Geschichte der Wolgadeutschen
UNSERE WIRTSCHAFT
Illustrierte Halbmonatsschrift
1924 № 3, 4

Русский

Die Grimmer Zentralschule *)
(Центральное училище в Лесном-Карамыше.)
Von A. Mattern.

Die Grimmer Zentralschule wurde 1868 gegründet und 1919 nebst allen anderen höheren Lahranstalten des vormaligen Gebiets der Wolgadeutschen in eine Schule 2. Stufe allgemeinen Typus für die R.S.F.S.R. umgestaltet. Da sehr viele Dorfschullehrer, Schreiber und andere Beamten unserer Republik diese Schule besucht haben, so möchte ich einen Überblick über deren Leistungen zu geben versuchen.

Die zwei Zentralschulen unserer Wolgakolonien – die Katharinenstädter und die Grimmer -  sind dem Leser wohl bekannt als Bildungsstätten, von wo aus Lehrer, Schreiber, Schulmeister hervorgingen. Da jedoch die Katharinenstädter Zentralschule 1857, die Grimmer erst 1868 gegründet wurde, so fragt es sich wo die Lehrer im Laufe des ersten Jahrhunderts unseres Hierseins an der Wolga bezogen wurden. Die Geschichte der Wolgakolonien berichtet, dass die Zarenregierung in Person des deutschen Kontors nebst der Geistlichkeit, die die Schulen damals verwaltete, keine Schritte zur Ausbildung von Lehrern unternommen hatte. Die Folgen davon kann man sich denken.


Schüler der obersten Klasse der Grimmer Zentralschule. Bezeichnend
für die damalige Russifizierungspolitik ist die auf dem an der Wand
hängenden Schildchen angebrachte Aufschrift: «Говорите по-русски!»


Die erste Generation der Kolonisten stellte die gebildeteren Elemente aus eigenen Mitte als Lehrer an. Die Schüler dieser Lehrer waren natürlich schon schwächer ausgebildet als die ersten Lehrer. Da jedoch auch um diese Zeit noch keine speziellen Anstalten zur Ausbildung von Lehrern bestanden, so mussten und konnten wiederum nur die Schüler der Schüler der ersten Lehrer angestellt werden. Die Bildung der letzten Gruppe war aber schon mehr den Kenntnissen eines Kälberhirten, als der eines Lehrers gleich.

So war infolge der Kopflosigkeit des Kontors und der rückschrittlerischen Gesinnung der Geistlichkeit die Bildung in unseren Kolonien bis zu den dreißiger Jahren des 19. Jahrhundert gänzlich in Verfall geraten, was selbst dem damaligen russischen Gouverneur auffiel. Er erstattete 1833 an das Ministerium des Innern einen entsprechenden Bericht über diesen Zustand, was zur Folge hatte, das noch in diesem Jahr zwei Kreisschulen – eine zu Katharinenstadt und eine zu Grimm – gegründet wurden.  Die Oberaufsicht über diese Schulen hatte der Oberrichter des Kontors, die Leitung der Schulen an Ort und Stelle war in Grimm dem Pastor Conradi, in Katharinenstadt – Pastor Wahlberg übertragen.

Außer dem Leiter wurden an jeder dieser zwei Schulen zu zwei Lehrern angestellt, die russische Sprache und Arithmetik (bis zu den Brüchen) vorzutragen hatten.  Geschichte und Geographie waren damals keine obligatorischen Fächer, konnten je nach Laune der Lehrer vorgetragen werden oder brauchten auch nicht vorgetragen zu werden. Der Lehrkursus dauerte 5-6 Jahre. Die Lehrer an diesen Schulen waren gewöhnlich ehemalige Kontorbeamte oder Einwanderer aus dem Baltikum.

 Die Leistungen dieser zwei Kreisschulen müssen unter der Leitung der Pastoren nicht gerade vom besten gewesen sein; denn die Verwaltung der Schulen wurde ihnen bald Entzogen und den Kreisämtern oder Privatpersonen anvertraut. Im Jahre 1854 äußerte sich der damalige Dirigierende des Kontors Frese folgendermaßen über diese Schulen:

“So lange die Direktion der Kreisschulen den Geistlichen zu Katharinenstadt und Grimm anvertraut war, gingen diese Anstalten unaufhaltsam der Versumpfung entgegen.“

 Die beiden Kreisschulen wurden im Jahre 1857 zu einer vereinigt, indem die Grimmer nach Katharinenstadt überführt wurde, so dass die Bergseite auf ein weiteres Jahrzehnt ohne solche Lehranstalt blieb. Die Ursache des Verfalls der Grimmer Kreisschule scheint darin zu liegen, dass die Lehrer, die darin angestellt waren, sich unter aller Kritik schlecht betragen (sich mit Sauferei, Kartenspiel, Unzucht, abgegeben) und noch schlechter unterrichtet haben müssen, weshalb die Eltern ihre Kinder einfach nicht in die Schule abgaben, so dass diese nur dem Namen nach bestand und deshalb eben geschlossen werden musste.

Die vereinigte Schule bekam nun den Namen „Katharinenstädter russische Zentralschule“, den sie bis zu Ende ihres Bestehens führte. Das frühere Programm der Kreisschulen wurde nun durch Einführung von Geschichte und Geographie erweitert, sowie Übungen in Orgelspiel eingeführt. Auch wurde für die vereinigten ehemaligen Kreisschulen ein entsprechendes Gebäude errichtet, worin die neue Schule bis zu ihrer Umgestaltung existierte.

Doch die eine Schule konnte unmöglich die nötige Zahl von Lehrern, Schulmeistern und Schreibern liefern. Das muss die Regierung bald eingesehen haben. Wir erfahren daher, dass das deutsche Kontor am 5. August 1866 einen Befehl bekam, auf der Bergseite eine Schule ähnlich der Katharinenstädter Zentralschule unter dem Namen „Lesno-Karamyscher russische Zentralschule“ zu gründen. Diese Schule kam nun auch zustande und wurde im Jahre 1868 eröffnet. Zum Unterhalt dieser Schule wurden 65.000 Rbl. aus dem Übersiedlungskapital und 35.000 Rbl. zum Bau eines Lokals bestimmt.

Das Schulgebäude der Grimmer Zentralschule – ein 2-stöckiges Haus – steht im Zentrum des Dorfes auf dem Marktplatze. Bei der Schule ist ein großer Hof, auf dem links und rechts vom Schullokal zwei Gebäude stehen, in denen Wohnungen für 4 Lehrer einberaumt sind. Auf der hinteren Seite des Hofes stehen die Nebengebäude: Stall, Holzbehälter, Getreidespeicher (Ambaren), Kellerhäuser für die Lehrer, Badestube und andere Räumlichkeiten. Überhaupt muss man sagen, dass diese Schule nach einem ausgezeichnet guten Plane angelegt wurde: alles ist hier bequem und zweckmäßig für Lehrer und Schüler. Diese Schule hat 4 Klassen und war von Anfang an auf 150 Schüler berechnet.

Das Programm war dasselbe wie in der Katharinenstädter Zentralschule, nur dass noch methodische Übungen für die Schüler der oberen Klasse in russischer Sprache und im Rechnen stattfanden. Der Lehrkursus dauerte sechs Jahre, in jeder Klasse saßen die Schüler also anderthalb Jahre. Bis 1889 wurde der Unterricht zum Teil in deutscher Sprache geführt; von da an wurde verlangt, dass alle Fächer in russischer Sprache vorgetragen werden. Eine Ausnahme bildeten nur Religion und deutsche Sprache.

Laut des Befehls der Regierung vom 5. August 1866 sollten alle Lehrer entweder Hochschul- oder wenigstens Mittelschulbildung haben. Im letzteren Falle mussten sie sich noch einem speziellen Lehrerexamen aus ihrem Fach unterziehen. Jedoch mit Hochschulbildung ist im Lauf von 50 Jahren kein einziger Lehrer dahin gekommen, und sogar Mittelschulbildung hatten bei weitem nicht alle Lehrer, die daselbst wirkten.

In den ersten Jahren der Neubelegung der Grimmer Zentralschule wurden wieder Vertreter und Günstlinge des Kontors als Lehrer dahin geschickt. Mit ihnen zog auch die frühere Lebensweise: Sauferei, Kartenspiel, Hader und andere spießbürgerliche Laster in die Mauern des vortrefflichen Schulgebäudes ein. Die ersten Lehrer hatten nichts weniger als eine kulturelle Leistung daselbst im Sinn. Demgemäss war auch das Verhalten der Bevölkerung zu dieser Schule: sie schickte einfach keine oder nur herzwenig Schüler.

In besseren Kredit geriet die Schule erst in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre, von welcher Zeit an fast nur Lehrer aus der Mitte der Kolonisten daselbst angestellt wurden. Von da an erreichte der Schülerbestand bald die volle Zahl 150 und überstieg diese noch, so dass bei weitem nicht alle aufgenommen werden konnten, die darum nachsuchten. Ja, ich kann aus eigenem Erlebnis mitteilen, dass in den letzten Jahren vor dem Krieg daselbst nicht selten Schüler lernten, die aus entfernten Dörfer der Wiesenseite stammen und die es näher gehabt hätten, in der Katharinenstädter Zentralschule einzutreten; nicht selten wurden sogar Schüler von Astrachan, vom Kaukasus und anderen entlegenen Orten dahin gebracht. Dieser Umstand interessierte mich, so dass ich mich nach dem Grund der weiten und umständlichen Reisen befragte. Die Antwort der Eltern lautete gewöhnlich, dass sie selbst hier gelernt haben und auch ihre Kinder nur dieser Schule anvertrauen. Bei noch näherer Betrachtung stellte es sich heraus, dass die von weit hergereisten Eltern als ehemalige Schüler der Zentralschule eine tiefe Verehrung zu dem Leiter der Schule – Karl Petrowitsch Dorsch – bewahrt hatten.

Erkundigen wir uns nach dem Lehrerbestande der Grimmer Zentralschule, so kommen wir bald darauf, dass wir es wirklich keinem anderen Manne als K.P. Dorsch zu verdanken haben, dass die Schule in solches Ansehen bei unseren Mitbürgern kam. K.P. Dorsch war seit 1886 bis zur Umgestaltung der Schule ununterbrochen deren Leiter. Vor ihm waren seit Gründung der Schule nur 2 Leiter. Der erste war ein Ostseeprovinzer – Eck, der die Schule von 1868 bis 1876 leitete; nach diesem kam Mühlberg, ebenfalls ein Ostseeprovinzer, der von 1876 bis 1886 daselbst wirkte.

Dorsch wurde 1882 als Lehrer angestellt und schon nach 4-jähriger Tätigkeit Direktor der Schule.

Von den Lehrern der Grimmer Zentralschule verdienen Erwähnung Gottlieb Bauer, der die Geschichte der deutschen Ansiedlung an der Wolga verfasst hat (herausgegeben von der Buchdruckerei „Energie“ – Saratow, 1908). Sodann war da ein junger Lehrer von den Kolonisten – Sinner, der russische Sprache vortrug. Er wurde eines Tages (im Jahre 1881) mit Arsenik vergiftet in seiner Wohnung tot vorgefunden. Man vermutete ein Kriminalverbrechen, das unentdeckt geblieben ist. Es wird angenommen, dass einige Saufbolde unter den Lehrern nebst einem Feldscher ihn als Konkurrenten in einer Liebesgeschichte auf diese Art beseitigt haben. Die Orgien, die hinter den Mauern der Zentralschule stattfanden, scheinen in diesem Falle ihren Höhepunkt erreicht zu haben.

Von den Lehrern, die zu Dorschs Zeiten wirkten, habe ich stets den Mathematiklehrer Karl Adamowitsch Schmidt am meisten loben hören. Ich kann es als sein Nachfolger daselbst bestätigen, dass die Schüler zu jener Zeit vorzügliche Kenntnisse in Mathematik besaßen. Lehrer Schmidt hat über 20 Jahre an der Zentralschule gewirkt. Sein Fehler war, dass er wohl von seinen Vorgängern das Trinken ziemlich gut gelernt hatte. Als zweiter tüchtiger Lehrer, obwohl ein unverträglicher Charakter, wurde mir stets der Lehrer der russischen Sprache Karl Jegorowitsch Fritzler genannt. Auch er war an 20 Jahre daselbst tätig. Ferner möchte ich aus jüngster Zeit Lehrer Julius Jung erwähnen, der deutsche Sprache vortrug und den Schülern vorzügliche Kenntnisse beizubringen verstand. Schade, dass er sich nunmehr als Kooperateur verdient zu machen sucht, wo er doch sicher ein geborener Pädagoge ist!

Wollen wir nun noch die Leistungen der Grimmer Zentralschule an der Hand einiger Zahlen überblicken! Im Lauf der Zeit von 1868 bis 1916 sind 3427 Schüler aufgenommen worden, von denen jedoch nur 368 das Reifezeugnis erhielten. Die große Differenz zwischen den beiden Zahlen der aufgenommenen Schüler und der Absolventen erklärt sich daraus, dass in den ersten Jahrzehnten nur sehr wenige Schüler die Schule bis zu Ende durchmachten. Da die Schule in sehr schwachem Rufe stand, so nahmen die Eltern ihre Kinder gewöhnlich vor der Zeit heraus. In späterer Zeit fiel dieser Umstand zwar weg, doch trat zugleich ein anderer Fall ein: es wurden zu hohe Kenntnisse im Russischen verlangt; infolgedessen blieben viele Schüler zum Wiederholen in einer Klasse sitzen, weshalb auch nicht wenige austraten. Zu diesen 2 Gründen kommt noch der Umstand hinzu, dass das Dorf Grimm gewöhnlich das größte Prozent (ein Drittel aller Aufgenommenen) lieferte, von dem jedoch nur selten einer die Schule bis zu Ende besuchte. Die Bauern hielten das in Aussicht stehende Lehrer- oder Schreibergeschäft für uneinträglich und nahmen ihre Kinder gewöhnlich nach der Konfirmation heraus. Auch waren es die Grimmer, die gewöhnlich die russische Sprache am schwächsten beherrschten, da die Jungen stets bei ihren Eltern wohnten und hier nie Gelegenheit bekamen, sich in Russischsprechen zu üben.

Nach ihrem zukünftigen Berufe verteilen sich die 368 Absolventen der Schule etwa folgendermaßen: 200 wurden Lehrer, 100 Schulmeister, 68 Schreiber oder Kontoristen. Doch auch die übrigen 3059 Schüler, die die Zentralschule besuchten, wenn auch nicht bis zu Ende des Kursus, sind für die Kulturarbeit in den Kolonien keineswegs zu unterschätzen. Diese verteilen sich nach ihrem Bildungsgrad etwa folgendermaßen: 559 gingen aus der dritten oder vierten Klasse heraus, etwa 1000 aus der zweiten und 1500 aus der ersten Klasse. Von den erstgenannten 559 sind fraglos die meisten Kolonieschreiber, viele davon Schulmeister, doch nicht wenige auch noch Lehrer geworden. Andere sind vor der Zeit hier ausgetreten, um in einer Mittelschule weiter zu lernen. Mit diesen zusammen kommt also doch die solide Zahl von beinahe 1000 Mann mit etwa 4-klassiger Bildung heraus, die die Grimmer Zentralschule im Lauf eines halben Jahrhunderts unseren Kolonien gestellt hat.

Nach dem Beruf ihrer Eltern waren das meist Söhne von Lehrern, Schulmeistern, Schreibern, Händlern. Bauernsöhne kamen von auswärtig nur selten dahin, wogegen die Grimmer fast ausschließlich Söhne der Bauern und Arbeiter (Textil – und Holzarbeiter) waren.

Soll ich nun noch als ehemaliger Katharinenstädter Zentralschüler und nachheriger Lehrer der Grimmer Zentralschule einen Vergleich zwischen beiden Schulen ziehen, so bleibt es für mich keine Frage, dass die Grimmer Schule viel höher stand als die Katharinenstädter. Die Schüler der Grimmer Schule erlernten die russische Sprache, trotzdem im Dorfe gar keine russische Bevölkerung vorhanden ist, doch viel besser als die Katharinenstädter, die dank der gemischten Bevölkerung viel mehr Gelegenheit hatten, sich im Russischen zu üben.

Dieser Vorsprung wurde dadurch erzielt, dass die meisten Schüler die Sommerzeit in Russischdörfern verbrachten, wozu sie ausdrücklich von der Schulleitung veranlasst wurden. Eine Ausnahme von dieser Regel bildeten nur die Grimmer Schüler, deren Eltern ihre Kinder nie dazu hergaben, was sich in der Regel auch darin zeigte, dass sie stets hinter anderen Schülern im Russischen zurückgeblieben.

Noch ein Umstand half hier sehr mit: Die auswärtigen Schüler wohnten in Privatquartieren zu 3, 4 bis 5 zusammen, wo sie ebenfalls von der Schulleitung angehalten wurden, miteinander nur russisch zu sprechen (wer zu Hause deutsch sprach, musste den anderen die Stiefel putzen oder ähnliche Arbeit verrichten). Auch in der Schule durften die Schüler in den Zwischenpausen nur russisch sprechen. Das sieht zunächst so aus, als ob hier eine verkappte  Russifizierung getrieben worden wäre; das war jedoch durchaus nicht der Fall. Trotz dieser strengen Forderungen in Bezug auf das Erlernen der russischen Sprache wurde die deutsche Sprache durchaus nicht vernachlässigt.

Die Schüler der Grimmer Zentralschule hatten so vortreffliche Kenntnisse in der deutschen Sprache, dass sich mit ihnen sicher auch kein einziger Schüler der Katharinenstädter Zentralschule hätte messen können. Denselben Vergleich könnte ich bezüglich eines jeden Lehrfaches ziehen und müsste immer zu demselben Resultat kommen, dass die Grimmer Zentralschule höher stand, ihre Schüler mehr und gründlichere Kenntnisse hatten als die Katharinenstädter. Auch das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler war hier ein viel einfacheres und natürlicheres als an der Katharinenstädter Zentralschule, wo zwischen Lehrer und Schüler nicht mehr und nicht weniger als eine dicke Wand bestand. Dort fürchteten sich die Schüler einfach vor dem Lehrer, besonders aber vor dem Leiter der Schule – Fedulow, vor dem alles mäuschenstill wurde und erzitterte, wenn er seinen Fuß in die Klasse setzte oder auch nur durch den Korridor ging. Ähnliches wird kaum jemand von der Grimmer Zentralschule behaupten.

Doch die Grimmer Zentralschule hat auch noch andere Leistungen aufzuweisen. So bestand hier einige Jahrzehnte ein Schülerverein zum Kampf gegen den Alkohol, das Rauchen und die geschlechtliche Unzucht und Zügellosigkeit unter der Schuljugend. Der Verein war regelrecht organisiert, so dass allwöchentlich Versammlungen abgehalten, Referate verlesen, Berichte erstattet und Diskussionen durchgeführt wurden. Auch wurden von dem Verein mehrere Broschüren herausgegeben, die auch auf dessen Kosten gedruckt und kostenlos, hauptsächlich unter der Jugend, verbreitet wurden. Von diesen Broschüren sind mir folgende bekannt: 1. Alkohol; 2. Der Tabak; 3. Der Wein ist Gift; 4. Über den mäßigen Weinverbrauch; 5. Ein Mahnwort an die Trinker und Nichttrinker (Plakat); 6. Ein Mahnwort an die Mütter über den Alkohol (Plakat).

Außerdem wurden mit den Schülern und der Bauernbevölkerung Bäume angepflanzt, wozu besondere Feiertage veranstaltet wurden. Dieser Versuch ist zwar an der Kaltblütigkeit der Bevölkerung gescheitert, was jedoch das Verdienst der Initiative nicht schmälert.

Die Seele dieser Arbeit war natürlich K.P. Dorsch. Auf seine Initiative hin wurde im Dorf eine Teehalle eröffnet, die von dem Verein der Antialkoholiker in Kamyschin unterhalten wurde. Hier wurden seit 1903 allwöchentlich zweimal Vorstellungen und Unterhaltungsabende für die erwachsene Bauernbevölkerung abgehalten. Außerdem hatte die Teehalle eine eigene deutsche Bibliothek von 700 Bänden, bezog deutsche Zeitungen; Damen- und Schachspiele standen jeden Abend zum Zeitvertreib frei.

Nach diesem Überblick der kulturellen Leistungen der Grimmer Zentralschule möchte mir nun noch gestattet sein, kurz den Lebenslauf des Mannes zu beschreiben, dem wir diese Arbeit hauptsächlich zu verdanken haben. K.P. Dorsch stammt aus der Kolonie Schwab (Buidakow Buerak); geboren wurde er am 22. März 1862 in Holstein, wo sein Vater Kreisschreiber war. Er besuchte die Realschule zu Kamyschin; nach Beendigung dieser Schule war er ein Jahr zu Hause und wurde im Jahre 1882 als Lehrer der Grimmer Zentralschule angestellt, wo er Naturwissenschaft, Geographie und Geschichte vortrug. In den ersten Jahren seiner Tätigkeit geriet er zum Teil in das Fahrwasser seiner Umgebung: auch er hatte das Trinken und Kartenspiel gelernt, ist jedoch bald zur Besinnung gekommen und wurde der entschiedenste Feind von Alkohol, Kartenspiel und jeglicher Art von Lastern und leerer Zeitvergeudung. Nach 4-jähriger Tätigkeit als Lehrer geschah es, dass bei einer Revision die ganze Saufkompanie an der Zentralschule in betrunkenem Zustande angetroffen wurde; K.P. Dorsch hatte jedoch keinen Anteil an der Trinkerei genommen. Da er sonst sich als der strebsamste und energischste unter den Lehrern hervorgetan hatte, so wurde er, der 24-jährige, nach dieser Revision als Leiter der Schule bestimmt, in welcher Eigenschaft er rund 40 Jahre an der Schule tätig war. Die jungen Jahre machten K.P. Dorsch anfangs sehr viel Schwierigkeiten bei der Arbeit. Die Lehrer konnten es nicht übers Herz bringen, sich dem jungen Kollegen zu fügen, der zudem noch der Trunksucht entschieden valet gesagt hatte und mit ebensolcher Entschiedenheit dieses Laster in der Schule auszurotten suchte. Diese seine Arbeit war nicht vergebens: so mancher seiner Schüler wird ihm heute noch einen klaren Standpunkt in dieser Frage verdanken. Ich bin in dieser Frage sein treuester Schüler geworden, welchen Standpunkt ich bis auf den heutigen Tag konsequent gewahrt habe.

Der Krieg und die Revolution haben R.P. Dorsch ziemlich stark mitgenommen, manchmal sogar in Todesgefahr gebracht. Während der Deutschenhetze 1916 wurde er als deutscher Nationalist seines Amtes enthoben. Er übernahm daher die Leitung des Balzerer Privatgymnasiums, wo er bis 1918 tätig war und dann wieder an seine alte Stelle überführt wurde.

Während der Banditenaufstände 1918 und besonders 1921 kam er zwischen zwei Feuer, da beide Lager beim Durchzug durch das Dorf den Hof der Zentralschule für das bequemste Standquartier ansahen. Sa hatten ihn die Banditen zwingen wollen, als Agitator für sie aufzutreten, was er jedoch zu tun sich entschieden weigerte und dafür 2 Wochen arretiert war.

Vor den roten Truppen wurde er ebenfalls verdächtigt, und nur Arrest vonseiten der Banden rettete ihm das Leben. Unter der Bauernbevölkerung wird K.P. Dorsch für einen Bolschewisten freund gehalten. Er trat tatsächlich während der Revolutionszeit stets für jegliche kulturfortschrittliche Neuerungen ein.  

So steht er unerschrocken und unermüdlich heute noch auf seinem Posten, zwar nicht in allem den Anforderungen der neuen Schule entsprechend, dennoch aber keineswegs hinter anderen Lehrern unserer Zeit zurückstehend. Gesundheitlich ist er noch sehr rüstig, was er selbst, sowie auch die Ärzte nur seiner enthaltsamen Lebensweise (er ist konsequenter Vegetarier) zuschreiben.

Auch in dieser Hinsicht hat K.P. Dorsch ein nicht geringes Verdienst bei unserer Bevölkerung. So manchem hat er als Naturheilkundiger durch entsprechende Ratschläge zur Gesundheit verholfen, wo man schon alle Hoffnung glaubte augeben zu müssen. Belohnung hat er für diese Ratschläge nie angenommen, obwohl er nicht selten große Unannehmlichkeiten auszustehen hatte, da man ihn von ärztlicher Seite darum anfeindete und sogar vor Gericht zog. Er ließ sich dadurch doch nicht entmutigen und bleibt unentwegt bei seiner Ansicht, dass nur durch Rückkehr zu einer natürlicheren Lebensweise eine wirkliche Gesundung unseres Volkes zu erzielen ist.

Nach meiner tiefsten Überzeugung haben wir eine Kulturkraft ersten Ranges in K.P. Dorsch, der eine Leistung hinter sich hat, wie kaum eine zweite Person in unserem Gebiet. Suchen wir nach Arbeitshelden, die verdienen auf die rote Tafel zu kommen, so würde ich als ersten Karl Petrowitsch Dorsch nennen.


*) Das Material zu dieser Darstellung entnehme ich einem Informationsberichte des vieljährigen Leiters der Grimmer Zentralschule, K.P. Dorsch, sowie dem Geschichtswerk von Gottlieb Bauer. Als dritte Quelle dienen mir eigene Erinnerungen aus meiner Lehrzeit zu dieser Schule (von 1910 bis 1913).


„Unsere Wirtschaft“, 1924, Nr. 3, S. 72-75, Nr. 4, S. 107-109.