Geschichte der Wolgadeutschen
Deutsche Post aus dem Osten
Herausgegeben von Adolf Eichler und Carlo von Kügelgen
Nr. 12 Dezember 1928

Deutsche Weihnacht bei den Wolgakolonisten

Der Jugend erzählt
von Peter Sinner, Leningrad

Glücklich der Mensch, der eine frohe Kindheit im eigenen trauten Heim auf dem Lande verbringen durfte. Er bleibt sein ganzes Leben hindurch reich. Wenn der Ernst des Lebens in reiferen Jahren an ihn herantritt und die Lasten und Widerwärtigkeiten des Alltags allzuschwer auf seine Schultern drücken, kann er in sich hineinschauen und glückliche Kindheits- und Jugenderinnerungen in seinem Innern aufleben lassen, sie geben ihm dann Stärkung und Halt. Auch mir war es beschieden, meine Kindheit und Jugend auf dem Lande, in einem deutschen Wolgadorfe, zu verleben. Und ich will euch, meine jungen Freunde, ein paar Schätze aus meinem Kästlein herausholen. Es sind schlichte Bilder aus den "hohen Festzeiten" meiner Jugend.

*



Das schönste aller Erlebnisse meiner Kindheit war Weihnachten. Dieses gruselig-glückseligkeitsvolle Fest leuchtet am allertiefsten in meine Kindheitserinnerungen hinein.

Christabend. Lichterloh brennende Miriaden von Sternen. Die ganze Welt verschneit. Große glitzernde, flimmernde Schneeflocken sinken langsam zur Erde nieder. Helle Klänge der Christmettglocken…

Draußen auf den Gassen beginnt ein lustiges, heiteres Treiben: Meine Mutter und ich sind alleine zu Hause, die andern sind noch nicht aus der Kirche heimgekehrt. Wir stehen am Fenster und schauen dem Treiben zu.

Da kommt eine Gruppe von ledigen Mädchen die Straße daher, auf unser Haus zu. In ihrer Mitte eine weiße Gestalt. Das "Christkind". Höchste Erregung. äußerste Spannung. Das Herz schlägt mir so ungestüm, als wolle es zum Halse herausspringen. Jetzt, jetzt…

- Klopp! klopp! - schallt es an die Haustür: "Darf's Christkind hinein?" -

"Eino, kommt rein!" ruft die Mutter.

Da steht sie vor mir, die unheimliche und doch liebliche Gestalt. Meine Knie schlottern, ich muss mich an der Mutter festhalten, um nicht zu fallen. Um nichts auf der Welt brächte ich einen Laut aus der Kehle.

"Ist er unartig?" fragt eine helle Mädchenstimme unter der weißen Hülle hervor.

"No, 's geht mit ihm", meldet sich meine Mutter.

"Lernt er fleißig?"

"Das schon", erwidert die Mutter nicht ohne Stolz.

"Da muss ich meine Birkenrute wegstecken. Die ist nur für Unartige und Faule. Das da ist für Artige."

Das Christkind legt mir ein großes rotbuntes Taschentuch mit Süßigkeiten auf die Hände und eilt weiter in die Nachbarhäuser. Ich bin so sehr erregt, dass es die Mutter viel Mühe kostet, mich abzulenken und zu zerstreuen.

Als nach einiger Zeit die Schwester mit glühenden Wangen heimkommt, höre ich die Mutter resolut sagen:

"Des passeert m'r net meh! Die Kinner in Tod nei verschrecke! Dummheite!…

Draußen auf der Gasse wird's immer lauter. Man hört Ketten rasseln, Kuhschellen bimmeln, Stimmen schallen, Pfiffe schrillen…

Eine Höllenmusik.

Eben zieht eine ganze Schar lediger Burschen und junger Männer vorbei. An ihrer Spitze eine große, schwarze, zottige Gestalt.

"Herrje, was ist denn das?" fragte ich die Mutter, die hinter mir steht, während ich, die Nase an die Scheibe gedruckt, durchs Fenster luge.

"Das ist der "Pelznickel"*). Der geht jetzt bein Hanjörgvetter (unsern Nachbar) und schlägt den alten Lügenfritzen lederweich, weil er die Leut' immer narrt."

"Kommt der auch bei uns?" frage ich, am ganzen Körper bebend.

"Nein, so was darf in unser Haus nicht", beruhigt sie mich. Sie nimmt mich auf den Schoß und beginnt zu scherzen. Aber ich frage und frage nach Zweck und Ursache der geschehenden geheimnisvollen Dinge…

Nach 11 Uhr verstummt die Straße allmählich, und die wunderreiche Geisterstunde tritt immer näher. Der Vater kommt herein, kleidet sich stillschweigend um und geht auf den Hof. Auf einmal höre ich die Pforte knarren. Ich schaue wieder zum Fenster hinaus und sehe den Vater das ganze Vieh: Pferde, Kühe, Schafe an die Quelle treiben.

"Warum tut er das mitten in der Nacht?" frage ich.

"Die Alten sagen, heute und in der Sylvesternacht werde um diese Stunde das Wasser zu Wein. Dieser Labetrank bringe jeder Kreatur Segen. Die Tiere, sagt man, können in dieser Stunde auch mit Menschenstimme reden…

Ich höre, wie unsere Tiere sich im Stalle mit Menschenstimme unterhalten. Eben erzählt die alte schwarze Stute ihre Lebensgeschichte. Bitter klagt sie die Menschen wegen harter Behandlung an. - Solange die Menschen klein sind, sind sie prächtige Tiere, fast so lieb wie unsere Pferdekinder. Aber wenn sie größer sind, werden sie roh und schinden uns… ja, Kinder, bittere Erfahrungen musste ich mit den Menschen machen…

*

Um Weihnachtsmorgen erwachen die Kinder nach einer so ereignisvollen Nacht ziemlich spät. Zuerst plaudert man im Bett. Dann kommt die Mutter, die heute auch nicht so früh wie sonst aus den Federn gekrochen ist, und trommelt uns aus dem Bettchen. Es ist Morgenessenszeit. Die Alten wollen dann zur Kirche. Beim Morgenkaffee erhält jedes außer seinem Zucker- oder Riwwelekuchen (auch Sträußelkuchen genannt) noch seine Pfeffernüßchen und dergleichen überraschungen von der Mutter. Den ganzen Vormittag, "unner d'r Kerch", zehren die Kinder von den Erlebnissen der Nacht und unterhalten sich lebhaft über ihre "Petter-und Gotesach" (Süßigkeiten), das sie im vorigen Jahr bekommen haben, noch mehr aber darüber, was sie wohl dieses Jahr alles bekommen werden. Mit Ungeduld warten sie auf die Heimkehr der Alten. Rasch wird dann zu Mittag gegessen.

Dann setzt man sich auf die Lauer und wartet auf die Austrägerinnen, meist ledige Mädchen, die in beiden Händen ganze Bündel zusammengebundener Taschentücher, voll mit Lebkuchen, Kringeln und Konfekt, tragen und sie den Patenkindern des Hauses überbringen. In solch einem Tüchlein befindet sich ein ganzes Zauberreich voll Herrlichkeiten: ein Zuckerpferd oder eine Zuckerpuppe auf einem Lebkuchen, verschiedene Honig- oder Pfefferkuchen, Kringel von verschiedener Größe und schließlich Konfekt, in den verschiedensten bunten Papierchen eingeschlagen. Es sind Kleinigkeiten. Und dennoch, wie viel Glück, wie viel Freude bereitet solch ein Häuflein Leckerei dem Kinde. Groß ist daher der Kummer und die Enttäuschung, wenn einmal eine "Got" ausbleibt. Hat man alles empfangen, dann setzt man sich an den Tisch und zählt bewundernd seine Schätze. Diese Bescherungen werden verabreicht, bis das Kind "aus der Schul", d.h. konfirmiert ist.

Am ersten Christabend ist im Schulhaus Kindergottesdienst. Da sammelt der Schulmeister seinen Chor um den Altar mit dem brennenden Christbaum davor und lässt ein paar Weihnachtslieder singen; die Kinder erzählen die Weihnachtsgeschichte. Unter dem Christbaum stehen verheißungsvolle Kisten. Aus diesen werden alle anwesenden Kinder mit kleinen Gaben, etwa zwei, drei Lebkuchen, beschenkt. Kommt man in tiefer Dämmerstunde heim, so muss man der Mutter erzählen, was man gesehen und gehört, vor allem aber zeigt man mit Stolz, was man für Geschenke bekommen hat.

Das sind sie, die schlichten Freuden, die das Weihnachtsfest einem deutschen Wolgabauernkinde zu bringen pflegt. Und sie haben ein zähes Leben, diese Weihnachtsfreuden. Geradeswegs ins neue Jahr leuchten sie hinein. Und auch im späteren Leben blitzen sie alle wieder einmal hell auf und sind stets willkommen.

Allerdings muss gesagt werden, dass mancher der geschilderten alten Weihnachtsbräuche, die sich hier 150 Jahre gehalten haben, in unserer neuen Zeit mit ihren neuen Ansichten ausstirbt und seinen Platz neuen Gepflogenheiten einräumt. Im Mutterlande sollen sie schon längst tot sein. So mögen die heutigen Buben und Mädels diese schönen Erlebnisse ihrer Groß- und Urgroßeltern wenigstens nach dieser Schilderung kennen lernen.


*) "St. Niklos im Pelz", also der Winterniklos, ein rauer, strenger Geselle, angetan in einen umgewandten schwarzen Schafspelz, mit einer ebensolchen Mütze, einer Maske von dem Gesicht, einer Wagenkette als Gürtel um die Lenden, einerr Kuhschelle in der Linken und einer dicken Birkenrute in der Rechten.


Deutsche Post aus dem Osten, 1928, Nr. 12, S. 253-255.