Geschichte der Wolgadeutschen

FRITZ HEINZ REIMESCH

DIE DEUTSCHEN WOLGAKOLONIEN

VON IHRER GRÜNDUNG BIS ZU DEN
TAGEN IHRER GRÖSSTEN LEIDENSZEIT


Reimesch, F. H.: Die Deutschen Wolgakolonien. Von Ihrer Gründung bis zu den Tagen ihrer größten Leidenszeit. / Aus verschiedenen Werken, Briefen und Berichten zusammengestellt und mit einem Vorwort versehen von Fritz Heinz Reimesch. Hrsg. v. d. Verein der Wolgadeutschen e.V. – Berlin: Druck von Bernard & Graefe, 1922. – 32 S. – Reprint.


Vorwort.

Die Not der deutschen Kolonisten an der Wolga sowie im übrigen Rußland ist heute eine in Deutschland und im Ausland bekannte Tatsache. Es ist dies schon sehr viel; denn für gewöhnlich kümmerte sich die deutsche Allgemeinheit herzlich wenig um das Schicksal der Auslanddeutschen. Zwar hat sich in dieser Beziehung seit dem November 1918 manches geändert — nicht als Folgeerscheinung der Revolution —; man begann in Deutschland, nach Freunden in der Welt Umschau zu halten, die einem helfen konnten und dies aus Herzensbedürfnis heraus auch wollten, und sah staunenden Auges, daß Millionen Deutscher, zwar nicht als deutsche Staatsbürger, aber als treue Glieder ihres Volkes, jenseits der deutschen Grenzpfähle leben. Es ist zwar noch immer nicht möglich, daß die Grenz- und Auslanddeutschen von Amtswegen als „Deutsche“ anerkannt werden, und wer als Auslanddeutscher heute nach jahrelanger Arbeit und unendlichen Laufereien und Verhören, sowie nach Zahlung einer erheblichen Summe Geldes endlich das Bürgerrecht in Deutschland erworben hat, der erhält ein Blatt Papier, auf dem ihm bescheinigt wird, daß der Empfänger bei Übergabe dieses Papieres „Deutscher“ geworden sei. Man will in den muffligen Schreibstuben, in denen der gutgeflochtene Zopf noch immer herrscht, nicht einsehen, daß deutsch sein keine Frage der Staatszugehörigkeit ist, sondern eine des Blutes, daß ein Hottentotte oder Japaner wohl deutscher Staatsbürger werden kann, aber nie ein Deutscher, daß also einem Auslanddeutschen keine noch so hohe Behörde im Reich die Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum zu verleihen vermag. Es ist geradezu verwunderlich, daß bei den so mannigfaltigen Umwandlungen in Deutschland sich diese schiefe Auffassung nicht verändern läßt. Zu hoffen aber ist, daß durch die unentwegte Arbeit all der Männer und Frauen, die sich für die innerliche Gleichstellung aller Deutschen, so sich diese nur wirklich in Worten und Taten zu ihrem Volkstum bekennen, einsetzen, auch die äußerliche Gleichstellung wenigstens insofern erreicht wird, daß reichsdeutsche Behörden nicht immer und immer wieder den Auslanddeutschen Hindernisse in den Weg legen.

Warum aber klafft zwischen dem Deutschtum des Reiches und dem Grenz- und Auslanddeutschtum dieser bedauerliche Abgrund? Der sonst so gründliche deutsche Schulunterricht hat, da er eben nur auf den deutschen Staat und kaum aus das deutsche Volk eingestellt war, gänzlich in diesem Punkte versagt. Die große Masse der deutschen Staatsbürger hat von den 30 Millionen Deutschen außerhalb des Reiches so gut wie nichts gehört und wenn, dann so oberflächlich, daß die Wirkung sehr gering war. Daß Nikolaus Lenau ein Banater Schwabe, Franz Liszt ein Burgenländer war, weiß man nicht; diese Heroen deutschen Geistes wurden einfach, da sie groß waren, zu „Deutschen“ im bürokratischen Sinne gemacht, obwohl sie Auslanddeutsche waren. Allgemeinhin aber betrachtete man die Auslanddeutschen als Abtrünnige, als Menschen, die dem Grundsätze „ubi bene, ibl patria“ huldigten; man untersuchte kaum, weshalb die deutschen Menschen ausgewandert waren, stempelte sie womöglich, weil sie treue Bürger ihres Herbergestaates waren, zu Feinden des Mutterlandes. Daß die Vorfahren der Auslanddeutschen vor Jahrhunderten ausgewandert waren, also zu Zeiten, als es noch kein Deutsches Reich im heutigen Sinne gab, sondern nur die armselige politische Zerrissenheit deutschen Landes in Dutzende von Staatchen, man von ihnen also kein innerliches Verhältnis zum Deutschen Reich verlangen konnte, bedachte man nicht. Daß aber auch viele blutenden Herzens gegangen waren, weil sie nicht von ihren Landesherren als Kanonenfutter verschachert werden wollten, oder ihren Glauben nicht abschwören, konnten, das wollte man nicht wissen. Wohl find Hunderttausende deutscher Auswanderer dem deutschen Volkstum verloren gegangen, sind verdorrt in der Fremde. Die meisten aber hätten erhalten bleiben können, so sich das Mutterland nur ein wenig seiner Kinder angenommen hätte. Deutsche Volkspolitik aber ist ja bisher herzlich wenig betrieben worden. Wie viele Bitten deutscher Auslandsgemeinden sind in den letzten fünfzig Jahren verhallt! Für die nach deutscher Schule, nach deutschen Kulturwerten rufenden Auslanddeutschen hatte man kaum etwas übrig. Für Negerkinder strickten Hunderte, tausende deutscher Frauen Strümpfe, für die Auslanddeutschen setzte sich mit Ausnahme einiger Vereine kaum jemand ein.

Immer und immer wieder mußte man das mehr oder weniger geringschätzige Achselzucken der Reichsdeutschen sehen. Daß der Auslanddeutsche sich alles aus seinen bescheidenen Mitteln geschaffen hatte. Schulen und Kirchen, Lesehallen und Kinderhorte, Anstalten, in denen das Deutschtum gepflegt wurde, das von den Umwohnenden hart bedrängt war, das wurde übersehen. Man sah nur die Mängel; wie schwer es aber die Auslanddeutschen hatten, das durste der deutsche Staat nicht sehen, denn mit seiner ewigen diplomatischen Leisetreterei in solchen Dingen, fürchtete er, die „Souveränität“ des Staates zu verletzen, falls er sich für die dort lebenden und bedrückten Auslanddeutschen ins Mittel legte. Wenn England und Amerika die Türkei drückte, weil irgendein Armenier die Bastonade wahrscheinlich verdienterweise erhalten hatte, dann war das richtig; wenn man aber in Rußland Hunderte deutscher Schulen sperrte, dann blieb es in der Wilhelmstraße still.

Doch genug dieser Worte! Sie mögen jedem guten Reichsdeutschen zu denken geben, ob man's nicht bester machen kann. Die folgenden Ausführungen sollen dem Leser in ganz groben Umrissen die Geschichte der deutschen Wolgakolonien zeigen. Eine Geschichte, die nicht große Waffentaten, dafür aber um so mehr stille, angestrengte, deutsche Kulturarbeit aufweisen kann, geleistet allzuoft unter dem Trommelfeuer russischer Knuten- und Paschawirtschaft. 150 Jahre haben sich diese wackeren Hessen und Schwaben so deutsch erhalten, daß man auch heute noch nach Mundart und Tracht genau feststellen kann, woher die Einwanderer stammten. Auch diese Deutschen, die heute den entsetzlichsten Jammer durchleben müssen, den je Deutsche erdulden mußten, waren nach Ansicht so vieler im Reiche „verrußt“. Ein großer Teil des vergroßstädterten deutschen Volkes ist viel weiter vom deutschen Volkstum entfernt, als diese deutschen Bauern an der Wolga, denen freilich sehr viel von dem Zivilisationslack fehlt, den man heute „deutsche Kultur“ nennt.

Sie sind Deutsche geblieben und werden es auch alle Zeit bleiben, so es gelingt, sie aus der heutigen Not zu retten. Das ganze deutsche Volk aber muß helfen, wo immer es lebt, und die folgenden Ausführungen, die aus zwei Büchern des Wolgadeutschen Pfarrers Johannes Schleuning und zwar: „Die Deutschen“ (Schriften zum Selbstbestimmungsrecht der Deutschen außerhalb des Reiches), Verlag Verein für das Deutschtum im Ausland; und „Aus tiefster Not“, Verlag Carl Flemming und C. Wiskott, zusammengestellt sind, mögen dem deutschen Volke die hohen sittlichen Werte zeigen, die hier, tausende von Kilometern fern vom Mutterlands, wirken und einem grauenvollen Untergang preisgegeben sind, falls nicht gründlich geholfen wird!

Berlin, Schloß Bellevue, im Mai 1922.

Fritz Heinz Reimesch.

 

Vorwort zur 2ten Auflage.


  1. Читать книгу в PDF

Публикация книги осуществлена с целью ознакомления и не преследует никакой коммерческой выгоды. Любое коммерческое и иное использование, кроме предварительного ознакомления, запрещено.