftige Grün des Riesenteppichs der jungfräulichen Natur weithin leuchtend und schillernd abhebt. Bald kamen gewöhnlich aber auch die „Alten" nachgezogen, um gleichfalls Auge und Sinn an dem herrlichen Naturteppich zu laben und Blumensträuße „for nohem" (für nach Hause) zu „ruppen" (pflücken).
Und nun gar das Reiten! Welch seliges Gefühldurchdrang uns Bauernjungens beim Traben und Jagen ohne Sattel, ja oft auch ohne Zügel!
Gelegenheit dazu bot uns das Reiten nach der Tränke (bei wärmerem Wetter verbunden mit Abschwämmen), das Walzen und Eggen, insbesondere aber das zur Frühjahrs- und Sommerzeit stattfindende „nausreiten uf die Nachtweede".
Günstig gestalteten sich die Futterverhältnisse zur Frühjahrs- und Sommerzeit. Da wurden die Pferde während der Ruhepause sowohl als insbesondere zur Nachtzeit auf die Weide gebracht. Die Weide (Steppe, Brache) lag oft beim Acker, manchmal aber auch ein paar Werst weit davon. Manchmal wurden die Pferde von den Bauernburschen bewacht, in den meisten Fällen grasten sie jedoch ganz allein.
In allen Fällen wurden sie, um sie vor Verlaufen zu schützen, an den Vorderfüßen gespannt mittels „Spannstricken" und „Pferdeschlössern". Das Pferdeschloss bestand aus einer etwa 1/3 Arschin langen eisernen Kette mit dem Pferdefuß angepassten verschließbaren Ringen an beiden Enden.
Abgeholt von der Weide wurden die Pferde bereits bei Morgengrauen. Ja, falls die Weide weit ablag, die Pferde sich also 5—10 und mehr Werst vom Ackerland entfernt haben konnten, ging's noch früher, oft bei völliger Dunkelheit auf die Suche.
Da nun Taschenuhren damals (vor 30—40 Jahren) im eigentlichen Wolga-Bauernhause noch nirgends vorhanden waren, so richteten die Steppenleute sich — gleich den Wüstensöhnen aller Zeiten — am Tage nach der Sonne und des Nachts nach den Gestirnen.
Zwei Gestirngruppen waren es ausschließlich, die uns als „Leitsterne", als Chronometer dienten: der "große Wagen" und die „Harke" (Rechen).
Die Beobachtung der jeweiligen Konstellation dieser Gestirne war für unsern Bauern genügend, um mit hinreichender Genauigkeit die betreffende Nachtstunde zu bestimmen. Bezeichnend für den aufs Praktische, Alltägliche gerichteten Sinn des Wolgabauern sind die Benennungen: der „große Wagen" (statt „große Bär") und die „Harke" (statt „Orion").
Von wissenschaftlicher Astronomie sowie mythologischen Gottheiten und phantastischen Zwittergestalten hat unser Bauer keine Ahnung.
Durchaus vertraut ist er nur mit seinem Leben, mit seiner Natur. So vergleicht er dann die Figuren der für ihn wichtigen Gestirngruppen nicht etwa mit exotischen Erscheinungen und Gegenständen, sondern mit solchen aus seiner engbegrenzten „Bauernwelt": statt „der große Bär" sagt er ganz zutreffend „der große Wagen", statt „Orion" — die „Harke", statt „Plejaden" — „Glucke und Hinkelchen" usw. usw.
Bei Tagesgrauen oder noch früher ging es also auf die Suche nach den irgendwo friedlich grasenden oder ruhenden Pferden. Aber in welcher Richtung suchen?
Nun, das Suchen wurde erheblich erleichtert durch die den unruhigsten Pferden angehängten „Rappeln" (Kuhglocken, Schellen), deren harmonisches Baumeln, durch die fortwährende Kopfbeugung der grasenden Pferde hervorgerufen, vom leisesten Wehen weithin durch die Luft getragen wurde.
Aber nicht immer fand unser Bauer seine Pferde — sein wertvollstes Kleinod! — am Morgen im vollen Bestand vor: das eine oder andere Pferd konnte in der Nachtstunde gestohlen sein.
Der Pferdediebstahl kam in meiner Jugend zwar schon selten, aber immerhin doch noch in allen Kolonien vor. Es war und ist dies bis heutigentags ein Überbleibsel aus älteren Zeiten, wo namentlich die Kirgisen und Baschkiren bei ihren Überfällen nicht nur einzelne Tiere, sondern ganze Viehherden aus unserem Gebiet wegtrieben. Auch uns, meinem Großvater Bär, wurden eines Nachts zwei der besten Pferde von der Steppenweide gestohlen, auf Nimmerwiedersehn — obwohl die Pferde, wie ja unser gesamtes Bauernvieh, gezeichnet waren!
Interessant ist es vielleicht zu wissen, dass bei uns die Pferde mit den Ortszeichen, alle übrigen Haustiere aber mit dem Familien-Zeichen gekennzeichnet werden. Unser Ortszeichen für Pferde war O-R (Orlowskoi). Das Zeichen wurde allen jährigen Fohlen am Oberschenkel des linken Hinterbeines eingebrannt.
Die Rinder, Schweine und Schafe hingegen wurden mittels eines scharfen Instrumentes (Messerchen, Meißel, Pfriemen usw.) am Ohr gezeichnet. Diese Abzeichen waren natürlich in ein besonderes Buch des Kolonieamtes eingetragen.
Als zeitweilige Behausung diente den Ackersleuten bis noch vor kurzem eine Hütte; hier verbrachten sie die kalte Nachtzeit, hierher zogen sie sich zurück — bei Regen — oder Schneewetter.
Es hatten sich einige formen von Steppenhütten eingebürgert. Alle aber trugen immer noch den Stempel ihrer weiten Herkunft an sich: der Behausungen, Hütten, Zelte, Jurten der Ur- und Nomadenvölker!
Die einfachste aber auch ungemütlichste, weil vor Kälte und Nässe kaum schützende, bestand aus einem weißen Zelttuch, das auf einem einfachen hölzernen Gerüst ausgespannt, an der Erde durch kleine Pflöcke befestigt wurde.
Viel praktischer (weil wasserdicht und warm!) waren die eigentlichen „Hütten“.
Zu einer solchen Hütte gehörte erstens ein hölzernes Gestell und dann die das Gerippe umkleidende Hüttenbekleidung.
Das Gestell besteht aus zwei kreuzförmig verbundenen ca. ½ Arschin langen Hölzern, durch deren durchlöcherte Enden eine Riemenschnur oder Draht gezogen ist, an dem ringsherum 20 – 25 zwei Meter lange, dünne hölzerne Stangen lose baumeln.
Das ganze Gestell heißt bei uns kurzweg „Hütenstangen“.
Auf dieses pyramidenartig, mit den befestigten Stangenenden nach oben aufgestellte Holzgerüst kommt dann die warme Hüttenbekleidung aus Leder oder Filz.
Die Hüttenbekleidung – die Filzdecke aus einem einzigen Stück, die lederne aus mehreren, wasserdicht zusammengefügten (genähten) gegerbten Rindshäuten bestehend – ist so zugeschnitten, dass sie das pyramidenartige Gerüst eng umspannt.
Sie hat auf der einen Seite einen etwa 1 Arschin großen Ausschnitt mit Klappe, der als „Eingangstür“ zu dienen hat. Natürlich kann in die Hütte nur „hineingerutscht“ werden. Bei Nacht oder kaltem Winter wird die Klappe über die Eingangsöffnung gezogen und befestigt.
Die obere Öffnung der Pyramide wird ebenfalls durch eine klappe geschützt. Die Nomadenbehausung dient fast nur als Lager, seltener zum Sitzen. Dementsprechend ist dann auch die „Ausstattung“.
Als Grundunterlage dient eine Schicht Heu oder Stroh, aber auch alte Kleidungsstücke, auf die dann die Kissen zu liegen kommen. Decken und nun der Bettlacken gibt’s auf der Steppe natürlich keine. Es ist zur Ackerzeit des nachts noch so kühl, dass die Ackerleute angekleidet schlafen; entfernt werden nur Mützen und Stiefel.
Als Decken dienen die warmen Schafspelze, die gewöhnliche Winterbekleidung der Wolgabauern.
Das ist die Hüttenrüstung und das Hüttenleben „uf die Steppe“.
An Stelle dieser ihrem Ursprunge und teils auch ihrer Form nach uralten „Nomadenhütten“ traten in den letzten zwei Jahrzehnten vor dem Kriege die auf einem Wagengestell montierten, also fahrbaren, sogenannten „Kamelhäuschen“ ähnlich Hundehäuschen, nur etwa vier- bis fünfmal größer.
Diese Neuerung hängt eng zusammen mit der vereinzelten Einführung der Einzelwirtschaft (Parzellen- oder Weilerwirtschaft) und dem allmählichen Verschwinden der alten „Steppenbilder“ und „Steppenbräuche“...
Da es keine Grenzpfähle zwischen den Land-(Seelen-) Anteilen gab, so mussten die grenzen zwischen den Nachbarsfeldern durch eine tiefe Furche, das Landstück selbst oder durch irgend ein ebenfalls geackertes Merkmal an den Gewannenden gekennzeichnet werden. Unser Zeichen war eine Doppelschlinge oder liegende „8“ (∞). Andere Wirte zogen mit dem Pfluge ein Dreieck (∆), einen Bogen (~) usw. usw.
Kelka, 1928.
„Nochem!“ (Nach Hause.)
Wenn schon das „Uf die Stepp machen“ für den Bauersmann ein Erwachen von langem Winterschlaf, ein neues Hoffen und Sehnen bedeutete, so war die Heimfahrt nach langer Abwesenheit eine noch viel freudigere, hoffnungsvollere, gehobenere.
Man denke doch – die harte 2-3 wöchentliche Arbeit war getan, - die härteste ( und folgenschwerste zugleich).
Der Samen war – zwar mit wenig Kunst, dafür mit großer Mühe! – unter die Erde gebracht und damit war nach althergebrachter und festgewurzelter Anschauung des Bauern alles getan; für das Übrige, für Gedeihen und Misslingen hatte ja Gott zu sorgen!
„Wie Gott will“,
„An Gottes Segen ist alles gelegen“
„Was Gott tut, das ist wohlgetan...“,
so hieß es beim Wolgabauern von jeher.
Und das war sein fester, naiver Kindesglaube. So heißt´s vielfach auch noch jetzt.
Die sauerste Arbeit war also getan. Jetzt konnten die Bauersleute wieder mit Sack und Pack nach Hause ziehen.
Sie hatten ihre Hütten, oder Zeltlager an 3 - 4 Stellen aufschlagen müssen; im ersten Felde (10 – 12 Werst vom Orte entfernt), im zweiten (15 –20 Werst entfernt), im dritten (30 – 50, ja noch weiter draußen liegend).
Nun geht´s endlich zurück, „noheem“.
In vielfacher Beziehung eine fröhliche Fahrt! Und zwar nur für uns Jungens!
Denn wenn beim „Hinausfahren“ die Felder noch grau oder verunkrauter dalagen und die Steppe kaum grünte, so hüpfte einem nun das Herz im Leibe beim Anblick der schon grünenden, saftigen Saaten und der bereits völlig erblühten blumigen Steppe. Dabei als ständige „musikalische Begleitung“ das Jubilieren, das Frohlocken, das Jauchzen der lieblichsten „Sonnenanbeter“ – der Lerche!
Und zu Hause erwarteten uns reine und warme Stuben, weiche und warme Betten, Abwechslung im Essen („Riwwel“ – „Schmand“ – „Käsekuchen“, „Kreppel“ und sonstige Leckerbissen), aber auch Körperreinigung und frische Wäsche.
Und nun gar der nächste Kirchenbesuch in Sonntagskleidern und darauf die gewünschte Leibkost und am Sonntag - Nachmittag und – Abend „Spillengehen“ (zu Besuch gehen).
[1] Das trifft auf viele Kolonisten nicht zu: dort heißt das Weißbrot — Kuchen!
Wolgadeutsche Monatshefte, 1924, S. 135-136, 154-156.