Geschichte der Wolgadeutschen
1928 WOLGADEUTSCHES SCHULBLATT Nr. 5

Das Volkslied im Dorfe Brabander

Von Klara Obert, Saratow

 

Ich möchte den Kollegen als Probe einen Versuch mitteilen, den ich im Sommer vorigen Jahres gemacht habe, um das Volkslied im Dorfe Brabanderzuuntersuchen. Ich habe in diesem Dorfe 205 Volkslieder und 102 Vierzeiler im Verlaufe von drei Wochen und gerade während der wichtigsten Feldarbeiten gesammelt, so dass meine Sammlung augenscheinlich nur unvollständig sein kann.

Als Anfrage hatte ich mir nicht nur das Liedersammeln gestellt, sondern auch die Aufklärung folgender mit dem Liede verbundener Fragen:

1. Die Sangesgelegenheiten der Männer, Frauen, Kinder und der Jugend früher und jetzt.

2. Die Liederarten, die im Dorfe Brabander vertreten sind.

3. Wie teilt das Volk selbst seine Lieder ein; welche Arten werden wann und von wem am meisten gesungen.

4. Der Vierzeiler im Dorfe Brabander.

Über all diese Fragen unterhielt ich mich natürlich während des Aufschreibens mit dem Volke, an jedem Liede machte ich die betreffenden Bemerkungen. Um selber über die Beliebtheit und Verbreitung der einzelnen Lieder urteilen zu können, war ich bestrebt, in keinem Falle einen Druck auf meine Sänger auszuüben. Ich ließ sie selber die Lieder vorschlagen; natürlich sangen oder sagten sie mir die Lieder, die ihnen am nächsten lagen. Erst nachdem ihre Initiative erschöpft war, fing ich an, nach alten oder neuen mir bekannten Liedern zu forschen, und da bekam ich unwillkürlich Antwort auf meine Fragen. „Ah, des kann ich gar net, des singe die Alte“, sagte man mir oder: „des is vor e paar Jahr stark gsunge worre, des kann ich net meh ordlich“ usw. usw. Nach einer Anzahl von selbständigen Beobachtungen und vielen Unterhaltungen mit dem Volke kam ich zu folgenden Schlussfolgerungen.

Die Einwohner des Dorfes Brabander gehören von alters her zu den Sangeslustigen. Die Alten erzählen, wie viel früher gesungen wurde: von der Jugend auf der Straße; von den Männern auf der Straßenbank und auf den Hochzeiten; von Männern und Frauen auf den Kindtaufen, an hehren festen und beim Punschen (zu den letzten zwei Zwecken wurde zusammengelegt): abends im Hause mit den Kindern; von alt und jung, Männern und Frauen beim Hin- und heimfahren auf Wiese und Feld; im Dreschen und Putzen ebenfalls von Männern und Frauen und der Jugend; von den Mädchen bei den Frühlingsspielen, von denselben bei gemeinsamen Tanz mit den Burschen; von Frauen, Mädchen und Kindern beim Kinderwiegen, Kirschenpflücken, Hacken und bei den alltäglichen Hausarbeiten; von den Kindern auf Hof und Straße, bei Spiel und Tanz.

Diese Sachlage blieb mit kleinen Veränderungen und Schwankungen dieselbe bis zum Weltkriege. So ist z. B. das Punschen schon längst abgekommen, auch die Frühlingsspiele und Lieder der erwachsenen Mädchen, ebenfalls ihr Singen beim Tanz.

Vom Weltkriege an verstummte das Dorf so nach und nach, im 21. Jahre lag es tot und stille da; dann kam wieder die Missernte von 1924, und erst von 1925, 1926 an, wo sich die materielle Lage schon besser gestaltete, erwacht die alte Sanglust, und mit ihr erwachen die alten Lieder, die jetzt vielfach als neu bezeichnet werden, wieder. Die Gesanggelegenheiten sind  im  wesentlichen dieselben wie auch früher, nur mit dem Unterschiede, dass das, was früher als Regel galt, jetzt mehr oder weniger, die Jugend ausgenommen, als Ausnahme gelten kann. So ist z. B. der Gesang der Männer vor dem Tore jetzt beinahe Null, die Männer singen eigentlich in der Regel nur noch bei Schnaps und Bier, auf den hochzeiten, in der Bierhalle, beim Zusammenlegen an Festzeiten, wo auch die Frauen teilnehmen und womöglich mitsingen; dann beim  sogenannten „Schnapsen oder Guleien“, wo die Männer in der Regel allein sind mit Ausnahme der Haus- und manchmal noch einer Nachbarsfrau. In der Familie mit den Kindern singen die Männer, soviel ich in Erfahrung bringen konnte, jetzt nicht mehr, ebenfalls bei der Arbeit ist der Gesang der Männer nur noch Ausnahme. Soviel ich mich um Lieder auch an Männer wandte, immer bekam ich dieselbe Antwort: „Ja, do misst mr aans gedrunge hun, so singt sich´s net.“

Von den Frauen gilt ganz das Obengesagte: was früher Regel war, ist jetz Ausnahme; sogar Wiegenlieder werden jetzt nicht mehr von allen gesungen: „ Ich werf´s in die Wieg nei un loß´s leie, da is kaa Zeit drzu“, sagten mir mehrere; auch viele Kinder wussten nichts von Wiegenliedern. Viele Kinder, die ich fragte, sagen mir: „Ich kann nor Schullieder.“ Von anderen Kindern bekam ich wieder anderes zu hören.

Ich aber hatte gehofft, von den Kindern die Tanzlieder zu bekommen, da sich das Tanzen unter den Klängen dieser Lieder schon 10 –12 Jahre vor dem Kriege nur noch ausschließlich auf die Kinder beschränkt hatte, aber da kam ich schlecht an. Dieser Brauch ist bei den Kindern nur noch ausnahmsweise vorhanden. Wenn sie jetzt tanzen, so sind es in der Regel nicht mehr die alten „Runden“, sondern moderne Tänze, zu denen sie keine Lieder wissen, sondern nur die Melodie ohne Worte singen, „trudeln“, wie es landläufig heißt.

Die echte Pflegerin des Gesanges ist gegenwärtig in Brabander die Jugend. Die Jugend singt, wie auch früher, bei allen Gelegenheiten: die Burschen beim Umherziehen auf den Straßen; Burschen und Mädchen zusammen und getrennt auf der Bank vor dem Tore; im dreschen abends, wenn die Maschine steht; im frühling, wenn die Mädchen wochenlang beim vieh in der Wiese sind; später auf der Steppe die Mädchen beim Rindvieh und die Burschen bei den Pferden. (Bei dieser Gelegenheit entstehen viele Spottlieder.)

Was die Liedergattungen betrifft, so fand ich in Brabander 70 Arten vertreten. Nämlich: 1. Romanzen bekam ich 38, 2. Soldatenlieder 23, 3. lustige Lieder 21, 4. Lieder verschiedenen Inhalts 22, 5. geistliche Lieder 19, 6. Liebeslieder 16, 7. Trinklieder 9, Spottlieder 12, 9. Revolutionslieder 6, 10. Spiellieder 2, 11. Brautlieder 9, 12. Abschiedslieder 5, 13. Wiegenlieder 6, 14. Wanderlieder 5, 15. Balladen 3, 16. Kolonistenereignisse 3, 17. Lügenlieder 2, 18. Hirtenlieder 2, 19. Jägerlieder 1, 20 Vierzeiler 102: a) 80 Tanzlieder, b) 22 Vierzeiler verschiedenen Inhalts.

Das Volk selber teilt seine Lieder nur in vier Arten ein: 1. Gassen- oder Schelmenlieder, 2. Kirchen- oder Gotteslieder, 3. Trinklieder, die es „Brandewei- oder Guleistickelcher“ nennt, und 4. Tanzlieder.

Die erste Kategorie von Lieder zerfällt in zwei Unterarten: auf der einen Seite das Kriegs- oder Soldatenlied, auf der anderen Seite schlechthin das Gassenlied, worunter alle möglichen Gattungen gemeint sind: Romanze, Ballade, Liebeslied, Spottlied usw.

Die Gassenlieder werden gegenwärtig hauptsächlich von der Jugend, den Burschen und Mädchen gesungen; wobei die Kriegslieder außerordentlich beliebt sind. Aber auch die Männer und Frauen verschmähen das Gassenlied, wenn sie schon mal singen, keineswegs; die Kriegslieder sind auch bei ihnen besonders beliebt.

Was die geistlichen  Lieder anbelangt, so werden sie, scheint es, mehr von dem weiblichen als von dem männlichen Geschlecht gesungen; auf der Strasse von den Burschen beinahe gar nicht mehr.

Unter „Branndeweistickelchen“ versteht das Volk sehr verschiedenes: außer den wirklichen Trinkliedern gehören hierher noch beliebte Romanzen, Liebeslieder, Spottlieder, lustige Lieder. Auch Kriegslieder werden bei dieser Gelegenheit mit Vorliebe gesungen; sogar geistliche Lieder müssen herhalten.

Was die Revolutionslieder betrifft, die im allgemeinen nur von der jugend gesungen werden, so ist folgendes das beliebteste und verbreitetste von allen:

(Bringe es in phonetischer Schrift.)

„ In Januar in Middernacht
Ein Kommunist stand auf der Wacht,
Er stand mit Stolz, er stand mit Recht,
Wie Rosa Luxemburg und Karl Libknecht.

Und mid der Knarre in der Hand,
Der in der Zeid uns alle band;
Die Kuchel feifen um ihn rum,
Der Kommunist bekimmert sich nicht drum.

Und Donnerbrill, Artillerie,
Spartakus had Infanterie.
Granaden schluchen bei und ein,
Rechierungstruppen stirmen Bichsenschdein.

O, Bichsenschdein, o Bichsenschdein,
Ein Kommunisd heißt Kämpfer sein.
Wir hadden gekämft bei Bichsenschdein,
Und darum schberd man uns in Kerker ein.

Gefangen, ach , o weh, o Schmerz,
Und dennoch hoffed unser Herz.
Spardakus lebt, Spardakus siegt!
Frisch auf zum Kampf, Genossen, zachet nicht!

Und warum kämpfd ein Kommunist?
Damit ihr´s alle, alle wisst:
Er kämpfd fir Freiheit und fir Recht,
Nichts mehr zu sein als Arbeitsmann, sein Knecht.

Und alle Menschen arm und reich,
Sie sollen werden alle gleich,
Daß niemand leidet ferner Not,
Daß jeder hat genichend dächlich Brot.

Dieses Lied wird auch von Männer gesungen.

Die Kinderlieder, d. h. Wiegen-, Spiel- und Schullieder, wurden von mir nur beiläufig aufgeschrieben, da das meines Erachtens nach ein große Arbeit für sich allein darstellt, zu der es mir an der nötigen Zeit gebrach. (Sonst das dankbare Arbeitsfeld für den Lehrer.)

Von den Frühlingsliedern der erwachsenen Mädchen ist als einziges: „Der Bauer sitzt auf sein Stuhl“ übrig geblieben. Es wurde aber auch schon vor dem Kriege nur noch von den Kleinen gesungen.

Von den Brautliedern ist charakteristisch: „ Ei du allerschensdi Braut...“

In diesem Liede wird die Lage der Frau geschildert: „Vor deer Hochzeit gebt es Kißcher, nach der Hochzeit gebd es Schmißcher. Braudlein, zieh dein Kleidlein aus, du bist geworden ein Hund in Haus!“ Früher wurde anders gesungen: „Braudlein, zieh dein Kleidlein aus, ´s gebt ´ne junge Frau ins Haus!“ Dieses Lied wird auf den Hochzeiten hauptsächlich von Männern gesungen, aber manchmal singen auch Frauen mit.

Von den Kolonistenereignissen erzählen nur drei Lieder, die mir alle als sehr schön bezeichnet wurden.

Die zwei Lügenlieder, die ich aufgeschrieben habe, sind im Dorfe nicht mal bekannt; bekam sie von zwei Alten, von denen der eine 66 Jahre alt ist, der andere jetzt schon gestorben ist.

Jetzt zu den Tanzliedern, die in der Regel Vierzeiler waren und umgekehrt. Wir wissen schon aus dem Vorhergehenden, dass die Tanzlieder ursprünglich für die Erwachsenen bestimmt waren und erst später zum Eigen der Kinder wurden. Schon ihrem Inhalte nach kann man die späteren Tanzlieder von den früheren unterscheiden. So waren z. B. folgende Lieder unmöglich für die Kleinen bestimmt.

Wer Aebbel stehlt und sie nicht isst,
Wer Mädcher liebt und sie nicht kißt,
Wer Mädcher liebt und schenkt nicht ein,
Das mag ein rechter Dummkopp sein!

Oder noch überzeugender:

Als ich e klaanes Mädche war,
Da ging ich in die Blume;
Als ich bißhe greser war,
da kisse mich die Junge.

Zu den späteren für die Kinder bestimmten Vierzeilern kann folgender gehören:

Unner man Vadder san Heische
Kriwweld un krawweld e Meische,
Unner man Vadder san Disch
Kriwweld und krawweld ´n Fisch.

Jetzt entsprechen diese Tanzlieder-Vierzeiler ihrem Namen nicht mehr, wie schon oben ausgeführt wurde; aber dennoch wird der Vierzeiler gepflegt im Dorfe. Gerade im Vierzeiler werden die verschiedenen Seiten des Volkslebens berührt. Z. B. Liebe im folgenden Vierzeler:

So lieb wie mir mein Leben ist,
So lieb ist mir mein Schatz,
Und wer mir das nicht glauben will,
der hat noch kein gehat.

Jugendlicher Uebermut in:

Wenn ich iber die Schdraße geh,
Due mei Duffle Krache;
Wenn ich schene Buwe seh,
Muß ich immer lache.

Oder Neckereien:

Die Maiheimer Mädcher,
Die drae Absätzschuh.
Drae se jo kaa Absätzschuh,
Krie se ach kaa Prowenre Bu.

Spott, wie z. B. in:

´N B ... Hannes sei Mädcher,
Die drae Drosselschuh,
drae korze Regelcher, (Röckchen)
Un schdelle sich v o r die Kuh.

(Anstatt sich darunter zu setzen und zu melken.)

Die Volksfeste:

Die Fasenachd, die Fasenachd,
Do schlachd ma Vadder n Bock,
Do danzd ma Modder n Schleifer,
Do waggeld ihre Rock.

Oder Haustiere und Speise und Trank:

Kih komme, Ochse brumme.
Hei in ´dr Kribbe, Milch in dr Bibbe.
Schbeck un Aer in der Pann,
Gebd ´n gude Ackersmann.

Auch Vierzeiler historischen Inhalts haben wir. So reicht folgender Vierzeiler noch in den dreißigjährigen Krieg zurück und führt uns eine historische Persönlichkeit vor:

Bet, Kinnche, bet!
Morche kommt dr Schwed,
Morche kommt dr O c h s e n s c h d e r n,
Der die Kinder bede lernt.

Dann ist allem Anscheine nach das Malheur der ersten Kolonisten, dass die meisten von ihnen die Landwirtschaft nicht verstanden, in folgendem kurzen Vierzeiler verewigt:

Heirad du, heirad du,
Heirad du ´n Russebu!
Der kann mähe, der kann sän,
Der kann alle Arweid due.

Meinen Beobachtungen nach ist der Vierzeiler im Dorfe Brabander wirklich das Gebiet, wo die Phantasie des Volkes hauptsächlich und mit Vorliebe tummelt.

Das ganze Inhaltsverzeichnis der Lieder mit einer kurzen Charakteristik eines jeden Liedes, so wie ich sie habe, hier zu bringen wäre unmöglich und auch nicht notwendig, bringe deshalb nur einige Beispiele:

1. Es schdehd ein Linden in diesen Dal... Wurde mir als sehr schönes Lied bezeichnet. Ein altes Lied, das gegenwärtig nicht sehr stark verbreitet ist. Habe zwei Texte aufgeschrieben: einen von einer Frau von 28 Jahren, den anderen von einer Frau von 55 Jahren. Die letzte sagte mir, dieses Lied sei in ihrer Jugend aus Streckerau mitgebracht worden. An diesem Liede sieht man genau, wie die Lieder im Munde des Volkes nach und nach verändert werden.

2. Wenn ich wisst, wo er ist, den hab so oft gekißt ... Wird von den Mädchen gesungen. Aus dem Liede3 ist ein Vierzeiler, der als Spottliedchen gebraucht wird, hervorgegangen:

Ein solches Berschche, wie´s du bist,
Gebtsre genunk in unser Wies.
Ich dreh mich rum un lach dich aus
Un such mr noch ´n Schenre raus!

3. In Rigau is eine scheni Karussel... Ein altes Lied, dessen letzte acht Zeilen auch als selbständiges Lied gesungen werden.

Wenn meine Frau mich ärgert,
Dann weiß ich, was ich du,
Da schdopp ich sie in Hawersack
Un binn ´n owe zu.

Do fängt Sie an zu bitten:
„Ach, liewer Mann, mach auf!“
Do numm ich mir den Hammerstiel
Un klopp nor immer drauf.

Ich kann nicht umhin, zu unterstreichen, dass man sich im allgemeinen sehr für meine Arbeit interessierte. Viele luden mich selber ein: „Kommt ach e mol in unser Eck, wamr obends haus sitze; bei uns wird vill gsunge.“ Einige kamen sogar zu mir ins Haus, um Lieder aufschreiben zu lassen. Man freute sich sehr, wenn man hörte, dass diese Lieder vielleicht einmal gedruckt werden. Man wandte sich sogar direkt mit der Bitte an mich: „Schafft doch do drin in dr Stadt, dass e mal widder so e schenes Liederbichelche zammegstellt wird, wie vorn Krieg e mol.“ ( Er meinte die Liedersammlung von Erbes und Sinner.) „ Wannd´r des fertig stelle tät, do wäre mr froh!“

Wolgadeutsches Schulblatt. Pokrowsk, 1928, Nr. 5, S. 507-512.