Fleischhauer, I.: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft. – Erftstadt: Area Verlag, 2005. – 671 S.
Ein in der Sachbuchliteratur oft vernachlässigtes, aber bedeutendes Kapitel der europäischen Geschichte ist die Beteiligung deutscher Einwanderer an der Erschließung und Entwicklung des Russischen Reiches. In ihrer lebendigen und spannenden Schilderung deckt Dr. phil. Ingeborg Fleischhauer bisher unbekannte Aspekte dieser deutsch-russischen Vergangenheit auf. Ausfuhrlich und wissenschaftlich fundiert verfolgt sie über zwei Jahrhunderte, wie deutsches Bürgertum, deutschbaltischer Adel sowie die von Katharina der Großen herbeigerufenen Kolonisten an der Geschichte Rußlands mitwirkten.
Vorwort
Die Geschichte der Deutschen unter dem Doppeladler zu schreiben, galt bisher als ein Unternehmen, das die Möglichkeiten eines einzelnen Forschers in vielen Aspekten überschreitet. Dabei war man sich durchaus des Desiderats einer solchen Untersuchung bewußt. Als die Stiftung Volkswagenwerk gegen Ende der siebziger Jahre der Erforschung der deutschen Minderheit in Osteuropa breitere Aufmerksamkeit zukommen ließ, konnten wir, zusammen mit meinem Kollegen an der Hebräischen Universität Jerusalem, Benjamin Pinkus, und unter kollegialer Unterstützung durch Herrn Prof. Richard Löwenthal in Berlin, die Aufarbeitung der Geschichte der Deutschen in der Sowjetunion in Angriff nehmen. Als dem Historiker dieses Teams fiel es mir dabei zu, die Fragen der geschichtlichen Kontinuitäten der Präsenz dieser nationalen Minderheit auf osteuropäischem Hintergrund zu klären und in geeigneter Weise darzustellen. Schon bei meinen ersten Versuchen, mich in die vorhandene Literatur einzulesen, wurde der Mangel an Vorarbeiten deutlich, die dem heutigen historischen Verständnis gerecht werden. Zwar fehlte es nicht an spezialisierten und gelehrten Einzelstudien — wobei die Arbeiten, die Prof. Erik Amburger über die letzten fünf Jahrzehnte vorgelegt hat, das breite Feld der Forschung an vielen Stellen in schöner Weise bestellt hatten. Doch mußten Leitlinien entdeckt werden, die durch mehrere Jahrhunderte russischer Geschichte führten, Verbindungen hergestellt werden, die von den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches bis ins Schwarzmeerbecken und asiatische Rußland reichten, und damit Gemeinsamkeiten aufgedeckt werden, die — bisher ungesehen — die Geschichte der deutschen Volksgruppe im europäischen Osten charakterisierten und ihre Geschicke bis zu einem gewissen Grade bestimmten.
Unzählige Fragen mußten dabei aufgeworfen oder angeschnitten werden. Zahlreiche mußten beantwortet werden. Einige so gut wie unbeantwortet bleiben. Zu diesen gehört vor allem eine Frage, die sich durch die gesamte Betrachtung wie ein roter Faden hindurchzieht, nämlich die Frage, wer denn tatsächlich im europäischen Osten als ein »Deutscher« bezeichnet werden kann, wann und unter welchen Umständen sich ein Prozeß der Assimilation vollzog und wann dieser Prozeß als abgeschlossen betrachtet werden kann oder muß. Diese Frage ist auf merkwürdige und unerwartete Weise gegen Klärungsversuche immun. Aus welcher Sicht man sie auch zu lösen versucht — sie widersetzt sich einer einheitlichen Behandlung. Das russische Volksempfinden tut sich - wie dies in den Vielvölkerstaaten der Vergangenheit eine häufige Praxis war und noch heute in der Sowjetunion eine Fortsetzung findet — mit ihr nicht schwer, wenn es einen Menschen mit deutsch (oder einfach westlich fremd) klingendem Namen, einem (in der Regel) fremden Glaubensbekenntnis und gelegentlich fremden Sitten als nemec (der Deutsche), eine Gruppe solcher Personen als nemcy (die Deutschen) oder auch, meist wohlwollend, als nashi nemcy (unsere Deutschen) bezeichnet. Diese Redewendungen werden auch dann unbeirrt gebraucht, wenn diese Deutschen über einen langen Zeitraum hinweg im baltischen und slawischen Osten gelebt und sich mit dem russischen Volk oder anderen, im Russischen Reich und dann im Sowjetstaat lebenden Völkern, verbunden und vermischt haben. Dabei sind diese Ausdrücke meist von stereotypen Vorstellungen begleitet, die in der Regel ambivalent waren und sind, wobei im Laufe der Geschichte häufig, und heute wohl überwiegend, der positive Wertakzent dominiert. Solche Stereotype — sie würden eine besondere Betrachtung erfordern — sind meist beharrlicher als die sich wandelnden historischen Realitäten und garantieren die anhaltende Verständlichkeit und Funktionsfähigkeit dieser Bezeichnungen.
Der Historiker, der sich mit der Erforschung dieser nationalen Minderheit befaßt, hat es da schwerer. Die Vielfalt von Gruppen und Segmenten, die die deutsche Bevölkerung im Russischen Reich konstituierten, erlaubt es ihm nicht, mit den üblichen Kategorien und Kriterien zu arbeiten. Wenn die deutsche Bevölkerung der baltischen Ostseeprovinzen sich noch relativ leicht mit dem hergebrachten Instrumentarium der Volksgruppenforschung behandeln ließe, so werfen schon alle jene tatkräftigen Elemente der baltischen Ritterschaften und städtischen Bürger, die sich in die Tiefen des Reiches begaben und an den entlegensten Orten ihre Spuren hinterließen, die Frage auf, ob sie in erster, zweiter oder gar dritter Generation noch als Deutschbalten im eigentlichen Sinne zu bezeichnen sind. Traten familiäre Verbindungen zu anderen Volksgruppen auf, so kompliziert sich die Frage. Und wurde ein Übergang zur Orthodoxie — als Glauben oder Staatsreligion — vollzogen, dem gelegentlich eine Slawisierung des Namens folgte, so kann der Historiker die fraglichen Personen und Familien nur mit großer Beklommenheit der »deutschen« Bevölkerung des Zarenreiches zurechnen. Denn diese Personen haben sich ja selbst für andere nationale, religiöse und kulturelle Bindungen entschieden. Und sie hatten dafür — in der Regel gewichtige — Gründe. In diesen Fällen findet der historische Betrachter im russischen Volksempfinden einen versöhnlichen Verbündeten: Es scheint — trotz allen äußeren Anscheins - doch etwas erhalten geblieben zu sein, was diese Menschen noch immer und über lange Zeit im tagtäglichen Leben erkennbar macht. Und dieser Restbestand einer nationalen Identifikation — ob sie nun in dem Einzelnen selbst erhalten blieb oder von seiner andersethnischen Umwelt auf ihn projiziert wurde — konnte in besonderen Situationen (wie etwa den außenpolitischen Konflikten zwischen dem Russischen und Deutschen Reich) zum Ausgangspunkt besonderer Entwicklungen werden. Latent dürfte also die Frage der Zugehörigkeit zum deutschen Volke eine größere Rolle gespielt haben, als sie der Historiker heute aus den ihm zugänglichen Zeugnissen ablesen kann.
Eine vergleichbare Frage stellt sich neben den Deutschbalten auch für die deutsche kolonistische Bevölkerung. Solange diese noch in den relativ geschlossenen deutschen Siedlungsgebieten zusammenlebte, konnte sie zu Recht als deutsche Bevölkerung in Rußland bezeichnet werden. Mit dem Aufbruch aus den Kolonienbezirken und der gesellschaftlichen Mobilität, die auch diese ehemaligen Bauern und Handwerker in die etablierten Stände und Berufsgruppen sowie unterschiedlichsten Provinzen führte, tritt analog die Frage auf, wie lange man sie zu Recht als »Deutsche« bezeichnen kann. Und dies besonders in den Fällen, in denen eine bewußte und willentliche »Russifizierung« von Kultur, Namen und Religionszugehörigkeit vollzogen wurde. Eine nachträgliche nationale Rückbindung dieser Personen scheint bis zu einem gewissen Grade das Maß an Gewalt, das der Historiker, der diese Geschichte schreiben will, ihnen notwendig und wissentlich antun muß.
Dies betrifft a fortiori die deutschen Bevölkerungsteile, die weder über die Ostseeprovinzen noch auf dem Wege der Kolonisation ins Russische Reich gelangten, sondern vielmehr als Einzelne zielstrebig und direkt die russischen Städte, ein adliges Gut oder eine Forstei, die Bergwerke des Urals oder die Universitäten des Landes ansteuerten, um hier ein neues Milieu der Wirksamkeit und des Lebens zu suchen. Sie haben sich manchmal schon in der ersten, in vielen Fällen in der zweiten, häufig aber in der dritten Generation in der russischen Gesellschaft so heimisch gefühlt, daß sie sich selbst kaum mehr als Deutsche verstanden hätten.
Gruppen anschlössen, sprachlich deutlich, wann in diesen Fällen Assimilationsprozesse vorliegen. Und ich verwende schließlich für die über das ganze Reich verstreute deutsche Bevölkerung, die (in der Regel) aus »Deutschland«, das heißt den deutschen Fürstentümern oder freien Reichsstädten sowie später dem Deutschen Reich kamen und sich im Russischen Reich bis zu einem gewissen Grade assimilierten, die Ausdrücke »Deutschrussen« (so spricht man ja auch von »Deutschamerikanern«) und »deutschrussische Bevölkerung«. In Fällen, in denen starke nationale Querverbindungen und deutliche Assimilationsvorgänge vorliegen oder die Verbindung zur deutschen Volksgruppe weit zurückliegt, werden die umschreibenden Ausdrücke von »Personen deutscher Herkunft« sowie »deutschstämmigen Personen« verwendet, ohne daß hiermit eine Wertung verbunden wäre. Im Hinblick auf die Gesamtheit der im Russischen Reich lebenden Deutschen fand und findet ferner der Ausdruck »(all)russische (rossijskie) Deutsche« Verwendung. Personen mit einem russischen und einem deutschen Elternteil werden Deutschrussen genannt. Diese Begrifflichkeit ist zwar keineswegs vollkommen, doch gibt sie wenig Anlaß zu Mißverständnissen. Andere, in der Literatur häufig verwendete Begriffe scheinen mir weniger geeignet und sind zudem häufig historisch zu stark belastet, um ein gültiges Äquivalent für die hier gewählten Ausdrücke abzugeben. Das Ziel größerer Allgemeinverständlichkeit wurde auch bei der Wahl der hier verwendeten Transkription der russischen Namen und Worte verfolgt. Aus wissenschaftlicher Warte ungenügend präzis, soll sie das Erkennen und die Aussprache der Namen erleichtern.
Um alle diese fluktuierenden Identifikationen im Fluß zu erhalten und sie nicht zu fester Begrifflichkeit gerinnen zu lassen, wurde hier eine Terminologie gewählt, die zum Teil von diesen Deutschen selbst in den glücklicheren Zeiten ihres Aufenthaltes im baltischen und slawischen Osten (und das heißt: vor der Zuspitzung ihrer Lage vor dem Hintergrund außenpolitischer Konflikte) verwendet wurde: Ich habe die deutsche Bevölkerung der russischen Ostseeprovinzen als »Deutschbalten« und dort, wo sie außerhalb dieser Provinzen stark an ihre russische Umgebung assimiliert waren, als »Personen (mit bzw. von) deutschbaltischer Herkunft« bezeichnet. Ich spreche von den »deutschen Kolonisten« beziehungsweise ab 1871 auch von den »deutschen Siedlern« und mache dort, wo ehemalige Kolonisten sich außerhalb der Kolonienbezirke betätigten und an andere nationale Bei Abschluß der Niederschrift dieser Geschichte, die die erste, die verschiedenen Segmente dieser Bevölkerungsgruppe umfassende Geschichte der Deutschen im Zarenreich ist, und die insofern auch zu Verbesserungen und , Vertiefungen einladen will, möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre Unterstützung sowie jenen persönlich danken, die durch Gespräche oder Lesen des Textes in seinen verschiedenen Redaktionen zur Klärung vieler Fragen beigetragen haben. Es sind dies vor allem Herr Prof. Erik Amburger, I. D. Tatjana Fürstin Metternich, die Herren Staatssekretär a. D. Bernt von Staden, Dr. Nikolaus Fasolt, Henning von Wistinghausen und Prof. Dietrich Geyer. Ihren interessierten Fragen und Anregungen sind manche Konturen dieses Werkes zuzuschreiben, das dem Leser eine Vertiefung seiner Kenntnisse, ein neues Verständnis bestimmter Zusammenhänge und nicht zuletzt Freude an der russischen Geschichte bringen möge.
Ostern 1986
I. F.