Haus- und Volksmittel
in den Kolonien am Karaman
Die Haus- und Volksmittel bilden einen nicht unwesentlichen Teil in der Geschichte der Wolgadeutschen Bauern; spiegeln sie doch in ihnen die volkstümlichen Anschauungen über Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit derart wieder, dass aus ihrer Verbreitung geradezu die Höhe der Entwicklung einzelner Dörfer bestimmt werden kann.
Man findet manches Goldkorn richtiger Beobachtung, trefflicher Erfahrung, so manches vortreffliche Heilmittel, das die Medizin, allerdings meist in anderem Sinne, in anderer Form anwendet. Hat doch wirklich die wissenschaftliche Medizin so manches ihrer Mittel aus den Haus- und Volksmittel entnommen, und nicht wenige, lange verlachte Arzneimittel des Volkes befinden sich heute, chemisch vervollkommnet, in der Hand des Arztes.
Der wolgadeutsche Bauer, sowie auch unser „Karmäner“ war von jeher kein großer Verehrer der ärztlichen Kunst und ist es auch heutzutage noch nicht. „Je gelehrter, je verkehrter“, sagt er.
Aber diese Redensarten sind meist nur eine Selbstentschuldigung, dass er in Krankheitsfällen nicht gleich die Hilfe eines „Doktors“ in Anspruch nimmt; denn vielmehr liegt ihm das Geld und vor allem die Zeit, die er dazu verwenden muss, am Herzen.
In schweren, plötzlich hereinbrechenden Krankheitsfällen, wie bei erheblichen Verletzungen, Knochenbrüchen oder dergl., wird meist die Hilfe des Arztes sofort in Anspruch genommen, ebenso bei Geburten, wenn die Hilfe der „Ammfrah“ (Hebamme) versagt; in allen übrigen Krankheitsfällen werden jedoch erst alle Volksheilmethoden durchprobiert, ehe der Arzt um Rat gefragt wird. Eine ganze Anzahl Redensarten, wie „Vorm Dot is kee Kraut gewachsa“, „Die Krankheit muss sich austobe“, „Alles will sei Zeit und Stund han“ scheinen darauf hinzudeuten, dass unsere „Karmäner“ sehr geneigt wären, den Verlauf von Krankheiten in Ruhe abzuwarten. Dies ist keineswegs der Fall. Sie überlassen ihrem stillen Wirken nichts, weil ihnen die Arbeit so schwer am Herzen liegt. Es muss schnell besser werden. Es muss biegen oder brechen. Die am stärksten wirkenden Mittel sind die besten. Im allgemeinen liebt unser Bauer bei allen Krankheiten energische Kuren; man hört oft Ausdrücke wie: „Das muss ersch schlimmer werre, nord wird’s besser“, „Weh muss Weh vertreibe“. Die Wirkung eines Mittels wird selten oder nie abgewartet; hilft das eine Mittel nicht rasch, so wird in kurzer ein anderes Mittel angewandt. Ja, selbst wenn sie einen Arzt gebrauchen, nehmen sie neben der vorgeschriebenen Arznei meist noch allerlei Hausmittel, die ihnen von irgend einer "G´vattern" angeraten sind, die gerade dieselbe Krankheit an sich erlebt haben will. Das zuletzt angewandte Mittel hat im Genesungsfall immer die Heilung bewirkt; stirbt aber der Patient, dann war es eben Gottes Wille. Das volkstümliche Heilverfahren, die Hausmittel, werden nie deshalb angeklagt.
Als Ursache der meisten Erkrankungen gilt die Erkältung, und aus Furcht vor ihr werden von unseren Landsleuten außer dem Hemd mehrere dicke Unterhemden und von den Frauen ein halb Dutzend Unterröcke getragen und zwar Winters und Sommers gleichmäßig. Tritt eine Erkältung ein, so wird der schmerzende Körperteil noch besonders mit Watte, „Trampeltierwoll“ (Kamelswolle), dick eingewickelt, denn er muss unter allen Umständen „warm verwahrt“ werden.
Auch vor der Öffnung der Fenster zur gehörigen Durchlüftung der Zimmer ist unserm Bauer sehr bange, und noch vielfach finden sich in älteren Häusern Fenster, die überhaupt nicht geöffnet werden können.
Namentlich bei Säuglingen wurde es früher für sehr gefährlich gehalten, wenn die „Kält uff d´r Kopp fällt“; er wurde deshalb auch stets mit einem Häubchen warm bedeckt gehalten, ja es wurde sogar vermieden, den Kopf des Kindes im ersten Lebensjahr zu reinigen, denn „Dreck halt warm“. Diese Anschauungen, sind in der letzten Zeit, Gott sei Dank, sehr im Schwinden begriffen.
Als weitere Ursache unzähliger Krankheiten, namentlich aller Ausschläge,gilt das „dicke schlechte, verhitzte G´bliet“ (Blut). „Do is ungsundes G´bliet, der Unrot muss raus“, und es wird gerade als lebensgefährlich angesehen, wenn „das G´bliet sich feschtsetzt“, denn dann bleiben die schädlichen Stoffe im Blut. Die Unreinlichkeit, die häufige Quelle vieler Ausschläge, wird als Ursache selten angeschuldigt und deshalb auch das häufige Waschen möglichst vermieden.
Bei jedem Unwohlsein und bei jeder schweren Krankheit, bei der der Appetit fehlt, findet sich das Leiden, das man mit dem Ausdruck „die Winn han sich verschlaa“ bezeichnet. Das Leiden kommt vom „V´rkiehle“ (Verkühlung) her, so ist es auch der „kalte Druck“, der die Veranlassung zu allen Erkrankungen der Verdauungsorgane geben soll; denn dass das „liewe gute Esse“ daran schuld ist, wird nur selten zugegeben. Solange Appetit vorhanden ist, wird an die Schwere einer Krankheit nicht geglaubt, den „er is so g´sund wie´ne Echel (Eichel)“, „sei Natur ist stark“. Die Angeschlagenheit und Mattigkeit bei akuten Krankheiten wird stets der Appetitlosigkeit zugeschrieben, denn „Esse und Drinke hält Leib un Seel z´samme“ und man „kanns Lebe doch nit erhalte, wann´r nix rin kriet“.
Ebenso wie die Appetitlosigkeit wird die mangelhafte Verdauung in Krankheitsfällen gefürchtet, denn „wo was rin kummt, muss aach was raus“. Es wird deshalb mit großer Sorgfalt auf diese Funktion geachtet, und nur wenn der Kranke längere Zeit „nix tickes“ , keine festen Speisen genossen hat, tröstet man sich bei mangelhaftem Stuhl mit den Worten: „Kummt ja auch nix rin“. Unser Landsmann beobachtet daher aufs sorgfältigste in Krankheitsfällen seine Abgänge und weiß ihre Form und Farbe stets genau zu schildern.
Ein plötzlicher Tod ist, auch wenn er schon bei einer bestehenden schweren Krankheit eintritt, stets der Schlagfluß; „ihn hat´r Schlag g´rierht“ oder „´s Herz is´m g´platzt, abg´falle, es is´m im Kopp´n Oder g´platzt“ usw.
Was wird nun bei uns als Hausmittel verwendet? Alle Dinge des gewöhnlichen Haushaltes, wie Nahrungsmittel, Speck, Milch, Eier usw. Aber auch andere Dinge, wie Pech, Leim, „Käschteschmier“ (Wagenschmiere), Spinngewebe usw. werden als Hausmittel verwandt. Ferner Erzeugnisse des Gartens, wie Kamillen, Meerrettich, Pfefferminz, oder des Feldes, wie Schoffgarbe (Schafgarbe), Hufblätter, Wermut, Salbei spielen bei jeder Krankheit eine Rolle. [siehe auch: Beilage # 1]
Im allgemeinen entnimmt unsere Landbevölkerung ihre wirksamsten und kräftigsten Mittel dem Tierreiche, so „Tarakane“ (Schaben), Frösche, Igel- und Hundefett usw., dann die Exkremente von verschiedenen Tieren und Menschen, die teils innerlich, teils äußerlich angewandt werden, auch wenn sie noch so ekelerregend sind; denn ein Übel muss des andere vertreiben. „Weh muss Weh v´rtreibe“. Dieser Grundsatz findet auch bei der Medizin Anwendung, denn der Kranke hat nur dann volles Vertrauen zu ihrer Wirkung, wenn sie möglichst schlecht aussieht, riecht und schmeckt. Auch der Urin wird als Hausmittel verwandt. Mehrere Mittel, die wegen ihrer Form und Farbe große Ähnlichkeit mit verschiedenen Organen des Körpers bei Erkrankung derselben haben, gelten als besonders wirksam. So gebraucht man verschiedene holzförmige Blätter gegen Herzkrankheiten, Petersilienwurzel gegen Harnbeschwerden, rote Kleeblumen gegen Bleichsucht, gelbe Rüben gegen Gelbsucht usw.
Bei Erkältung (Rotlaaf), die häufigste aller Krankheitsursachen, werden ungesunde Stoffe im Blut zurückbehalten, die heraus müssen, und das wird am Anfang einer jeden Erkältung gründlich besorgt, indem die Kur mit Schwitzen eingeleitet wird. Je schlimmer der Kranke fiebert, desto eifriger wird versucht, ihn zum Schwitzen zu bringen. Er wird mit dicken Decken, „Ziegen“ (Federbetten),einem halben Dutzend „Tulupe“ (Pelze) über und über bedeckt, und ihm werden in Massen heiße Getränke, wie Pfefferminz-, Himbeeren-, „Lineblüte“-, Kamillentee, heiße Milch usw. eingejagt. Dass dabei nicht der Branntwein vergessen wird, kann sich jeder denken, besonders „ang´setzter“, ein Aufguss von Schnaps auf Kirschen, Äpfeln und dergl. Auch wird über einem heißen Stein geschwitzt, auf den einige Tropfen Terpentinöl gegossen werden. Letzteres wird auch bei Halsleiden angewandt. Als weiteres Schwitzmittel wird heißes Brot verwandt, mit dem ein Bett gewärmt wird, in das sich der Patient dann hineinlegt.
Neben der „V´rkiehlung“ spielt das „Rufrepse“ (Aufstoßen) eine Hauptrolle das auf Anhäufung schädlicher Stoffe (Winne) im Magendarmkanal beruhen soll, die also in erster Linie entfernt werden müssen. Hierzu dienen eine Anzahl Abführmittel, so englisches Salz, Sennesblätter, Rhabarber, Aloe und drgl. Dass der kranke Magen vor allen Dingen durch Fasten für einige Tage Ruhe haben muss, kennt unser Karmäner nicht; immer wieder sucht er dem appetitlosen Kranken etwas beizubringen, was „G´schmack“ (Appetit) macht, wie saure Äpfel, Arbusen, Gurken und Wermut, bei Kindern namentlich „Zuckergebäcks“ usw.
Alle Krankheiten, die in der Magengrube, fälschlich Herzgrube genannt, ihren Sitz haben, sowie bei unzähligen anderen Krankheitszuständen sind nach Ansicht unserer Karmäner „die Winne“ (Blähungen) schuld, die sich „verschlaa han“ und „nit uner sich und nit ewer sich kenne“. Um die „Winne“ anzutreiben, werden in erster Linie starker Kaffe, Branntwein, „Wermutschnaps“, Hoffmannstropfen und unzählige andere mehr angewandt. Das sichere Zeichen der Wirkung aller dieser Mittel ist das „Rufreps“ (Aufstoßen) und die Winde, und geradezu für gefährlich gilt es, eine Blähung zurückzuhalten. Auch an Leibschmerzen, „Leibweh“, die , wenn anfallsweise auftreten, auch „Golik“ genannt werden, sollen die „Winne“ schuld sein.
Bei jeder Verletzung wird zunächst was „gegen die Ohmacht“ gegeben, in erster Linie Hoffmannstropfen, die meist vorrätig in jedem Haus gehalten werden, oder, wenn sie fehlen, wenigstens Schnaps oder schwarzer Kaffee. Ist ein Glied durch stumpfe Gewalt verstaucht oder verrenkt, so wird es zunächst gereckt und gezogen, um die „iwersprungne Oder“ (Sehne) wieder einzurichten; hilft das nicht genügend, dann ist das betreffende Glied sicher „auseinanner“. Ist die betreffende Stelle angeschwollen, dann wird sie mit „Pferdsmark“ (Pferdemark) eingerieben oder mit „Seef“ (Seife). Beulen, durch Stoß erhalten, vergehen, wenn man eine Messerklinge daraufdrückt.
Eine Blutung infolge einer Verletzung macht stets auf den Kranken wie auf seine Umgebung einen höchst beängstigenden Eindruck; es wird deshalb auch dem Arzt stets die Menge des Blutes übertrieben angegeben, wenn es heißt: „Er hat g´blut wie´n Sau!“
Auf die blutende Stelle werden in rascher Folge Schwamm (Zündschwamm); Spinnengewebe; Werg und endlich „Pferdsmischt“ (Pferdemist) gelegt. Die Handwerker haben ihre eigenen Blutstillungsmittel: der Schuster das Pech, der Schreiner den Leim.
Bei Verbrennungen wird auf die Verbrannte Stelle „Kartoffelscheibchen“, „Teepapier“ (Goldschaum) gelegt, dann Aufschläge „Sonnenblumenöl, ´s Weiße vom Ei und saurer Rahm“, ja sogar „Schoofsknotle“ (Exkremente von Schafen) werden darauf gelegt. Eine grausame Prozedur! Bei der Brandwunde, sowie auch bei der „Rose“ herrscht ständig die Angst „vorm kalte Brand“ (Rotlauf).
Die Wundheilung selbst geht folgendermaßen vor sich: Sie wird zunächst mit einem Läppchen verbunden, das häufig abgenommen wird, um den heilverlauf zu beobachten; heilt sie zu langsam, dann werden die verschiedensten Salben und Pflaster angewandt, u. a. Maschinenöl usw. Bildet sich in einer Wunde neues Fleisch, „faul oder wildes Fleisch“, so wird sie mit Tabakasche und ähnlichem bestreut. Nässt die Umgebung der Wunde, so wird sie mit Hufblätter, Salbeiblätter oder dergl. bedeckt. Hundebiss heilt man durch Auflegen von Hundehaaren, und zwar von dem Hund, der gebissen hat. War der Hund toll, so wurde die Wunde mit dem „Kirchenschlüssel“ ausgebrannt.
Ein Furunkel heißt bei uns „Schwere“, ein großer Abszess „Gschlier“, „Schlier“. „Rotlauf“ ist eine mehr oberflächliche Entzündung; sind Sehen und Knochen mit ergriffen, so spricht man von einem Knochenfraß oder „Worm“.
Umschriebene Geschwülste sucht man zunächst durch Einreibungen, Aufschläge und drgl. zum „verziehen“ zu bringen; gelangt das nicht, so muss Eiterung herbeigeführt werden, und das geschieht durch die verschiedensten Pflaster, wie „gekaute Btotkoscht“, „gequetschte Zwiefel“, „süße Äpfel“, „Käschtscherschmier“ (Wagenschmiere) usw. , dann durch „Behen“, eine Anwendung von Umschlägen aus Leinsamen, Kamillen, Kleien, Heublumen usw. Schlagen alle diese Mittel fehl, dann kommt warmer „Kuhflotter“ an die Reihe.
Will das Geschwür nicht recht aufbrechen, so befürchtet man, es sei noch „zeitich“ (reif) und versucht vorsichtig, dem Eiter durch Einstich mittels einer Nadel Bahn zu schaffen. Beim „Worm“ am Finger (Panaricium) wird letzterer in heißes Wasser gehalten, um den „Worm“ zu töten. Besonders interessant und abenteuerlich ist beim „Worm“ ein heilverfahren, bei dem der Finger einem Huhn in den After gesteckt wird. Dies geschieht abends, wenn die Hühner schon auf der Stange sind. Es ist allerdings keine Kleinigkeit, dies auszuführen, da beim “Worm“ der Finger bedeutend angeschwollen ist, und zudem muss der Betreffende im Dunkeln operieren, um die Hühner nicht zu verscheuchen.
Die Augenentzündungen werden folgendermaßen bezeichnet: einfach „wehe Aue“, „rotzige, matzliche, rote Aue“ usw. Jede Herabsetzung der Sehkraft wird als „Star“ angesehen, den man sich als eine vor des Auge gezogene graue oder schwarze Haut vorstellt. Daher grauer oder schwarzer Star. Drachoma werden als „wilde Hoor“ bezeichner. Das Gerstenkorn am Auge wird „Weegschisser“ genannt, weil man glaubt, es entstehe, wenn man an einem Kreuzwege seine Not verrichte. Nüchterner „Spauz“ (Speichel), „faule Molke“ sind die Hauptmittel beim Gerstenkorn.
Die Zahl der Mittel, die gegen Zahnschmerz angewandt werden, ist eine Legion. Ich will hier nur einige anführen. Ein Stück Speck, Zwiebel in das Ohr, Tabak, Branntwein, Hoffmannstropfen, Pech auf den Zahn, dann ein „Säckelche mit Salz“ auf die Wange binden usw. Auch wird bei Zahnschmerzen vielfach „gebraucht“ (Besprechung). Diese Heilmethode ist noch stark verbreitet und wird bei verschiedenen Krankheiten angewandt. Die dabei vorkommenden Besprechungsformeln sind zweierlei: entweder sind sie kurze Befehle, welche das Aufhören der Krankheit, durch einen bloßen Zuruf bewirken wollen, oder sie werden in Form einer Kleinen Formel gegeben. Die Formeln werden leise gesprochen und meist bei Mondschein. Die Zahl drei ist dabei auch wichtig. Dreimal wird dabei ein Kreuz über die Kranke Stelle gemacht, dreimal ausgespuckt. [siehe auch: Beilage # 2]
Bei Kopfschmerzen wird Sauerkraut, “Kees“ usw. auf den Kopf gelegt oder mit Kampfer und Branntwein eingerieben.
Halsentzündungen werden, solange der Kranke noch schlucken kann, kaum beachtet. Wird das Schlucken aber schwierig, dann sind die „Mantle“ (Halsdrüsen) angeschwollen, und der Betreffende kommt zur Großmutter in eine Schmierkur, die ihm die „Mantle“ mit „Spanz“ (Speichel) tüchtig verstreicht und in der Nacht einen armen wollenen Strumpf um den Hals legt. Ist der „Zappe g´falle“ (das Zäpfchen angeschwollen), so zieht man den Leidenden am “Barzel“ (Schopf) und lässt ihn dabei dreimal trocken schlucken. Der „Schluckser“ hat eine fülle von Mitteln und Heilverfahren hervorgerufen. Dem Schlucksenden einen Schrecken oder Angst einjagen, soll oft das beste mittel sein. Auch neun Schluck Wasser trinken, oder „dreimal trucke runer schlicke“ soll wirksam sein.
Die Lungenkrankheiten werden wie folgt bezeichnet: „Er hat´s an d´r Lung“, „uw d´r Bruscht“, „er ist eng“ (bei der Asthma). Die Lungentuberkulose wird als „Bruschtkrankheit“, „Lungenfaul“ oder Schwindsucht bezeichnet. Kann ein Brustkranker nicht gut aushusten, „hat sich alles feschtgesetzt“, so muss vor allen Dingen der Schleim beseitigt werden. Dies geschieht durch eine Schmierkur oder durch die sogenannten Hustmittel, wie Honig, Süßholz, Milch mit Rettig oder Schweineschmalz usw. Bei länger dauerndem Husten denkt man doch wohl auch an Schwindsucht und zwar bei der Verbreitung der Lungentuberkulose in unserem Ländchen sicher mit vollem Recht. Tritt bei vorgeschrittener Schwindsucht, bei dem reichlichen Auswurf, Abmagerung hinzu, dann werden alle die Mittel angewandt, die der „Zehrung“ entgegenwirken sollen, in erster Linie alle nur möglichen Fette, wie Lebertran, Igel- und Pferdefett, namentlich aber Hundefett usw.
Ähnlich wie das „Vrkiehle“ und die „vrschlaane Winne“ spielt auch das „vrstockte Gblied“ (schlechtes Blut) eine große Rolle. Fühlt jemand, der von Herzen gesund ist, Abgeschlagenheit in allen Gliedern, dann ist das Blut bei ihm zu „schlecht“, zu „dick“ oder „verhitzt“.
Auch Ausschläge aller Art werden als Folge schlechter Blutmischung betrachtet und dem gemäß behandelt. Für Aufschläge gibt es eine große Anzahl volkstümlicher Bezeichnungen, wie „Pittcher“, „Schwercher“, „Klint“. Jeder borkenbildende Ausschlag wird mit „Klint“ bezeichnet. Fehlt die Borkenbildung bei einem nässenden Ausschlag, so wird er als „Flecht“ angesehen und sehr gefürchtet. Selbst die Krätze, ein Ausschlag, der , wie bekannt, durch Einwanderung von Milben in die Haut entsteht, wird noch einzeln heutzutage mit inneren Mitteln behandelt. Im allgemeinen wird die Krätze durch Einreibungen mit Schwefel, „Jogot“, ja sogar mit „Hinkelsdreck“ (Exkremente von Hünern) behandelt.
Bei den mit Ausschlag verbundenen Infektionskrankheiten, wie Masern, Scharlach, meist „´s rote Zeich“ genannt, wird als die Hauptaufgabe betrachtet, den Ausschlag nach außen zu treiben und zwar durch schweißtreibende Mittel aller Art. Bei Scharlach wird das Kranke Kind in einen „mehligen Sack“ gesteckt, um den Ausschlag nach außen zu treiben. Auch „beim milde Feuer“, Nesselsucht, die oft mit Scharlach verwechselt wird, findet diese Methode Anwendung. Ferner wird der Patient mit einer Stallbürste, „Strichel“, bearbeitet. Wenn die Haare auf dem Kopf ausgehen, so hat eine „Speckmaus“ (Fledermaus) „drauf gprunst“ (uriniert). Als Heilmethode wird hier das „brauchen“ angewandt. Es wird eine Formel gesprochen und ein Kreuz mit einem rußigen Nagel auf die nackte Stelle gemacht.
Ganz besonders beliebt und sehr mannigfaltiger Art sind die Behandlungen der Warzen. Wo das Blut einer Warze vorkommt, wächst wieder eine Warze. Wer die Warze eines andern zählt, zählt sie sich zu und jenem weg. Man macht so viel Knoten in einen Bindfaden, als man Warzen hat und begräbt ihn unterm „Sautrog“ oder man reibt die Warzen mit „Knebl“ (Klöße“ ein und wirft sie rücklings über das Dach zum Nachbar, dem so die Warzen zuteilt werden. [siehe auch: Beilage # 3]
Unter Gicht, „Gichtre“, wird beinahe jeder Krampf der Glieder verstanden. Da als Grundursache aller Art Gicht die Erkältung angesehen wird, so werden zunächst alle schweißtreibenden Mittel angewandt, dann aber kommen die eigentlichen Gichtmittel an die Reihe, wie Lebertran, Terpentinöl, Tee von Klettenwurzeln usw. Am meisten aber hält man von Einreibungen, z. B. mit Branntwein, Stinkspirt, Petroleum, „Pertsmark“ (Pferdemark), „fließender Galb“, Salmiakgeist mit Sonnenblumenöl usw.
Bei Wechselfieber, „Friere“, werden neben dem bereits bekannten Chinin eine große Anzahl Hausmittel verwandt. Es herrscht vielfach die Ansicht, dass man sich das „Friere“ „anesse“ kann, z. B. an grünem Obst usw. Um das Fieber los zu werden, muss der Betreffende es wieder „wegesse“, und zwar muss er so viel Obst essen, bis es ihm „owe raus kummt“. Auch Brechmittel finden hier Anwendung. Ferner bittere Mittel – als Tee oder bitterer Schnaps genossen - , wie Enzian, Wermut usw.
Bei Wassersucht gilt als spezifisches Mittel „Tarakane-Tee“ (Schwaben oder Preußen, auch Russen genannt). Da diese edlen Tierchen bei uns am Karaman nicht gezüchtet werden, so ist die Bevölkerung auf Einfuhr aus den umliegenden Russendörfern angewiesen. Besonders zeichnen sich die „Tambowker“ und „Kalutsker“ Tarakane an Größe so auch an Qualität aus.
Bei den Kindern im ersten Lebensjahr pflegen als Hauptursache aller Krankheiten „die Winne“ (Winde) zu gelten und infolge falscher Ernährung sicher häufig mit Recht. Werden die Kinder dann erst älter, so spielt das „Zähnnmache“ (Zahnen) fast bei allen Krankheiten die Hauptrolle, wenn sie auch mit dem Zahnen nichts zu tun haben. Ist in der Zeit des Zahndurchbruches der Speichelfluss, „das Seewern“, vermehrt der Stuhl zu dünn und zu oft, weint oder schreit das Kind mehr als gewöhnlich, so muss unter allen Umständen der Durchbruch der Zähne beschleunigt erden. Zu diesem Zweck bindet die besorgte Mutter, auch noch heutzutage, dem zahnenden kind eine Wurzel oder ein Stückchen Holz in den Mund und andres mehr. Bei den verschiedenen Krankheiten der Kinder und auch wohl der Erwachsenen, die gefährlich werden oder gar tödlich enden, heißt es: „Er hat Krämmf drzu kriet“. Unsere Leute geben sich überhaupt mit einer einzigen Krankheit als Todesursache selten zufrieden; es muss noch etwas hinzugetreten sein und dazu ist der „innerliche Kramm“ (Krämpfe) so recht geeignet. Auch die Krämpfe der Erwachsenen, die Epilepsie, werden als „Krämme“ oder „fallende Krankheit“ bezeichnet.
Dies sind so die meist verbreiteten Haus – und Volksmittel in den Kolonien am Karaman. So mancher wird sich wohl fragen, wo liegt eigentlich die Ursache, dass all diese Heilmethoden noch so stark im Volke wurzeln. Sind die Leute noch so wenig aufgeklärt oder haben sie kein Vertrauen zur Kunst des Arztes? Keineswegs! Der Grund liegt wohl darin, dass der „Semstwo“-Arzt nicht in der Lage war, den Anforderungen gerecht zu werden, die an ihn gestellt waren. Die Zahl der Hilfesuchenden war in den Sprechstunden so groß, dass von einer eingehenden Untersuchung keine Rede sein konnte. In erstaunlich kurzer Zeit mussten sehr viele Patienten abgefertigt sein. Zweifellos befand sich unter diesen eine große Zahl solcher, welche in die „Bolnize“ zu Gast gehen und nur wenig Zeit beanspruchten; aber für andere schwere Fälle reichte die zur Verfügung stehende Zeit bei weitem nicht aus. Vielfach mussten sie ohne gehörige Untersuchung und Diagnose mit einer harmlosen Tinktur abgeschoben werden. Daraus entstehen Klagen über ungenügende Verordnungen usw., und die Leute greifen wieder zu den Hausmitteln oder suchen einen Kurpfuscher auf.
Wolgadeutsche Monatshefte, 1924, Nr. 19/20.