Geschichte der Wolgadeutschen
ВОЛГА
Литературный журнал (г. Саратов)
1990 № 2

Русский

SCHULE FÜR DIE DEUTSCHEN

Nach dem Ukas von Katharina II. durften die deutschen Ansiedler ihre nationalen Schulen eröffnen. Die wichtigste Schule war die Gemeindeschule. Sie existierte auf Mitteln der Einwohner. In Katharinenstadt (Baronsk, heute Marx) war die Schule in einem großen Gebäude untergebracht. Rund hundert Kinder waren in einem Saal eingezwängt. Als Lehrer arbeitete der Schulmeister, das heißt ein Kirchendiener. Die Schüler wurden nicht in Klassen eingeteilt. In der ersten Reihe, vor dem Schulmeister, saßen Kinder, die noch gar nichts konnten; diese Bankreihe wurde von den Kindern die „Eselsbank“ genannt. Hinter ihnen saßen diejenigen, die die Buchstaben schon kannten und aus ihnen Wörter zusammenstellen konnten. Weiter hinten saßen die, die schon die Bibel lesen konnten. Ganz hinten - solche, die dem Schulmeister schon helfen konnten. Doch der Schulmeister konnte einen beliebigen nach vorne setzen, auf die Eselsbank, wenn der die Hausaufgaben nicht gelernt hatte.

Die Gemeindeschule war ihrem Charakter nach eine Kirchenschule. Sie wurde vom Pastor persönlich geleitet, die Lehrer waren Kirchendiener. Der Lehrprozess war äußerst primitiv. Die Kinder begannen gewöhnlich erst im zweiten oder dritten Schuljahr mehr oder weniger zu lesen. Als Lehrbücher dienten die Bibel, biblische Geschichten und eine Sammlung von Kirchenliedern. Es wurden körperliche Strafen angewandt. Die Eltern unterstützten solch eine Lehrmethode und dankten dem Schulmeister für die Erziehung ihrer Kinder in „Strenge“. Für das geringste Vergehen wurden die Kinder in die Ecke geschickt oder sie mussten mit den nackten Knien eine Zeitlang auf Erbsen stehen. Gehorsamkeit und Bestreben zum Lernen wurden mit einem Stock oder Lineal eingebleut. Auf dem Tisch des Schulmeisters lag ein meterlanges Lineal aus Eichenholz. Wenn kaum etwas war, erschallte der Befehl: „Die Hand!“ Dann bekam der „Schuldige“ eine bestimmte Anzahl Hiebe mit dem Lineal auf die Handfläche. So sorgte der Schulmeister für Disziplin. Über die Kenntnisse der Schüler ist schwer etwas zu sagen. Außer Religion gab es noch drei Fächer: Lesen, Schreiben und Landrechnungen.

Bis jetzt höre ich noch, wie mein Großvater las. Das war ein archikomplizierter Prozess. Zuerst nannte der Großvater laut alle Buchstaben, danach verband er sie in Silben, und erst dann las er mit einem Ruck das Wort. Doch er galt als gebildeter Mann: „er konnte lesen und schreiben“. Mit dem Schreiben stand es schlechter. Aber die Hauptsache war – dass der Mensch seinen Namen schreiben konnte. Noch als Schüler las ich für den Großvater und für die Nachbarn die Briefe, die sie erhielten. Das Geschriebene zu entziffern war schrecklich schwer: es wurde mit gotischen Buchstaben im eigenen Dialekt geschrieben.

Wenn die Kinder 13 Jahre alt waren bereitete sie der Pastor zur Konfirmation in der Kirche vor. Die Konfirmation war eine Art Staatsexamen. Mit ihr endete die Ausbildung der Bauern- und Handwerkerkinder.

In größeren Dörfern (Kolonien) gab es noch Vierklassenschulen für Kinder wohlhabender Dorfbürger, die so genannten „semstwoer“ Schulen, die von dem Semstwo (ein Verband wohlhabender Dorfbewohner) finanziert wurden. Sie hatten einen mehr weltlichen Charakter. Doch auch hier war das Fach Religion obligatorisch.

Noch gab es Privatschulen, die so genannten Nebenschulen. Irgendein gebildeter Mensch lehrte die Kinder zu Hause bei sich, so wie er es für notwendig hielt. Ich lernte zum Beispiel bei dem alten Stoll, danach bei dem gelähmten Dotz. Zu ihnen kamen vom frühen Morgen bis zum späten Abend Bauernkinder. Im Frühjahr bezahlten die Eltern diese Lehrer mit Naturalien: Holz, Stroh, Mehl... So verlief auch die professionelle Ausbildung in verschiedenen Gewerben. Die Jugendlichen lernten (richtiger: arbeiteten) bei einem Meister drei Jahre, danach konnten sie schon selbständig arbeiten.

Vor der Revolution gab es in Marxstadt ein Knabengymnasium und ein Mädchengymnasium. Doch hier wurde der Unterricht nicht in deutscher Sprache geführt.

Das Studium am Gymnasium kostete nicht wenig Geld: der Schulanzug, Wohnung, die Kost, Lehrmittel – für alles musste gezahlt werden. Außerdem war zur Aufnahme ins Gymnasium gewöhnlich noch eine Vorbereitung mit Hilfe von Repetitoren und Gouvernanten notwendig.

Das geistliche Seminar war in Saratow. Dort wurden Kultusdiener ausgebildet. Fähige Bauernjungen gingen dort hin, bekamen eine gute humanitäre Bildung, erlernten die lateinische und die griechische Sprache.

Im Jahre 1918 wurde die Kirche von der Schule getrennt, Religion wurde nicht mehr unterrichtet (doch in den Kirchen wurden die Kinder auch weiterhin in Theologie unterrichtet). Der Lehrplan wurde verändert, es wurden neue Fächer eingeführt: Malen, Gesang, Sport, Werkunterricht, Geographie, Biologie und Gesellschaftskunde. Alle hatten das Recht auf Bildung, doch bei weitem nicht alle hatten die Möglichkeit, dieses Recht auszunutzen, insbesondere die Bauernkinder, die in der Steppe wohnten. Zudem waren auch die Bauerneltern nicht überzeugt, dass ihre Kinder, hauptsächlich die Mädchen, so notwendig Bildung benötigten für die Arbeit in der Bauernwirtschaft. Deshalb wurde in den ersten Jahren nach der Revolution die Bildung weitläufig nach alter Art fortgesetzt.

Marxstadt wurde zum Muster für alle deutschen Kolonien an der Wolga. Das Knabengymnasium wurde in eine „musterhafte Neunjahresschule“ umbenannt, die Einwohner nannten sie kurz „Musterschule“. 1924 wurde eine zweite neunjährige Mittelschule eröffnet. Sie wurde vom örtlichen Haushalt finanziert. Unsere Eltern belegten sich freiwillig mit Steuern (Selbstbesteuerung) zugunsten der neuen Schule. Die zweite Neunjahresschule in Marxstadt am Ufer der Wolga war der erste Stein im Fundament der neuen sowjetischen deutschen Schule, sie wurde der Anfang der Volksbildung der Sowjetdeutschen an der Wolga in der Muttersprache. Vor dieser Schule stand die Aufgabe, nicht nur Kenntnisse zu vermitteln, sondern auch Lehrer für die deutschen Dorfschulen auszubilden. Die Schule war eine Mittelschule mit pädagogischer Ausrichtung. In den 8. und 9. Klassen wurde den Schülern ein kurzer Kurs in Psychologie und Pädagogik vorgetragen, sie absolvierten ein kurzes pädagogisches Praktikum bei erfahrenen Lehrern. So wurde das aller aktuellste Problem gelöst – die Ausbildung neuer Lehrer für die sowjetische Schule. Die meisten Studenten wurden nach der Absolvierung der Schule Dorfschullehrer. Die zweite wichtige Aufgabe der zweiten Neunjahresschule war die Vorbereitung der Studenten für die künftigen deutschen Hochschulen.

Die Schulkinder-Komsomolzen trugen damals die Junger-Stürmer-Kleidung, damit ein jeder in ihnen ein Beispiel für alle jungen Leute sehen konnte. In den Schulen funktionierten verschiedene Zirkel, wo der Schüler zusätzliches Wissen schöpfen konnte. Was noch wertvoller war – wir lernten hier Selbständigkeit. Eine besondere Mission erfüllte die Laienkunst der Schüler. Unser dramatische Zirkel, unser Orchester, unsere „lebenden Zeitungen“, unsere Sportzirkel – das war nicht nur ein interessanter Zeitvertreib. All das war in erster Linie eine politische Agitations- und Massenarbeit. Die Schule propagierte alle progressiven Seiten des neuen Lebens. So machte sich das Volk mit unserem Kulturerbe bekannt. Viele Eltern hörten in unseren Aufführungen zum ersten Mal von den Werken der großen deutschen Schriftsteller Goethe, Schiller, Heine. Mit der Aufführung der Stücke unseres Zeitgenossen Franz Bach machten wir die Erwachsenen mit der Geschichte der Deutschen in Russland bekannt. Durch die Verbreitung von Zeitungen und besonders der Zeitschrift „Wirtschaft“ erzielten wir eine Vergrößerung der Zahl der Besucher von Bibliotheken und Lesesälen.

Wir sind bis heute unserem Direktor für die Reisen durch unser Land dankbar. Die Sowjetdeutschen an der Wolga verließen infolge der Sprachbarriere (die meisten beherrschten die russische Sprache nicht oder nur schlecht) ihr Leben lang ihr Heimatdorf nicht. Deswegen waren für uns Bauernkinder diese Exkursionen so wichtig und nützlich. Wir gingen bis zu 150 km zu Fuß – bis zum letzten deutschen Dorf Schaffhausen. In den Dörfern traten wir vor den Einwohnern mit Konzerten und mit Vorträgen auf. Danach folgten Reisen auf der Wolga bis Saratow und Gorki, eine Fahrt für 10 Tage nach Moskau. Sie wurde von unserem Direktor E. N. Belendir organisiert. Ein ganzes Jahr lang erarbeiteten wir uns auf allerlei Art und Weise das Geld für diese Reise, trockneten Zwieback (zu kaufen gab es damals nichts). Und wir entdeckten für uns die Welt. Wir sahen unser Land. Unterhielten uns mit den Arbeitern in den Werkabteilungen in Sormowo. Die erste Oper, die wir uns ansahen und anhörten, war „Boris Godunow“ im Großen Theater in Moskau. So erweiterten wir unseren Gesichtskreis.

Den zweiten Baustein im Fundament der Volksbildung der Sowjetdeutschen war die Eröffnung des Marxstädter Pädagogischen Technikums. Um den Schulmeister durch einen echten Pädagogen zu ersetzen, mussten schnellstens Kader aus den Reihen der Arbeiter und Bauern ausgebildet werden. Das schaffte erfolgreich das Marxstädter Pädtechnikum, von hier gingen Hunderte Lehrer in die deutschen Dörfer. Das Technikum wurde von dem ältesten Bruder unseres Direktors Nikolai Nikolajewitsch Belendir geleitet (aus der Familie der Belendirs waren 8 Geschwister in den Schulen der Deutschen Republik tätig!) Der Kommunist Nikolai Belendir scharte um sich ein glänzendes pädagogisches Kollektiv: Trippel, Bartels, Fischer, Felde, Dreher und andere – und baute eine Hochschule neuen Typs auf.

Es begann die Vorbereitung zur Eröffnung deutscher Institute. Einen Teil der künftigen Studenten lieferten die Neunjahresschulen, die schon in Marxstadt und in vielen großen Dörfern funktionierten: in Seelmann, Balzer, Hussenbach, Grimm. Es wurde eine Rabfak (Arbeiterfakultät) gegründet. Zum Jahre 1929 waren alle Bedingungen für die Gründung einer deutschen Hochschule geschaffen, und die Regierung beschloss, in Engels ein deutsches Agro-Päd-Institut zu eröffnen. Es ging natürlich nicht ohne Schwierigkeiten: es musste ein Gebäude für das Institut gesucht werden, für ein Studentenheim, Wohnungen für die Lehrkräfte, was alles sehr kompliziert war, denn in jener Zeit wurde überhaupt nichts gebaut. Endlich wurde in der Nowousenskaja-Straße ein passendes Gebäude gefunden. Eine Bibliothek für deutsche Fachliteratur wurde in Deutschland für Valuta gekauft.

Das nächste Problem war, woher Lehrer nehmen, Dozenten, Professoren für die Organisierung des Lehrprozesses in deutscher Sprache? Es kamen aus rein patriotischem Antrieb Professor Dinges, die Dozenten Haimann, Bischof. Der bekannte Professor Franz Petrowitsch Schiller (geboren in Mariental) aus dem Marx-Engels-Lenin-Institut in Moskau kam jeden Monat für drei Tage und hielt einen Kurs Vorlesungen in deutscher Literatur. Über die Wolga aus der Saratower Universität kamen die Professoren Krogius, Gertschikow, Mann, Dulson und andere. So formierte sich das Professoren- und Lehrerkollektiv.

Anfänglich wurden erst nur eine linguistische und eine sozialökonomische Abteilungen eröffnet. Im Lehrprozess waltete völlige Demokratie, es herrschte die „Brigadenmethode“ unter den Studenten, das heißt: ein Student legte in irgendeinem Fach die Prüfung für die ganze Gruppe ab, ein anderer – in einem anderen Fach. Wer was ablegte – das entschied die Gruppe. Es gab keine Kuratoren, alles entschied der Komsomol. Sogar die Charakteristiken und die Einweisung der Absolventen in die Schulen wurden von der Komsomolorganisation herausgegeben. Oftmals wurden die Studenten vom Studium weggerissen und in die Dörfer geschickt zur Organisierung von Kolchosen und zur Getreidefertigstellung. Und trotzdem lernten die Studenten fleißig, sie wollten schneller Pädagogen werden und in die deutschen Schulen gehen, wo sie so sehr erwartet wurden. Noch als Studenten nahmen wir an Lehrerkonferenzen der Kantone (Rayons) teil und wurden schon als echte Lehrer angesehen. Noch als Studenten arbeiteten wir an der Zusammenstellung von Lehrbüchern und Lehrmitteln für die deutschen Schulen, die vom deutschen Verlag in Engels herausgegeben wurden. Hier führe ich einige Namen von Autoren der Lehrbücher an: S. Heinz, E. Hummel, V. Wormsbecher, F. Emich, A. Sänger, G. Assmus. Diese Lehrbücher und Lehrmittel wurden in allen deutschen Schulen im ganzen Land benutzt.

Ungeachtet dessen, dass die Lehrzeit bis auf 3 1/2 Jahre reduziert wurde, wurden die Studenten nach dem Absolvieren des Instituts hoch qualifizierte Pädagogen. Unsere Professoren und Pädagogen hatten ihre Aufgabe erfüllt und gaben der ASSRdWD schon im ersten Jahrgang 1932 80 Lehrer mit Hochschulbildung. Eine besondere Rolle in der Entwicklung der Hochschulbildung spielte der erste Rektor des Instituts Frau Anna Georgijewna Paul, die von N.K. Krupskaja aus der Kommunistischen Universität Moskau hier hergeschickt wurde.

Viele der ersten Absolventen erhielten sofort leitende Posten: E. Meier wurde Leiter der Stadtabteilung Volksbildung von Engels; J. Focht, S. Heinz, E. Dube, O. Weinzettel wurden als Inspektoren des Volkskommissariats für Bildungswesen der Republik eingestellt; O. Lieder wurde Mitarbeiter der Redaktion der Zeitung „Rote Jugend“; I. Bersch und K. Rais wurden Assistenten am Lehrstuhl, A. Raisch – Direktor des Marxstädter Pädtechnikums, K. Welsch – Direktor des Seelmänner Pädtechnikums. Als Lehrer des Marxstädter Pädtechnikums wurden F. Biber, V. Wormsbecher, I. Gauert eingestellt. Die Absolventen Jürg, Bach, Simon, Wasenmüller, Assmus, Kober unterrichteten in verschiedenen Fachschulen. F. Ulrich, E. Hummel, F. Emich wurden Lehrstuhlleiter in der berühmten deutschen Schule in Engels, deren pädagogisches Kollektiv fast ausschließlich aus Absolventen des Pädinstituts bestand. Die übrigen Absolventen des Jahrgangs 1932 arbeiteten in Dorfschulen und erfüllten gewissenhaft ihre Pflichten.

In den 30er Jahren wurden Techniken verschiedener Industriezweige gegründet: ein Mechanisches Technikum in Marxstadt, Landwirtschaftliche in Krasnyj Kut, Hussenbach, Krasnojar, Balzer. In Engels funktionierten schon drei Institute: das Pädinstitut, das Landwirtschaftliche Institut und die Kommunistische Hochschule. An allen Hochschulen wurde der Unterricht in deutscher Sprache geführt. Eine hervorragende Rolle in der Entwicklung des Bildungswesens spielte der Verlag „Nemisdat“, der sämtliche deutsche Schulen des Landes mit Lehrbüchern versorgte. Die Autonome Republik der Wolgadeutschen (ASSRdWD) wurde zum Zentrum der Entwicklung des Bildungswesens und der Kultur aller Sowjetdeutschen, die im Kaukasus, in der Ukraine und in Sibirien lebten.

Die ASSRdWD wurde auf den Partei- und Sowjetforums als „musterhafte autonome Republik“, als „Kornkammer an der Wolga“ gepriesen. Eine der Voraussetzungen solch schnellen Wachstums der Ökonomik, Kultur und der sozialen Sphäre war die Gründung eines harmonischen perspektiven Bildungssystems – vom Kindergarten bis zum Institut und Aspirantur. Dies ist auch heutzutage ein sicherer Weg zur Konsolidierung der zwei Millionen Sowjetdeutschen, wo sie auch in der Sowjetunion nicht leben.

F. Emich

Die Seite wurde von Alexander Spack (Srednjaja Achtuba) vorbereitet,
übersetzt von Johannes Herber (Deutschland).