Krieger, V.: Rotes deutsches Wolgaland: Zum 100. Jubiläum der Gründung der Wolgadeutschen Republik: eine populärwissenschaftliche Darstellung: Geschichte der Deutschen aus Russland. Projekt der VIRA e.V. – Düsseldorf: Vereinigung zur Integration der Russlanddeutschen Aussiedler e.V., 2018 – 114 S.: Ill.
ISBN 978-3-00-061635-8
EINFÜHRUNG
Unter den 2,5 Mio. Bundesbürgern mit einem russlanddeutschen Hintergrund befinden sieh Hundert-tausende Personen, deren Vorfahren seit 1764 an der Wolga angesiedelt wurden. Aufgrund einer beispiellosen demographischen Dynamik entstand im Laufe von 150 Jahren aus den ursprünglichen 23 Tsd. Kolonisten eine um die 570 Tsd. Menschen zählende Bevölkerungsgruppe, die ober- und unterhalb der Wolgametropole Saratow weite Landstriche kompakt bewohnte. Unter den im Vergleich zur alten Heimat Deutschland völlig anderen politischen, sozialen, geographischen und klimatischen Bedingungen begann sich allmählich ein neues gruppenbezogenes Selbstverständnis herauszubilden: von den Deutschen an der Wolga zu den Wolgadeutschen.
Nach der Machtergreifung 1917 bemühte sich die bolschewistische Führung um die Unterstützung zahlreicher Völker des einstigen Russischen Reiches: Ihnen wurde eine freie nationale Entwicklung und das Selbstbestimmungsrecht bis hin zur Gründung eines eigenen unabhängigen Staates versprochen. Neben den Ukrainern, Kasachen, Georgiern, Tataren, Kalmücken u.a. Nationalitäten wurden die Wolga-deutschen als ein genuin russländisches Volk mit Recht auf territoriale Autonomie anerkannt. Am 19. Oktober 1918 erschien das Regierungsdekret über die Gründung des Autonomen Gebiets (der Arbeiter-kommune) der Wolgadeutschen, das Anfang 1924 zur .Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen' (ASSRdWD) aufgewertet wurde.
Bei aller Gleichschaltung und Unterordnung gegenüber den zentralen Partei- und Staatsstellen in rechtlichen, politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Fragen, dürfen die positiven Auswirkungen einer national-territorialen Autonomie im Sowjetstaat nicht übersehen werden. Dazu zählten die Förderung der nationalen Funktions- und Bildungselite, deutschsprachiges Schul- und Hochschulwesen, nationale Museen und Theater, Repräsentanz in den zentralen und lokalen Maehtstrukturen. Eine weitere, nicht zu unterschätzende Bedeutung der Wolga-deutschen Republik für die betroffene Minderheit bestand darin, dass ihre ständige Präsenz in Massenmedien und Öffentlichkeit dem Partei- und Staatsapparat sowie der gesamten Sowjetbevölkerung eine klare Botschaftsendete: Die Deutschen sind anderen Nationalitäten gleichberechtigt. Neben der gesetzlich festgeschriebenen Vertretung auf allen Ebenen der sowjetischen Legislative schuf die territoriale Autonomie feste Rahmenbedingungen für sprachliche, soziokulturelle und intellektuelle Entwicklungs-perspektiven. Diese kamen auch den Deutschen aus anderen Regionen zugute.
Die Liquidation der ASSR der Wolgadeutschen im August 1941 markierte den Übergang zu einer breitangelegten Verfolgung und Diskriminierung der gesamten Minderheit. Der Großteil des Territoriums der einstigen Republik fiel dem benachbarten Gebiet Saratow zu, der Rest ging an das Gebiet Stalingrad (Wolgograd). Bis Ende 1941 wurden aus der Wolga-republik, aus den Städten Saratow und Stalingrad bzw. aus den benachbarten Rayons um die 439 Tsd. Wolgadeutsche nach Sibirien und Kasachstan deportiert, ihr gesamtes Hab und Gut restlos konfisziert, nationale Bildungs- und Kultureinrichtungen liquidiert, Objekte der geistigen und materiellen Kultur zweckentfremdet oder vernichtet.
Trotz der immer wieder auftretenden Forderungen der Betroffenen seit Mitte der 1950er Jahre, trotz der Aufhebung des Kollaborationsvorwurfes im Jahr 1964 und trotz der Selbstverpflichtung zur „Wiederherstellung der territorialen Integrität", wie es im Gesetz der Russländischen Föderation vom 26. April 1991 „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker" festgeschrieben ist, ist die territoriale Autonomie der (wolga)deutschen nationalen Gruppe nicht wiedererrichtet worden.
Die verweigerte territoriale Rehabilitierung birgt nach wie vor auch für den Einzelnen schwerwiegende Nachteile, weil im heutigen Vielvölkerstaat Russland - wie auch in der einstigen UdSSR - politische Interessenvertretung, lokale Selbstverwaltung und sprachlich-kulturelle Förderung einzelner Nationalitäten an die Existenz einer regionalen Autonomie gebunden sind. Die ausgebliebene Wiederherstellung der Wolgarepublik wird auch weiterhin nicht selten als Beweis einer vermeintlichen Schuld gedeutet und begünstigt somit eine offene bzw. latente Germanophobie. Darüber hinaus fand bis heute keine materielle Entschädigung für das 1941 konfiszierte Vermögen statt.
Diesen Tatsachen muss die bundesdeutsche Aussiedlerpolitik gebührend Rechnung tragen, weil das kollektive Kriegsfolgenschicksal nach wie vor auf den Nachkommen der einstigen Wolgadeutschen und insgesamt auf Russlanddeutsehen in der RF und in anderen Ländern der GUS lastet. Nach wie vor ist die nationale Verantwortung gefordert, welche die Bundesrepublik Deutschland nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges u.a. für das schwere Schicksal der deutschen Minderheit in der UdSSR übernommen hat, die bis heute unter den Folgen des nicht von ihr verursachten Krieges leidet.