Geschichte der Wolgadeutschen

DAS DEUTSCHTUM IM AUSLAND

VIERTELJAHRSHEFTE DES VEREINS FÜR DAS DEUTSCHTUM IM AUSLAND
(ALLG. DEUTSCHER SCHULVEREIN) E. V.


Bolschewismus und die Wolgadeutsche

Im Prinzip hat der Bolschewismus auch den deutschen Wolgabauern die Nationalisierung zugesichert. Sie haben ihr eignes Rätekommissariat, für ihre Schulen und für Bibliotheken werden — großzügig wie die Bolschewiki mit Geld umzugehen pflegen — große Summen ausgeworfen, ihre Sprache ist unbeanstandet und ihre Presse wird deutsch gedruckt, aber alles natürlich nur im bolschewistischen Sinne. Da die deutschen Wolgabauern in der Mehrzahl Besitzer sind, wenn oft auch kleine, eine ausgesprochene Freude am Eigentum haben und dem bolschewistischen Kommunismus (fauch aus ihrem religiösen Empfinden heraus) fremd und feindlich gegenüberstehen, bedeutet das alles keine wirkliche Freiheit für sie, sondern sie fühlen sich ärger als je bedroht und geknechtet. Gegen die deutschen „Dorfwucherer“ ziehen die umliegenden russischen roten Banden mit besonderer Freude zu Feld, erschütternde Szenen spielen sich in den mitten im Kampfgebiet zwischen den Bolschewiki und den Tschecho-Slowaken gelegenen Kolonien ab, vor nicht allzu langer Zeit gab Alfons Paquet einen Bericht, der die furchtbaren Ereignisse in einer Kolonie schildert. Leute, die gerade auf deutschen Schutz gehofft haben, sind so bisweilen den Monarchisten und Tschecho-Slowaken in die Hände getrieben.

Ein wirklicher Schutz wäre in diesem Hexenkessel nur durch deutsche Truppen zu bringen gewesen, wie diese ja auch im Süden die bedrängten deutschen Kolonisten gerettet haben. Ein deutscher Marsch an die Wolga aber erfolgte nicht und, wie die Dinge lagen, konnte er auch schwerlich erfolgen. Allein in den Zusatzverträgen zum Frieden von Litauisch-Brest haben die Kolonisten den Beweis, daß Deutschland sie nicht vergessen hat. Es wird ihnen dort bekanntlich versprochen, daß sie innerhalb zehn Jahren ohne materiellen Schaden auswandern und durch eine Erklärung unter den Schutz der deutschen Behörden treten können, bevor sie noch Reichsbürger sind. Die bolschewistische Wühlarbeit gebt jetzt dahin, die Bestimmungen unwirksam zu machen; nach durchgeführter Sozialisierung werden die Wolgabauern nichts mehr herüber zu nehmen haben. Kürzlich veröffentlichten die „Nachrichten des Vollzugskomitees der Räte der deutschen Kolonien im Wolgagebiet“ zu Saratow am 28. Juli folgende Verordnung: Laut Verfügung der Zentral-Arbeiter- und Bauernregierung haben alle Kolonisten aus den deutschen Kolonien im Wolgagebiet, die auswandern wollen, beim Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet eine dementsprechende Erklärung abzugeben. Nach Abgabe dieser Erklärung können sie in freie Beziehung zu den diplomatischen und Konsular-Vertretern Deutschlands treten und abreisen. Alle andern Kolonisten, die diese Erklärung nicht abgeben, bleiben den Gesetzen der russischen Sowjetsrepublik genau so untergeordnet wie alle anderen Angehörigen der Republik.

Diese scheinbar durchaus rechtliche Form läßt gerade die schwierige Lage derjenigen erkennen, die zu einer Rückwanderung entschlossen sind. Es ist Aufgabe der deutschen Regierung, nach Möglichkeit darüber zu wachen, daß nicht durch die Plötzlichkeit der Erklärung, wie sie von den Kolonisten verlangt wird, überhaupt der ganze Passus über die Rückwanderung der Wolgakolonisten im Zusatzverträge hinfällig wird. Die meisten werden im gegenwärtigen Augenblick, wo sich die Herrschaft der örtlichen Räte noch zum Teil auf den Terror gründet, kaum wagen, mit ihren Absichten hervorzutreten.

Die Propaganda gegen die Auswanderungsbestimmungen des Friedensvertrages läuft naturgemäß auf eine Hetze gegen Deutschland hinaus. Mit den verschiedensten Mitteln wird zu beweisen gesucht, daß sich Deutschland nur aus Eigennutz der Deutschen in Rußland im Frieden angenommen hat. Von den vielen falschen Vorwürfen, die erhoben werden, trifft eine aber ins Herz, Deutschland, sagt das kolonistische bolschewistische Blatt, hat sich nie bemüht, uns an seinem Kulturfortschritt teilnehmen zu lassen, warum will es sich jetzt auf einmal um uns kümmern?

Die Kolonisten in ihrer Masse werden sich der Berechtigung dieses Vorwurfs gar nicht einmal so bewußt werden, da sie im allgemeinen Deutschland unkritisch gegenüberstehen. Uns aber zeigt dieser Vorwurf nur zu deutlich, woran wir es unsern Auslandsdeutschen gegenüber haben fehlen lassen. Er zeigt uns aber auch den Weg, auf dem wir auch diejenigen Auslandsdeutschen, die sich entfremdet haben, wiedergewinnen können.

R. Peschke.


Das Deutschtum im Ausland, 1918, Heft 37, S. 396-397.