Geschichte der Wolgadeutschen

DEUTSCHE ERDE

ZEITSCHRIFT FÜR DEUTSCHKUNDE


Über deutsche Bauern in Rußland.

Von
Dozent Adolf Lane in Berlin.

Es hat wirklich den Anschein, als ob mit dem allmählich wieder steigenden Interesse für Rußland das heimische Deutschtum auch den deutschen Bauernansiedlungen im Zarenreich eine größere Aufmerksamkeit zuwendet. Und mit Recht. Wir dürfen nie vergessen, was alles die im weiten Russenreich versprengten deutschen Volksgenossen für die kulturelle Entwicklung dieses Landes direkt und indirekt getan haben. Die bedeutende Pionierarbeit der Deutschen in Rußland läßt sich weder durch einseitige Wertschätzung verkleinern[1] noch überhaupt wegleugnen[2].

Aus der Geschichte der deutschen Bauernkolonien in Rußland kann man ersehen, daß dort, wo sie nicht durch die unheilvolle Wirtschaftsform des russischen „Mir“ ungünstig beeinflußt wurden (wie in den Wolgakolonien), sie auch die unbedingte Führung in dem Fortschritt der landwirtschaftlichen Entwicklung der in Frage kommenden Gebiete übernommen und beibehalten haben.

Die nachfolgenden Zeilen gehen wesentlich auf die Beobachtungen zurück, die ich bei meiner hauptsächlich auf Wunsch des Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer unternommenen vorjährigen Reise (August—Oktober) durch die deutschen Ansiedlungen Rußlands machen konnte.


I. Odessaer Kreis, Bessarabien und die Krim.

Im Odessaer Kreise sah ich die ersten deutschen Kolonien. Sie sind bald nach der l803 erfolgten Aufforderung Kaiser Alexanders I. von Auswanderern aus Württemberg, Baden, Rheinbayern, Pfalz, Hessen-Darmstadt, Elsaß, Nassau, Preußisch-Polen, Sachsen, Ungarn, Mähren, Hamburg gegründet worden[3].

Die ungünstigen Zeitverhältnisse und die Schwierigkeiten, die den Ankömmlingen aus der Notwendigkeit, sich an das andersartige als das heimische Klima zu gewöhnen, entstanden, vermochten das Aufblühen der deutschen Dörfer nicht aufzuhalten und bis heute stehen sie zweifellos an der Spitze der bäuerlichen Bevölkerung dieser Gegend. Vielleicht ist diese allgemeine Tatsache unter anderem auch dem Umstand zuzuschreiben, daß das von mir gesehene Groß-Liebenthaler Gebiet (nach der Kolonie Groß-Liebenthal benannt) nur aus deutschen Dörfern besteht, die in enger Fühlung miteinander ihre Eigenart und Solidarität in der Überwindung der Hindernisse besser bewahren konnten als so manche andere deutsche Ansiedlung. Die Nähe von Odessa spielt natürlich eine hervorragende Rolle im wirtschaftlichen Leben der Kolonien, weil sich hier für sie ein bequemer Absatzmarkt und ein Handelszentrum bietet.

Die erste Kolonie, die ich nach einer zweistündigen Fahrt durch eine weite Steppe erreichte, war die katholische Ansiedlung Klein-Liebenthal (der russische offizielle Name ist Xeniewka, im russischen Volksmund heißt die Kolonie Malaja Akerscha nach dem Flüsschen gleichen Namens, welches 15 Werst nordwestlich den Anfang nimmt und das Dorf in zwei Teile zerschneidet). An beiden Ufern ziehen sich Gärten hinab zum Flüßchen, das dann unterhalb der Kolonie in einem Liman mündet. Einige Brunnen dienen zur Bewässerung der Gärten, das Trinkwasser wird aus zwei starken Quellen genommen.

Im Sommer nimmt Klein-Liebenthal Kurgäste auf, die hierher zur Erholung und zum Baden im Liman kommen. Klein-Liebenthal hat eine Wasserheilanstalt. Die Kolonisten vermieten ihre Wohnungen zu recht hohen Preisen und haben sogar auch besondere Häuschen zur Aufnahme von Kurgästen und Sommerfrischlern. Die deutsche Ordnung, die im Dorfe herrscht, wird von den Besuchern sehr gelobt und sie kehren deshalb gerne immer wieder hierher zurück. Der Verkehr mit der Stadt Odessa gestaltet sich immer lebhafter. Von Mai bis September verkehren täglich zweimal, an den Feiertagen mehreremal Wagen (Diligence, Omnibus) zwischen der Kolonie und Odessa. Der Fremdenverkehr beeinflußt das wirtschaftliche Leben des Ortes sehr bedeutend, er belebt den Handel und bildet die Quelle eines direkten Verdienstes. Der Absatz landwirtschaftlicher Produkte gestaltet sich sehr leicht und lohnend. Man kann aber nicht sagen, daß sich in moralischer und sozialer Hinsicht ebenso günstige Ergebnisse dieses an sich so willkommenen Verdienstes einstellen. Im Gegenteil. Die städtischen Gewohnheiten erweisen sich hier stärker als die Einfachheit des ländlichen Lebens und dieses leidet darunter empfindlich und stetig.

Da geschichtliches und einiges statistisches Material über Klein-Liebenthal bereits von Pater Konrad Keller in seinem obenerwähnten Büchlein veröffentlicht ist, beschränke ich mich nur darauf, was ich mir als Ergänzung seiner Mitteilungen während meines kurzen Aufenthalts am Orte merken konnte. Nach Pater Keller zählten die Einwohner, die Ackerbau, Weinbau, Viehzucht und Gemüsebau betrieben, 2347 Seelen beiderlei Geschlechts. Diese Zahl trifft jedoch nicht mehr zu. Im Dorfamt habe ich den jetzigen Stand zum 1. Januar 1910 auf 2179 Seelen feststellen können. Die vorübergebend sich aufhaltenden Fremden sind in dieser Zahl nicht enthalten. Wie groß die Bevölkerung bei der Gründung der Kolonie 1803/04 gewesen ist, habe ich nicht erfahren können. Ursprünglich wurde das Land in 82 Wirtschaften eingeteilt und ist ebenso vielen Wirten überlassen worden. Augenblicklich beträgt die Zahl der Wirte 138, außerdem gibt es eine ganze Reihe von Familien, die kein Land mehr besitzen (landlose „Kleinhäusler“, die vielfach ursprünglich Handwerter gewesen sind, dann zu Landarbeitern wurden). Die Bevölkerung hat sich also außerordentlich vermehrt trotz der Abwanderung. Das der Gemeinde gehörende Land umfaßt 4204 Deßjatinen, einzelne Wirte haben sich aber noch 2500 Deßjatinen Land zugekauft, so daß 6704 Deßjatinen brauchbares Land, also 7324,12 Hektar[4], den Kolonisten gehören. Trotz des beträchtlichen Landbesitzes (1803/04 kamen 53 Deßjatinen auf die Wirtschaft, wobei das unbrauchbare Land mitgerechnet ist) halte sich im Laufe der Zeit Landmangel eingestellt, weil die Bevölkerung sich vermehrte und die Intensität der Bodenkultur bis in die Gegenwart hinein nicht in erforderlichem Maße zunahm. Die große Rolle, die der Mißwachs in der Geschichte der Kolonie immer spielte, hat die Kolonisten noch immer nicht gelehrt, mit allen Kräften und mit Hilfe der neuesten Errungenschaften der landwirtschaftlichen Kultur den Einfluß der ungünstigen Witterung (im Winter sehr strenge Fröste und heftige Stürme, im Sommer glühende Hitze und langanhaltende Dürre, dann wieder Übermaß an Niederschlägen) zu mildern. Die sich immer vergrößernde Anzahl der Landlosen stellte an die Gemeinde schwierige Aufgaben der Fürsorge für diese. Für Landversorgung der Landlosen bekam 1872 das Gebiet 574 Deßjatinen vom sog. Schäfereiland[5]. Etwa 1882 entstanden auf diese Weise im Odessaer Kreise bei Otschakow von hier aus die evangelische Kolonie Wilhelmsthal und die katholische Kolonie Kraßna. 1895 erfolgten weitere Aufsiedlungen, für welche 450 Deßjatinen zur Verfügung standen, und zwar im Tiraspoler Kreise: Trjoch-Krat (evangelisch) und Wischina (ursprünglich katholisch, 1909 aber ganz von Protestanten „ausgekauft“). Schon früher wanderten aber auch besitzende Kolonisten aus, um sich auf persönlich erworbenem Lande niederzulassen. So gründeten 1858/59 einige Klein-Liebenthaler Kolonisten zusammen mit anderen katholischen Deutschen die Kolonie Wolkowo (Neu-Liebenthal) im Tiraspoler Kreise. Seit den siebziger Jahren ist ein ständiger und starker Zug der Auswanderer nach Nordamerika zu bemerken. Neuerdings wenden sich die Auswanderer auch nach Sibirien. Im Akmolinskgebiet haben Klein-Liebenthaler zusammen mit anderen Landsleuten 1902 die Kolonie Kellerowka gegründet, es geht ihnen aber nicht gut dort. Viele sind auch wieder zurückgekommen.

Unter den Arbeitern in Klein-Liebenthal fand ich auch Wolgakolonisten: einen Knecht und zwei Tagelöhner. Das sind die in vielen deutschen Kolonien vorhandenen Reste derjenigen Flut von Wolgaleuten, die während der Hungerjahre 1890 die südrussischen Kolonien aufsuchten, um hier Arbeit zu finden. Da sie aber meistens ein minderwertiges Material abgaben, mußten sie weiter ziehen oder verkamen in den russischen Städten bis zum Bettelstab. Ein großer Prozentsatz ist doch noch in den Kolonien in Landarbeiterstellungen geblieben. Etwa 40 Wirte in Klein-Liebenthal halten ständig „Knechte“. Der Knecht bekommt 100—140 Rubel jährlich bei freier Beköstigung und Wohnung (meist im Stalle). Während der Ernte und Dreschzeit hat fast jeder Wirt Knechte oder Tagelöhner. Die Monatsknechte bekommen dann 25—30 Rubel monatlich Lohn, die Tagelöhner 80 Kopeken bis l Rubel 50 Kopeken pro Tag, immer mit Beköstigung. Die Arbeitszeit ist eine ungewöhnlich lange, von spätestens 2 Uhr morgens bis 9—10 Uhr abends, besonders in der Dreschzeit[6]. Die Vermögensverhältnisse der Kolonie sind auch recht charakteristisch. Nach einer Umrechnung in Geldwert besitzen 4 Familien je 350-, 100-, 60- und 40000 Rubel; ein Vermögen von 10- bis 40000 Rubel haben etwa 25 Familien, von 4- bis 10000 Rubel etwa 30, von 1- bis 4000 Rubel etwa 100, die übrigen unter 1000 Rubel. Schon aus diesen Angaben sieht man, daß die Kolonie eine doch sehr wohlhabende ist. Die obenerwähnte Vergrößerung des Landbesitzes ist eine Erscheinung, die für die meisten deutschen Kolonien in Südrußland typisch ist. Die Bevölkerungszunahme und die durch das bare Geld oder durch Kredit gewährte Möglichkeit, sich Land zu erwerben, ferner die Gewöhnung an eine extensive Kultur auf möglichst großer Fläche — das waren bis zuletzt die Ursachen des Landhungers der deutschen Kolonisten in Südrußland. Neuerdings kommt noch ein weiterer Grund hinzu. Die Stimmung ist den Deutschen gegenüber in Rußland nicht günstig. Ein Beweis dafür ist das in der deutschen Presse bereits bekannte „Kolonistengesetz“, das für die drei Gouvernements Kiew, Wolhynien und Podolien gelten soll und dessen Entwurf augenblicklich von der Regierung in die Reichsduma eingebracht worden ist. Nach diesem Entwurf (in der Praxis wird er freilich anscheinend in vollem Umfang bereits durchgeführt) soll allen Personen, die „nicht orthodox“ und nicht russischer Nationalität sind, künftig das Recht genommen werden, Land zu kaufen, zu pachten oder zu erwerben, soweit das letztere nicht in absteigender männlicher Linie oder zwischen den Ehegatten geschieht. Daß man auch im Süden denselben Vorstoß gegen die Deutschen erwarten muß, davon zeugt der ganz vor kurzem an die Chersonsche Gouvernementslandschaft gelangte Antrag des Generalleutnants a. D. Kardinalowski, den Deutschen den Landerwerb zu verbieten. Der Generalleutnant, der in der Landschaft ein Vertreter der Stadt Odessa ist, sagt: „Obgleich ich keiner patriotischen Organisation angehöre, halte ich mich doch als überzeugter Nationalist verpflichtet, zu sagen, daß dem Chersoner Gouvernement in naher Zukunft in (10—15 Jahren) eine völlige Verdrängung des russischen Volkstums droht, wie dies schon in einigen Kreisen des Jekaterinoslawschen Gouvernements geschehen ist.“ Es genügt der Hinweis, daß alle Sorgen, die man über den Landankauf durch die Deutschen empfindet, unbegründet sind, weil erstens die deutschen Kolonisten ein staatserhaltendes, dem Zaren und dem Reiche treu ergebenes Bevölkerungselement sind, zweitens weil sie befähigt sind, die landwirtschaftliche Kultur besser zu fördern als die einheimische Bevölkerung. Außerdem, das Landangebot kommt hauptsächlich aus den Kreisen, zu denen der Antragsteller selbst gehört, d. h. zum grundbesitzenden Adel. Von einer Verdrängung des russischen Bauernbesitzes könnte also nur in einem beschränkten Umfang die Rede sein. Vorläufig ist der Antrag von der Landschaftsversammlung abgelehnt worden, aber ein bedeutsames Zeichen bleibt er doch. Daß aber die Deutschen überhaupt stellenweise allerdings fieberhaft Land kaufen und dadurch die Bodenpreise ungewöhnlich steigern, ist so verständlich: es ist die Folge der gegen sie gerichteten Politik — sie wollen sich für die Zukunft einigermaßen sichern und Land erwerben, ehe es zu spät wird.

Hinter Klein-Liebenthal liegt gleich Groß-Liebenthal. Durch die halb aufgeräumten Felder schlängelte sich unser Weg zu dem einfachen, aber malerisch gelegenen Tale der Kolonie. Der ganze Weg war mit Getreidehalmen bestreut, die von ärmeren Leuten aus der Kolonie verlesen wurden. „Dieses Jahr hat jeder genug, der Reiche und der Arme“, sagte mein Fuhrmann. Der Arme nimmt mit seinem Rechen, was am Wege bleibt, und hat für sich einen beträchtlichen Vorrat für den Winter. 130 Pud pro Deßjatine Weizen hat dieses Jahr die Ernte gebracht und alles ist zufrieden. Die Sorgen der schwachen Jahre sind dahin, man hat aus dem Vollen. Der wohlhabende Kolonist, der Arbeiter bei sich beschäftigt, hat mit den Leuten seine liebe Not. Besonders anspruchsvoll ist der deutsche Landarbeiter. Sobald er etwas Geld erarbeitet bat, verläßt er seine Arbeitsstelle, es helfen keine Abmachungen. Nachdem das Geld verjubelt ist, geht er wieder arbeiten und weiß, daß er dieses Jahr überall genommen wird, weil jeder Wirt sich bemüht, die reiche Ernte möglichst bald unter Dach und Fach zu bringen. „Leutenot“ und „Not mit den Leuten“ — mit diesen Eindrücken verließ ich die große, schöne Kolonie[7].

In der nächsten Kolonie, Alexanderhilf, habe ich mir u. a. notiert: „Eine evangelische Ansiedlung von 114 Höfen und 842 Seelen (am 1. Januar 1910). Ursprünglich waren es 62 Wirtschaften zu etwa 52 Deßjatinen Anteilland. Die meisten Wirte haben entweder eine ganze oder eine halbe Wirtschaft, sonst befinden sich auch zwei Wirtschaften in einer Hand. Mancher besitzt nur eine Viertelwirtschaft. Die Auswanderung war und ist so stark, daß nur ein Drittel hier geblieben ist, die übrigen zwei Drittel sind im Laufe der Zeit entweder ausgewandert oder weggezogen. Als Auswanderungsziele gelten hauptsächlich Amerika und in der letzten Zeit die Turgaisteppen in Sibirien.“

Die Kolonie Neuburg (gegründet 1804) hatte ursprünglich 65 Familien gehabt. Durch Geburtenüberschuß und Zuwanderung ist die Bevölkerung im Jahre 1848 auf 92 Familien und zum 1. Januar 1910 auf 146 Familien gestiegen. 1848 besaßen 60 Wirte etwa 2940 Deßjatinen Land, jetzt haben 60 Wirtschaften insgesamt etwa 3480 Deßjatinen. Dabei ist eine Zerstückelung des Bodenbesitzes vor sich gegangen. So findet man hier Halbwirtschaften (36), Viertelwirtschaften (6). Die 117 Hofplätze gehören zum Teil den „Besitzern“, zum Teil den „Kleinhäuslern“. Seit etwa 20 Jahren sind mehrere Hundert nach Nordamerika (Norddakota) ausgewandert. Mit der Übersiedlung nach Sibirien macht man schlechte Erfahrungen: 1908 dorthin gezogene Familien sind im nächsten Jahre wieder zurückgekommen.

Ganz unter dem Zeichen des Landerwerbs auf einer Seite und der Auswanderung auf der anderen steht Bessarabien. Die deutschen Bauern nehmen hier einen Teil des früheren türkischen Gebiets ein, das unter dem Namen Budschak bekannt war und die jetzigen Kreise Akkermann, Ismail und einen Teil des Kreises Bendery umfaßte. Die deutsche Bevölkerung mag hier etwa 60000 Seelen betragen[8]. Die Kolonien kann man in etwa vier Gruppen einteilen. Zunächst die älteren Mutterkolonien, dann neuere Eigentümerkolonien und schließlich Pachtkolonien auf Privat- und Kronland. Durch die letzteren habe ich auch meinen Weg genommen. Die deutschen Mutterkolonien in Bessarabien machen einen durchaus guten Eindruck, die neuen Eigentümerkolonien sogar einen sehr guten, wohlhabenden. Aber die Pachtkolonien stimmen einen traurig. Sie sind die leidenden Opfer der in der letzten Zeit aufgekommenen starken Bodenspekulation. Vor etwa 15 bis 20 Jahren war die Pacht noch 2—3 Rubel pro Deßjatine, jetzt erreicht sie hier und da schon 15 Rubel. Die Pachtsteigerung, sinkende Ertragsfähigkeit des Bodens wegen schlechter Bearbeitungsmethoden und Verarmung treiben die deutschen Pächter manchmal in ganzen Scharen aus ihren Ansiedlungen. Diese Ansiedlungen machen im allgemeinen einen ordentlichen Eindruck und ihre niedrigen, hellblau angestrichenen Lehmhütten mit Lehmfußböden sind sauber und freundlich. Es mögen einige Angaben über diese Pachtdörfer folgen. In Sangerowka leben 41 Familien seit 1898 und zahlen für die 25—50 Deßjatinen großen Wirtschaften 5 Rubel Jahrespacht pro Deßjatine. In Kadlebug (oder Katlebuck, besteht seit 1895) wurde die erste Jahrespacht (3.71 Rubel pro Deßjatine) sechs Jahre lang gezahlt, die zweite (5.22 Rubel) ist auf zwölf Jahre vereinbart worden, wird also in zwei Jahren zu Ende gehen. Die Leute erwarten Pachtsteigerung, und die Unmöglichkeit, das gepachtete Land zu erwerben, wird sie wohl zur Auswanderung zwingen. Die Ansiedlung umfaßt 36 Wirtschaften von 8, 10, 25, 75 und 100 Deßjatinen.

Die Pachtdörfer auf Kronland erneuern ihre Kontrakte von Jahr zu Jahr, so in Sarjary I, wo es 50 Wirtschaften in der Größe von 2 bis 25 Deßjatinen gibt und wo viele schon ohne Land dasitzen.

In einem Pachtdorf, das nördlicher liegt, konnte ich auch Eigenartiges, Typisches beobachten. Hier liegt das ganze Land (2080 Deßjatinen) auf drei Stellen und gehört 70 Wirtschaften an. Der Besitz der einzelnen Wirte schwankt zwischen 5 (drei Familien) und 75 Deßjatinen. Die Ansiedlung besteht seit 1864/65 und zählt gegenwärtig 800 Seelen. Die Pacht war anfangs 2 Rubel und ist im Laufe der Zeit auf 7 ½ Rubel gestiegen. Das Land wird den Leuten von einem jüdischen, in Odessa lebenden Zwischenpächter in Pacht gegeben, dieser will in zwei Jahren, wenn der letzte Vertrag zu Ende ist, die Pacht „nur“ auf 12 Rubel steigern, falls die Leute schon jetzt darauf eingehen. Tun sie es nicht, so wird die Pacht noch mehr steigen. Eine solche Steigerung bringt aber die Leute an den Rand des Ruins.

Die Verhältnisse in den Mutterkolonien sind ganz anders, obwohl auch hier die bedeutende Zersplitterung des Landbesitzes eine beträchtliche Klasse von wirtschaftlich schwachen Bauernhöfen und von Landarbeitern geschaffen hat. In Arzis haben die ursprünglichen 82 Wirtschaften mit einem Landanteil von je 60 Deßjatinen längst andere Formen angenommen und es gibt jetzt unter den 180—85 Wirten solche, die ¾, ½, 1/5, 1/6, 1/12, 1/16, 1/32 Wirtschaft ihr Eigen nennen! 15—20 Familien in dieser Kolonie sind „Kleinhäusler“ oder „Einwohner“. Die Einwohner haben gemietete Wohnungen, gewöhnlich einen halben Hof für 40—200 Rubel jährlich. Das gepachtete Land muß mit 12—15 Rubel pro Deßjatine bezahlt werden, wobei die Hälfte der Pacht im voraus entrichtet wird. Die Kolonie hat eine große Zahl von Handwerkern.

Und noch ein Beispiel für die neuen Eigentümerkolonien in Bessarabien. Friedensfeld ist 1879/80 gegründet worden. Zu den ursprünglichen 1701 Deßjatinen hat die Kolonie 1886 noch 743 zugekauft. Außerdem haben einzelne außerhalb noch privatim Land gekauft. Die Vermögenslage ist von 1500 bis 90000 Rubel pro Wirt, die Seelenzahl etwa 460 bei 75 Höfen. Das Dorf ist ganz von russischen bzw. kleinrussischen Ansiedlungen umgeben, es werden bei den landwirtschaftlichen Arbeiten Russen, aber auch Deutsche als Landarbeiter beschäftigt. Die Deutschen erhalten: Knechte pro Jahr 60—110, pro Monat (Ernte) 25—45 Rubel; Mägde pro Jahr 60—90, pro Monat (Ernte) 15—25 Rubel. Diese und die folgenden Angaben verstehen sich mit Beköstigung. Die Russen erhalten in der Dreschzeit täglich: Männer 1—1.60 oder 2 Rubel, Frauen 0.80—1 Rubel, Burschen 50—80 Kopeken, Mädchen 40—50 Kopeken. Kinder werden nirgends beschäftigt.

In der Krim liegen die Pachtverhältnisse ebenso wie in Bessarabien recht ungünstig und sie werden immer ungünstiger durch die Steigerung der Bodenpreise seitens der Spekulanten. Im Kreise Eupatoria besuchte ich zahlreiche kleine sog. Zehntleransiedlungen. Ihre wirtschaftliche Lage ist sehr schwankend. Der „zehnte Teil“, der früher dem Verpächter als Naturalgegenleistung des Pächters zustand, ist längst zum Fünftel, Drittel und neuerdings auch hier und da zur Hälfte geworden. Außerdem haben die Pächter noch Ausgaben für die Mieten (Maschinen, Hausmiete) und für das Vieh. Nur ein geringer Prozentsatz (etwa 15 Proz. vom privaten Land) ist in der Krim Bauernland, wovon die deutschen Kolonisten etwa ein Sechstel besitzen. Genaueres Zahlenmaterial in dieser Beziehung zu liefern, ist fast unmöglich, weil die offizielle Statistik versagt und andere Quellen schwer zugänglich sind. Ich möchte nur für die Wolost Suja, Kr. Simferopol, einige Daten als Beispiel angeben. Vor zehn Jahren waren die Pachtverhältnisse hier wie folgt: Gesamtzahl der Familien in der Wolost 1015, davon 585, Pächter, gepachtet sind 7938,4 Deßjatinen. Unberücksichtigt bleiben einige Zehntleransiedlungen aus Privatgütern.

Deutsche Bauernfamilien der Wolost

Pächter für Geld

Pächter gegen Anteil an der Ernte

Familien

Deßjatinen

Familien

Deßjatinen

203

58

691,1

122

2158,3

Im ganzen 180 Pächter mit 2849,4 Deßjatinen Pachtland.


Die Pachtbedingungen werden von Jahr zu Jahr schwieriger. Der Pächter must augenblicklich außer dem „zehnten“ Teile noch eine Reihe von anderen Abgaben zahlen. In dem Pachtdorf Teschi müssen die Pächter 1. vier Zehntel der Ernte dein Verpächter abgeben, 2. von der Deßjatine 1 Rubel, 3. von jedem Stück Vieh (mit Ausnahme des einjährigen) 5 Rubel, 4. für das Häuschen 20—30 Rubel (alles jährlich) zahlen, 5. die dem Verpächter zukommende Frucht zur Verkaufsstelle (etwa 40 Werst entfernt) fahren. Wie oben erwähnt, wirkt auf die Pachtsteigerungen die Bodenspekulation ein. Während früher die wenig vermögenden oder unvermögenden Deutschen eine leichtere Möglichkeit des wirtschaftlichen Fortkommens in der Krim fanden, müssen sie gegenwärtig außer anderem noch mit der Konkurrenz rechnen, die ihnen russische Bauern zu machen anfangen. Es handelt sich um die von der Regierung begünstigte und geleitete Ansiedlung russischer Bauernfamilien aus den inneren Gouvernements des europäischen Rußlands. Durch diese innere Kolonisation kann in Zukunft die Geschlossenheit der deutschen Ansiedlungen gebrochen werden. Um so mehr muß man alle die Bestrebungen begrüßen, die einen engeren kulturellen Zusammenschluß der Deutschen in der Krim zum Ziele haben. Im Raume getrennt, im Geiste vereint — so wird hoffentlich die nächste Zeit die deutschen Teile der Krim vorfinden, und die nationalistische, gegen die Deutschen gerichtete Reaktion kann diese Entwicklung der Dinge nur fördern.

Zum Schluß möchte ich nach über die drei bereisten Gebiete sagen, daß überall die Bevölkerungsvermehrung eine starke Auswanderung und das Streben nach mehr Land verursacht. Beide Erscheinungen sind in der Gegenwart wohl die brennendsten Fragen in den Kolonien. Diese Auswanderung ist nicht in allen Fällen geeignet, der Übervölkerung zu steuern, vielfach wird durch sie gerade das bewirkt, was als eine der größten Schattenseiten des Kolonistenlebens angesehen werden muß — eine völlige Verarmung der ins Ungewisse hinausgegangenen Auswanderer, die nach den ersten Mißerfolgen an der neuen Stätte (in der letzten Zeit ganz besonders in Brasilien und Sibirien) nach ihrer Heimat wieder zurückkehren und das Heer der Proletarier und das Elend vermehren. An vielen Orten habe ich solche Rückwanderer antreffen können. Wie sehr wäre es erwünscht, daß diese Leute ihre Blicke auf die alte Heimat, auf Deutschland, richteten. Viele Hunderte von deutschrussischen Ansiedler- und Landarbeiterfamilien haben hier, besonders in den letzten Jahren und durch Vermittlung des Fürsorgevereins für deutsche Rückwanderer in Berlin, ihr Brot und Heim gefunden und blicken einer gesicherten Zukunft entgegen. Für viele Tausende wäre nach Platz da.

Vom Standpunkt der russischen Staatsinteressen dürfte eine solche Lösung der Frage nur willkommen sein, weil man die Auswanderernot lindern und die zurückbleibenden Gemeinden entlasten würde.


[1] Das auch sonst verbreitete Urteil A. Brückners in seinem Bunche „Die Europäisierung Rußlands“ (Gotha 1888, S. 388 ff.) gehört hierher und muß nach genauerer Prüfung der geschichtlichen Tatsachen und aus der Kenntnis der einschlägigen örtlichen Verhältnisse heraus entschieden abgelehnt werden.

[2] Wie das von russischer Seite bis in die letzte Zeit hinein geschieht. Vgl. dazu Welizin, Die deutschen in Rußland, St. Petersburg 1893 (russisch). Das Buch ist in der deutschrussischen Presse (namentlich in der St. Petersburger Zeitung) und auch sonst viel besprochen worden; seine falschen und gehässigen Behauptungen fanden bezeichnenderweise williges Gehör in weiten Kreisen der russischen Politiker.

[3] Darüber siehe besonders Klaus, Unsere Kolonien, St. Petersburg 1869 (deutsche Übersetzung im Verlag der deutschen Odessaer Zeitung, 1887); F. Bienemann, Geschichte der evangelisch-lutherischen Gemeinde zu Odessa, Odessa 1890; K. Keller, Die deutschen Kolonien in Südrußland, Odessa 1905 (behandelt die katholischen Kolonien); J. Stach, Die deutschen Kolonien in Südrußland, Prischib (Taurien) 1905 (behandelt die protestantischen Ansiedlungen).

[4] Wenn man 1 Deßjatine = 109,25 Ar annimmt.

[5] Bei der Begründung der südrussischen Kolonien überließ die Regierung den Ansiedlern besondere Ländereien zur Beitreibung der Schafzucht, deren erhoffte Entwicklung aber ausblieb.

[6] In Nr. 100 der Odessaer Zeitung 1911 schreibt ein Kolonist: „Mit dem Anbruch der Frühlingsfeldarbeit beginnt für die meisten Landarbeiter eine Zeit, wo sie von 3 oder 4 Uhr morgens bis 10 oder 11 Uhr abends ununterbrochen arbeiten müssen. So geht es dann fort bis Oktober. Aber auch den Winter über findet sieh für den Landarbeiter immer noch Arbeit für 14—15 Stunden täglich.“

[7] Ausführliches über dir Kolonie in Stachs Buch (s. o.).

[8] Nach W. Kludt (Die deutschen Kolonien in Bessarabien, 1900) betrug die Bevölkerung im Jahre 1859 25050 Seelen.


Deutsche Erde, 1911, S. 50-53, 91-93.